Julia Herr, die schweigende Hoffnung der SPÖ
Julia Herr war 21 Jahre alt, als ihr die SPÖ erstmals das Wort entzog. Im März 2014 kritisierte sie auf einer Tagung der Partei in der Wiener Hofburg den EU-Wahlkampf der Sozialdemokraten. Spitzenkandidat Eugen Freund, der als Quereinsteiger vom ORF kam, solle endlich der Partei beitreten, forderte Herr energisch – bis Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek neben ihr auf der Bühne auftauchte und sagte: „Ich würde gerne haben, dass du diese Wortmeldung beendest.“ Herr verstummte verdutzt. Die Szene machte die Runde, Medien berichteten über den schroffen Umgangston der SPÖ mit der eigenen Jugend. Und erstmals über Julia Herr.
Mittlerweile ist Herr 30 Jahre alt, SPÖ-Abgeordnete zum Nationalrat und wird von keiner Parteibühne mehr geschmissen. Pamela Rendi-Wagner, Hans Peter Doskozil und Andreas Babler, die drei Kontrahenten um den SPÖ-Vorsitz, mögen bei der 30-Stunden-Woche, dem Mindestlohn und in Asylfragen unterschiedlicher Meinung sein, auf Julia Herr können sie sich einigen. „Die Zukunft einer Sozialdemokratie ist ohne Julia nicht möglich“, sagt der Traiskirchner Bürgermeister Babler, der im roten Führungsstreit auf ihre Unterstützung zählen darf. Für Burgenlands Landeshauptmann Doskozil ist Herr „eines der größten politischen Talente der Sozialdemokratie“. Und Parteichefin Rendi-Wagner bezeichnet sich stolz als Förderin der SPÖ-Nachwuchshoffnung. Wer ist die rote Superfrau für alle Fälle?
Diese Frage will Herr selbst derzeit nicht beantworten. Der Ausgang der SPÖ-Mitgliederbefragung ist offen, daher lehnte sie ein Gespräch mit profil ab: „Um nach turbulenten Wochen Brücken zu bauen, braucht es aus meiner Sicht eine ehrliche und vertrauensvolle Diskussion innerhalb der SPÖ“, erklärt sie in einem knappen schriftlichen Statement. Aus der Rebellin ist eine disziplinierte Jungpolitikerin geworden, die in der zerstrittenen Partei kaum Feinde hat. „Völlig egal, wer die Wahl gewinnt: Julia wird sicher noch sehr, sehr viele verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen“, sagt SPÖ-Abgeordneter Kai Jan Krainer.
Die Zukunft einer Sozialdemokratie ist ohne Julia nicht möglich.
Aus der Kaderschmiede
Schon jetzt hat sie eine steile Karriere hinter sich. Im Mai 2014, zwei Monate nach Heinisch-Hoseks Maßregelung, wurde Herr als erste Frau Chefin der Sozialistischen Jugend (SJ). Sie setzte sich in der bisher einzigen Kampfabstimmung der Organisation knapp durch. „Diese Auseinandersetzung hat uns nicht geschadet, wir sind sogar gestärkt daraus hervorgegangen“, sagt Mirza Buljubasic, damals hochrangiger SJ-Funktionär.
Die Jugendorganisation – zu deren DNA seit jeher Ein- und Weiterführungsseminare in das Werk von Karl Marx, stundenlange Gremiensitzungen und Auseinandersetzungen zwischen Landesorganisationen gehören – war früher die wichtigste Kaderschmiede der Partei: In den 1980er-Jahren saßen ihr der spätere Kanzler Alfred Gusenbauer und der spätere Langzeit-Klubchef Josef Cap vor, auch Kanzler Werner Faymann war Chef der Wiener SJ. In den letzten Jahren schwand der Einfluss der Jungsozialisten. Vom aktuellen Spitzenpersonal der SPÖ haben nur Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser, die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures und Oberösterreichs Landesparteichef Michael Lindner das politische Handwerk bei der SJ gelernt.
