Justizschelte: Das Politikverständnis von Sebastian Kurz

Die Justizschelte von Sebastian Kurz war keine Attacke auf den Rechtsstaat, sondern schlicht Humbug – der aber einiges über das Politikverständnis des Kanzlers verrät, meint Gernot Bauer.

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Ein Artikel wie dieser wäre ohne Hintergrundgespräche nicht möglich. Das Format – ein Spitzenpolitiker lädt Journalisten zum Off-off-off-the-record-Gespräch – ist zu Unrecht in Verruf geraten. Es handelt sich dabei eben nicht um die vertrauliche Vermittlung von Herrschaftswissen, das keinesfalls an das breite Publikum weitergegeben werden soll. Dies wäre tatsächlich „Untreue gegenüber dem Leser“, vor der Hubert Patterer, Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“, in einem Leitartikel warnte. Der Transfer der Informationen aus einem Hintergrundgespräch an die Leser erfolgt mit Zeitverzögerung und über Filter. Spitzenpolitiker und ihre Pressesprecher bemerken es dabei nicht einmal, dass der Inhalt eines Artikels auf einem vertraulichen Termin basiert. Hintergrundinformationen können auf diese Weise verarbeitet werden, ohne dass die Regeln der Vertraulichkeit gebrochen würden.

Warum aber sollte sich ein Spitzenpolitiker einem solchen Risiko freiwillig aussetzen? Aus mehreren Gründen: Er will tatsächlich ohne Hintergedanken informieren; Nähe zur vierten Gewalt herstellen; demonstrieren, dass er mehr als die Phrasen aus offiziellen Interviews beherrscht; zuspitzen, flapsig formulieren, seine ganz persönlichen alternativen Fakten abtesten dürfen. Früher ging dergleichen vielleicht auch im Fernsehen, heutzutage braucht ein Politiker dafür den Safe Space eines Hintergrundgesprächs.

Natürlich kann es auch sein Ziel sein, die Meinungen seiner Gesprächspartner zu beeinflussen. Der Politiker hofft dann seinerseits auf einen verzögerten Effekt. Vielleicht wirken sich seine Einlassungen ja auf den übernächsten Leitartikel aus. Diesen weichen politischen Interventionen setzten sich die Berichterstatter freiwillig aus, und es kostet nicht viel Mut, sich ihnen zu entziehen. Wer hinter den Off-Äußerungen Beeinflussungsversuche wittert, kann sie ganz einfach unterlaufen – nämlich ignorieren oder nicht verwenden. So banal kann der politische Betrieb sein. Hintergrundgespräche haben auch nichts mit der notorischen „Verhaberung“ zu tun. Journalisten seines absoluten Vertrauens lädt ein Kanzler nicht zum Hintergrundgespräch, sondern informiert sie persönlich unter vier Augen oder Ohren.

Hintergrundgespräch mit Absicht

Je mehr Teilnehmer ein Hintergrundgespräch hat, desto weniger ist es ein echtes Hintergrundgespräch und desto eher darf dem Spitzenpolitiker Beeinflussungsabsicht unterstellt werden. Bei Sebastian Kurz waren am 20. Jänner etwa 30 Journalisten anwesend – ein recht großes Forum. Der Ablauf des Abends ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Kurz beklagte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen Ex-Finanzminister Hartwig Löger in der Casinos-Affäre und brachte die Ermittlungen gegen ÖVP-Vertreter in einen Zusammenhang mit angeblich SPÖ-nahen Staatsanwälten.

Bekannt wurden die Kurz-Äußerungen durch die Wiener Stadtzeitung „Falter“, die der Einladung selbst nicht gefolgt war, danach aber von empörten Teilnehmern informiert worden sein will. Laut der Darstellung des „Falter“ sei Kurz „heftig und emotional“ gewesen. In seinen Ausführungen habe er der Staatsanwaltschaft kriminelles Verhalten vorgeworfen.

Manche Teilnehmer mögen es anders oder auch „empörend“ empfunden haben: Bei Betrachtung ohne Zorn und Eifer können die Anmerkungen des Kanzlers kaum als „Attacke auf den Rechtsstaat“ (Staatsanwälte-Vereinigung), „Justizskandal der Sonderklasse“ (SPÖ) oder „brandgefährliches Verhalten“ (NEOS) bezeichnet werden. Sie waren schlicht Humbug, wie ihn der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem Klassiker „Bullshit“ definiert. Wer Humbug rede, achte nicht darauf, „ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen.“ Nach diesem Muster verhielt sich Kurz auch in der Affäre um das Ibiza-Video. Hinter dessen Herstellung und Verbreitung vermutete Kurz öffentlich die SPÖ und ihren früheren Berater Tal Silberstein. Im November 2019 musste er diese Aussagen nach einer richterlichen Entscheidung widerrufen.

