Die Afghanische Richterin Palwasha M.
Concordia-Preis für Menschenrechte

Kabul: Der Hölle in Afghanistan entrissen

Nach neuneinhalb Wochen, versteckt in einem Keller in Kabul, sind eine Richterin und ihre Familie den Taliban entkommen. Christa Zöchling über eine Flucht, bei der viele mitgeholfen haben. Die österreichische Regierung war nicht dabei.

Drucken

Schriftgröße

Diese Geschichte erschien am 7. November 2021 und wurde nun mit dem Concordia-Preis für Menschenrechte ausgezeichnet.

Plötzlich verliert die Berichterstattung an Bedeutung und die eingeübte journalistische Distanz macht keinen Sinn mehr. Meine profil-Story vom 22. August dieses Jahres über eine Richterin, die sich in Kabul aus Angst vor den Taliban in einem Keller versteckt hält, trägt den Titel "Ist da jemand?" Die als Hilferuf gemeinte Frage ist eigentlich an die österreichische Regierung gerichtet, doch die meldet sich nicht. Kann ich es dabei bewenden lassen? Nein.

Von der Tragödie erfuhr ich durch einen Zufall. Als die radikal-islamistischen Taliban am 15. August die afghanische Hauptstadt Kabul einnehmen und damit die Macht über das ganze Land an sich reißen, ist Mirwais Wakil, ein österreichischer Politikwissenschafter mit afghanischen Wurzeln, zu Gast in meinem Podcast "profil History". Er erzählt auch von einer Richterin und deren Familie, die er in der Vergangenheit mehrmals in Kabul besucht hat. Er ist in großer Sorge um sie.

Politikwissenschafter Wakil kennt Omar, einen Bruder der Richterin, der in Salzburg lebt. Am Tag darauf sitze ich neben Omar auf der Couch seiner kleinen Gemeindewohnung. Bis 2013 hat er für amerikanische Militärs in Afghanistan gedolmetscht, hat Kampfeinsätze mitgemacht. Dann kam er nach Österreich. Hätte er länger durchgehalten, wäre er noch dort und könnte etwas tun für seine Familie. So aber ist er hilflos und fühlt sich schuldig.

Als sie vor ein paar Tagen miteinander telefonierten, hatte die Richterin, Palwasha, 42 Jahre alt, Gift in der Hand und meinte, wenn die Taliban sie finden, sei es sowieso aus. Omar stellt Kontakt per WhatsApp-Videotelefonie her. Auf dem Display meines Handys erscheint ihr fleckiges Gesicht mit tiefen Schatten unter den Augen, dahinter eine schulterhohe Kachelwand mit Holzregalen. Schwacher Lichtschein fällt ein. In Kabul ist es früher Nachmittag.
 

Im Hintergrund des WhatsApp-Videobildes ist eine junge Frau zu erkennen, die Decken der vergangenen Nacht faltet und verstaut. Es ist Palwashas Schwester Zarghona, 34 Jahre alt, Ärztin in einem Kabuler Krankenhaus. Die zweite Schwester, Spozhmai, 35, war bis vor wenigen Tagen Lehrerin an einer Highschool für Mädchen, die dritte, Durkhanai, 40, unterrichtete Dari und Literatur. Sie liebt die Romane von Victor Hugo, die Erzählungen von Alexander Puschkin und die Gedichte von Rumi. Einmal huscht die jüngste Schwester durch das Bild, Deewa, 27, Absolventin an der Fakultät für islamische Studien an der Universität in Kabul, Praktikantin bei der Staatsanwaltschaft. Sie wollte Anwältin werden. Dann ist da noch die gebrechliche Mutter, 68, die an Asthma leidet.

Schließlich der einzige Mann in diesem Versteck: Palwashas Bruder Maiwand, 31, auf einem Auge blind. Es geschah während der ersten Taliban-Herrschaft in den 1990er-Jahren. Maiwand war ein Kind, spielte auf der Straße ein Wettspiel und wurde dafür von einem Talib gezüchtigt. Seither hat er ein Glasauge.

"Wenn eine von uns rausgeht, sind alle anderen dran", sagt Palwasha mit tränenerstickter Stimme. Das Reden fällt ihr schwer. Sie schildert, wie sie alle gemeinsam ihr Haus verlassen haben, um sich in diesem Keller eines verlassenen Gebäudes zu verstecken.