Eine Partei, die ständig nur nach Geschlossenheit schreit, wird bald selbst geschlossen sein.
Herr legte die SJ-Spitze von Beginn an offensiv an, das Scheinwerferlicht scheute sie nie. Immer wieder kritisierte sie den damaligen Kanzler Faymann etwa für fehlende Vermögenssteuern, forderte das Ende der von ihm geführten großen Koalition und dann auch seinen Rücktritt. Spaltungsvorwürfe wischte sie vom Tisch: „Eine Partei, die ständig nur nach Geschlossenheit schreit, wird bald selbst geschlossen sein.“ Mit markigen Sprüchen, progressiver Rhetorik und burgenländischem Dialekt saß sie bald regelmäßig als Vertreterin des linken Parteiflügels in den diversen Diskussionssendungen des Landes.
Doch die Jugendorganisation reichte bald nicht mehr: 2017 startete sie ihren ersten Vorzugsstimmenwahlkampf mit einer Freiluftpressekonferenz vor dem Reiterdenkmal am Heldenplatz. Für 2700 Vorzugsstimme reichte die Kampagne, aufgrund des schlechten Listenplatzes aber nicht für ein Mandat im Nationalrat.
Bei den EU-Wahlen 2019 versuchte sie es erneut, der große Auftritt folgte am Ballhausplatz. Einen Tag nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos und eine Woche vor der Wahl organisierte die SJ gemeinsam mit anderen linken Organisationen eine Kundgebung vor dem Kanzleramt, um den Rücktritt der türkis-blauen Regierung zu fordern. Tausende folgten dem Aufruf. Während sich Parteichefin Rendi-Wagner 24 Stunden lang nicht persönlich äußerte, kletterte Herr auf das Dach eines Kastenwagens und heizte der Menge vor dem Kanzleramt ein. Am Ende errang sie die zweitmeisten Vorzugsstimmen ihrer Partei, den Einzug in das EU-Parlament verfehlte sie aber.
Aushängeschild im Parlament
Immerhin – die Regierung trat nach dem Ibiza-Video zurück. Nach den Neuwahlen im Herbst 2019 zog sie in den Nationalrat ein. Aufgrund der Verluste bei der Wahl müsse sich die SPÖ aber „als Gesamtpartei neu aufstellen: inhaltlich, organisatorisch und personell“, forderte Herr damals. Als stattdessen Faymanns Vertrauter Christian Deutsch zum Bundesgeschäftsführer gewählt wurde, blieb die SJ der Sitzung aus Protest fern.
Den Vorsitz der SJ legte sie 2020 nieder, hohe politische Ämter gelten in der Organisation als damit unvereinbar. Im roten Klub zählt Herr zu den prominentesten Rednerinnen und Rednern, flammende Appelle an und gegen die Regierung werden auf den sozialen Medien mitunter hundertfach geteilt. Als zuverlässige Wahlkampfhelferin ist sie im ganzen Land im Einsatz, plakative und persönliche Anekdoten zählen zu ihrem Standardrepertoire. Weiteres Fixelement: Entrüstung über reicher werdende Reiche und ärmer werdende Arme.
Hinter der Marke Herr steckt eine Menge Arbeit. Es gibt keine Sitzung, in die sie nicht penibel vorbereitet geht, erzählt SJ-Wegbegleiter Buljubasic. Auf einen Platz im Ibiza-U-Ausschuss verzichtete sie zunächst, um sich auf ihre neue Rolle im Parlament zu konzentrieren, im nächsten U-Ausschuss war sie dabei. Nach ausführlichem Aktenstudium habe Herr als einzig Neue im roten Team für den ÖVP-U-Ausschuss aber alles hinterfragt, erzählt der damalige Fraktionschef Krainer: „Ich habe sicher mit niemandem sonst in der Fraktion so viel darüber diskutiert, was der richtige Weg ist.”