Keine brauchbaren Beweise

Für seine Behauptung, die SPÖ habe die Justiz rot unterwandert, lieferte Kurz keine brauchbaren Beweise. Gegenbeweise sind dagegen leicht zu finden. Die von Kurz kritisierten Staatsanwälte ermittelten und erhoben auch Anklage gegen hochrangige SPÖ-Vertreter. In der Salzburger Finanzaffäre wurden der frühere SPÖ-Bürgermeister Heinz Schaden und der frühere SPÖ-Finanzlandesrat Othmar Raus angeklagt und verurteilt. Und auch gegen ehemalige SPÖ-Regierungsmitglieder und Abgeordnete gab es in der jüngeren Vergangenheit Ermittlungen.

Kurz selbst muss nicht mit einer Anklage rechnen. Da er niemanden konkret verleumdete, sind seine Äußerungen zur Justiz strafrechtlich irrelevant. Aber sie verraten einiges über das Politikverständnis des Bundeskanzlers, wie man es unter anderem auch aus Hintergrundgesprächen destillieren kann.

Der ÖVP-Obmann denkt in Freund-Feind-Schemata. Darin zeigt er aber erstaunliche Flexibilität. Jahrelang galten ihm die Grünen als natürliche Gegner, seit zwei Monaten sind sie seine Partner. Allerdings existiert eine Konstante: Kurz’ Abneigung gegenüber der SPÖ. Man kann ihn als schärfsten Sozi-Fresser der Volkspartei seit Andreas Khol bezeichnen. Vielleicht versteht er sich deswegen so gut mit seinen Spezln von der bayerischen CSU, deren Urvater Franz Josef Strauß Rote gern zum Weißbierfrühstück verspeiste. Die Intensität seiner SPÖ-Skepsis erklärt sich aus Kurz’ politischer Sozialisation im rot dominierten Wien. Weiter verstärkt wurde sie durch die bleiernen Jahre der Großen Koalition, die einen ÖVP-Obmann nach dem anderen verschliss, wofür Kurz natürlich die SPÖ verantwortlich machte.

Wie einst Werner Faymann denkt Kurz auch als Bundeskanzler die Parteipolitik immer mit. Seine Kritik an der Staatsanwaltschaft formulierte er im Hintergrundgespräch in der Parteiakademie rein aus der Perspektive des ÖVP-Obmanns. In den Rechtfertigungsinterviews danach trat er ganz als um die Justiz besorgter Kanzler auf. Das breite Publikum wird es ihm abnehmen – so kritisch kann Armin Wolf gar nicht fragen.

Auftritt im Bundesrat

Leichtere Fragen als im „ZIB 2“-Interview musste Kurz vergangenen Donnerstag im Bundesrat beantworten, in den er von der SPÖ-Fraktion zitiert worden war. Ein spöttischer Ton („Ich freue mich, wieder einmal bei Ihnen sein zu können“; „Ich wünsche noch einen schönen Nachmittag“) lag in seinen Ausführungen. Das Parlament – ob Bundesrat, ob Nationalrat – zählt nicht zu den Lieblingsschauplätzen des Bundeskanzlers. Nach seiner Abwahl im Juni 2019 verzichtete Kurz leichten Herzens auf das ihm zustehende Mandat und startete einen Wander-Wahlkampf durch die Bundesländer. Kurz fehlt der Respekt vor dem Parlamentarismus, den er nur als Assistenzsystem im Regierungsworkflow betrachtet.

Und auch die Justiz ist für ihn nicht die komplett unabhängige dritte Staatsgewalt. Seinen Vertrauten Wolfgang Brandstetter beförderte er keck vom Justizministerium direkt in den Verfassungsgerichtshof. Dort musste sich dieser gleich zu Beginn für befangen erklären, weil er anhängige Gesetzesmaterien als Justizminister selbst mitbeschlossen hatte. Mit etwas Gespür für Unvereinbarkeiten hätte Kurz dem Höchstgericht diese Personalbesetzung erspart.

In seiner zweiten Kanzlerschaft wirkt Kurz abgehobener und scheint sich für unangreifbar zu halten. Eine solche Haltung macht leichtsinnig. Seine Hintergrund-Ausführungen zur Staatsanwaltschaft waren ein taktischer Fehler – nicht weil sie publik wurden, sondern weil sie bei den Anwesenden (die Kurz im Übrigen widersprachen) das Gegenteil des möglicherweise Erwünschten bewirkten. Dass die Staatsanwaltschaft systematisch SPÖ-nahe sei, übernahm keiner der anwesenden Journalisten. Dass in der Casinos-Affäre vielleicht noch für die ÖVP unangenehme Details schlummern, glaubten nach den Kanzler-Ausführungen allerdings einige mehr.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.