Für die Familie im Keller ist das Handy das Fenster zur Außenwelt; betrieben mit Batteriestrom und dank der Hilfe des Bruders Omar in Salzburg immer wieder mit Guthaben aufgeladen. Von draußen hören sie in diesen Tagen Schüsse, den Lärm von Hubschraubern, Geschrei. In der Nacht horchen sie auf schwere Tritte, ob diese sich nähern.

Dieser Alptraum hat nicht erst begonnen, als die Taliban zur Überraschung der internationalen Öffentlichkeit Mitte August in Kabul einfielen. Plötzlich entpuppten sich viele als Anhänger der neuen alten Herrscher, auch Nachbarn, von denen man es nicht erwartet hätte.

Für Frauen hört schlagartig das Leben auf. Sie wissen nicht, ob sie weiter ihrer Arbeit nachgehen dürfen oder ob ihre Existenz fortan darin besteht, verkauft und verheiratet zu werden. "In den Augen der Taliban erkennt man, dass sie Frauen nicht als Menschen ansehen", sagt Richterin Palwasha. Sie selbst schwebt in ungleich größerer Gefahr. Auf afghanische Richterinnen-man schätzt ihre Zahl auf 250 bis 300-zielt der besondere Hass der Radikalislamisten. Im Februar 2021 wurden zwei Freundinnen von Palwasha, ebenfalls Richterinnen in Kabul, auf offener Straße erschossen. Der arabische Nachrichtensender "Al Jazeera" veröffentlicht unmittelbar nach der Tat schockierende Bilder.
 

Wenn eine von uns rausgeht, sind alle anderen dran.

Palwasha

Ein Attentatsplan einer Gruppierung der Terror-Miliz "Islamischer Staat" wird bekannt. 30 Richterinnen in Kabul, sechs in Herat und sechs in Mazar-i-Sharif sollen exekutiert werden. Anfang Juni wird Palwasha und ihren Kolleginnen am Höchstgericht in Kabul größte Vorsicht angeraten: Neun Männer des Haqqani-Netzwerks, einer Fraktion der Taliban, seien unterwegs und spähten ihre Dienstwagen aus. Für die Taliban repräsentieren Richterinnen und Richter den westlich orientierten Staat und die weltlichen Gesetze, die sie verabscheuen.

In schlaflosen Nächten chattet Deewa, Palwashas jüngste Schwester, mit Maryam Wakil, der Mutter von Mirwais Wakil, dem Politikwissenschafter afghanischer Abstammung. Sie lebt wie ihr Sohn in Wien. Aus Deewas Nachrichten spricht die Angst: Am 4. August, zehn Tage vor der Machtübernahme, schreibt sie: "Es schaut sehr schlecht aus. Von vier Seiten stürmen die Taliban auf Kabul. Gestern Abend ein Bombenattentat in der Nähe unseres Hauses. Wir haben keine Hoffnung. Wir haben entschieden: Wenn die Taliban einfallen, werden wir Gift nehmen und uns auslöschen. Gott wird sie bestrafen."

Maryams Antwort: "Rede nicht so. Versteckt euch. Geht in einen Keller. Nehmt Essen, Wasser, Decken. Ich denke nicht, dass die Taliban es nach Kabul schaffen."

Deewa, neun Tage später: "Wir haben Angst, zittern die ganze Zeit. Das ist kein Leben. Jede Sekunde haben wir Angst vor dem Tod. Bete, dass die uns nicht vergewaltigen."

Am Morgen des 15. August, als Kabul in die Hände der Taliban fällt, fährt Palwasha, begleitet von einem Bodyguard, zum Hochhaus, in dem der Supreme Court, das Höchstgericht, untergebracht ist. Um 10.30 Uhr stürzen Männer des Sicherheitsdiensts herein und schreien: "Frauen raus, sofort!" Staatspräsident Aschraf Ghani hat den Präsidentenpalast verlassen und verlässt fluchtartig das Land. Die Taliban sind da. Palwasha entledigt sich ihres schwarz-grünen Talars, packt ihre Handtasche und schleicht auf Umwegen zum Kellerversteck, das sie eine Woche zuvor eingerichtet haben.
 

Pawlasha M.

Von Nachbarn erfährt die Familie, dass die Taliban schon am Nachmittag vor ihrem Haus aufgetaucht sind, einer modernen dreistöckigen Anlage im Villenviertel von Kabul, terrassenartig in einen Berg gebaut, 21 Zimmer, schönes Interieur. Die Taliban hätten Benzin ausgeschüttet und das Haus angezündet. Palwasha und ihre Familie haben ihre Dokumente, Zeugnisse, Diplome und Bankkarten sicherheitshalber in einem Blumenbeet vergraben.