Dass auch Herr bei der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende März fehlte, scheint ihr nicht nachzuhängen. 22 der 40 SPÖ-Abgeordneten waren abwesend. Sie sei aus terminlichen Gründen verhindert gewesen, erklärte die junge Abgeordnete rascher als andere Mandatare und verurteilte den „völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands“.
Partei hat Vorrang
Als rote Klimasprecherin kritisiert Herr das Fehlen des versprochenen Klimaschutzgesetzes auch auf einer eigenen Website. Im Sekundentakt rinnt dort die Zeit seit den letzten gesetzlichen Klimazielen davon. Nun blockiert die SPÖ-Abgeordnete selbst: Nach dem gescheiterten Teuerungsgipfel der Regierung stehen die Sozialdemokraten für keine Zweidrittelmehrheiten bereit, bis ÖVP und Grüne für sinkende Preise sorgen. Das von den Regierungsparteien fertig verhandelte Energieeffizienzgesetz bleibt so liegen. Beim Erneuerbaren-Wärme-Gesetz und dem für Juni versprochenen Klimaschutzgesetz haben ÖVP und Grüne nun eine günstige Ausrede für die eigene Uneinigkeit. Umso schmerzhafter für Verhandlerin Herr: Die Entscheidung für die rote Frontalopposition ist kurzfristig gefallen. Manche SPÖ-Mandatarinnen und Mandatare wurden erst in der Stunde vor der Sondersitzung letzten Freitag informiert.
Andererseits erspart es Herr den Konflikt in den eigenen Reihen. Die Klimapolitik hat in der SPÖ selten oberste Priorität, große Infrastrukturprojekte wie die Lobauautobahn genießen Vorfahrt. Statt mit Kritik an der neuen Stadtstraße Gräben aufzureißen, verweist Herr lieber auf ökologische Erfolge im roten Wien – und zeigt auf Verfehlungen des Bundes. Ohnehin ahndet Herr die Verantwortung für gesellschaftlichen Stillstand, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und klimapolitisches Scheitern meist bei der Volkspartei.
Gemeinsamer Aufstieg
Ein wenig erinnert die Flugbahn von Herrs Karriere an jene von Sigrid Maurer. Die ehemalige Chefin der Grünen Studierenden und der Studierendenvertretung ÖH machte mit gekonnter Inszenierung und linker Rhetorik auf sich aufmerksam. Seit die Grünen aber mit der ÖVP koalieren, schaut sie als Klubobfrau darauf, dass ihre Fraktionskollegen nicht aus der Reihe tanzen. Herr zeigt ihre Disziplin bereits in der Opposition.
Noch vertritt Herr in ihrer Fraktion aber Minderheitenpositionen: Als eine von eine von zwei Nationalratsabgeordneten sprach sie sich offen für Babler aus. Sollte der Niederösterreicher SPÖ-Chef werden, würde Herr für ihn eine gewichtige Rolle in der Neuaufstellung der Partei spielen. Kritik aus den beiden anderen Lagern bleibt dennoch aus. „Jung, engagiert, fleißig“ wird Herr von Rendi-Wagner genannt, auch Doskozil nimmt der gebürtigen Burgenländerin die Entscheidung nicht übel. Die rote „Zukunftshoffnung“ hat sich in ihrem Heimatbundesland ein stabiles Netzwerk aus ehemaligen Jungsozialistinnen und -sozialisten gehalten – und blieb mit dem burgenländischen Landeshauptmann in Kontakt. Sie ist fix in jedem Team – Junge sind in der SPÖ Mangelware.
Ein schlechtes Wort über Rendi-Wagner oder Doskozil will Herr vermeiden. Babler sei allerdings „nicht Teil des Konflikts innerhalb der SPÖ, der unserer Partei in den letzten Monaten und Jahren so geschadet hat“, begründet Herr ihre Unterstützung schriftlich. Unabhängig vom Ergebnis werde sie den Sieger oder die Siegerin der Mitgliederbefragung „mit voller Kraft unterstützen“, denn: „Nur geeint sind wir stark.“