Deewa schreibt am Tag nach der Machtübernahme an Maryam Wakil in der Wiener Großfeldsiedlung: "Im Fernsehen behaupten die Taliban, sie werden niemanden umbringen. Glaub das nicht! Das sind Tyrannen. Die schneiden dir den Kopf ab. Wir haben große Angst wegen Palwasha. Sie bekam früher schon Drohungen." Später in der Nacht: "Unser Schicksal ist schwarz geworden. Wir sind seelisch kaputt, schwach, jede Minute denken wir, besser etwas nehmen und uns auslöschen. Was werden sie mit uns machen? Uns vergewaltigen und dann umbringen? Entschuldige, dass ich so Danke, dass du mit uns bist."

Das ist die Lage von Palwasha, ihren Schwestern, ihrem Bruder und ihrer Mutter, als am 21. August auf profil.at und tags darauf in der Print-Ausgabe die Geschichte über die Richterin im Keller veröffentlicht wird. Die Frage "Ist da jemand?" verhallt nicht überall ungehört. Zwar meldet sich niemand aus einem österreichischen Ministerium, wohl aber andere, die sich betroffen fühlen. Melitta Šunjić etwa, die frühere Sprecherin des UNHCR in Österreich.

Mein Freund, der just an diesem Wochenende den CDU-Spitzenkandidaten Armin Laschet in Berlin interviewt, machte den Christdemokraten auf den Fall aufmerksam und drängt Laschet, etwas zu unternehmen.
 

Ich kann in dieser Situation nicht einfach zur journalistischen Tagesordnung übergehen. Ich habe versprochen, auf Palwashas Fall aufmerksam zu machen und damit Hoffnungen geweckt, die Richterin vielleicht sogar in Gefahr gebracht, trotz des falschen Namens und dem Foto mit einem Buch vor dem Gesicht.

Rettung scheint so nah und ist doch fern. Nach Palwashas Angaben befindet sich ihr Versteck 15 Minuten vom Flughafen in Kabul entfernt. Dort stauen sich Menschenmassen. Ein Eintrag auf einer Evakuierungsliste bedeutet in diesen Tagen für jeden Afghanen und jede Afghanin einen Lotto-Sechser.

Maryam Wakil schläft in diesen Tagen wenig, chattet rund um die Uhr, vor allem mit Deewa, spricht ihr Mut zu, schickt ihr Links von TV-Auftritten, in denen Politiker wie der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig ankündigen, Richterinnen aus Afghanistan aufzunehmen.

Der Fall der Richterin Palwasha und ihre Kontaktdaten werden am 23. August-über das Büro von Vizekanzler Werner Kogler-an das Kabinett des damaligen Außenministers Alexander Schallenberg übermittelt. Keine Reaktion. Wer sich an das Wiener Bürgermeister-Büro wendet, wird an die Magistratsabteilung 35 ("Einwanderung") verwiesen.

Am Morgen des 24. August schreibe ich der deutschen Frauenrechtsaktivistin und Herausgeberin der Zeitschrift "Emma", Alice Schwarzer. Sie antwortet sofort: "Verbreite die Geschichte über "Emma online", rufe deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an und kontaktiere US-Senatorinnen."

Am Abend desselben Tages meldet sich das Büro Laschet: "Die Richterin und ihre Familie stehen auf der deutschen Liste. Das bedeutet in der aktuell schwierigen Lage leider nur: Mit Glück rufen die Deutschen an. Es ist hilfreich, dass Schwarzer auch mit AKK (Anm.: Annegret-Kramp-Karrenbauer) redet."

Spätnachts noch einmal Alice Schwarzer: "Sie ist auf einer US-Evakuierungs-Priority-Liste. Wir hoffen, hoffen, hoffen."

Zwei Tage später wird auf den Kabuler Flughafen ein Terroranschlag verübt. 183 Tote, Flüge eingestellt, alle Listen Makulatur. Politikwissenschafter Mirwais Wakil beginnt, Fluchtrouten über den Landweg auszuarbeiten.

Die profil-Story hat eine fieberhafte Rettungsaktion ausgelöst. Wochenlang werden viele Leute tun, was in ihrer Macht steht, um Palwasha und ihre Familie vor dem drohenden Tod zu bewahren. Niemand von uns hat es allein in der Hand, die rettende Flucht zu organisieren. Über allen Bemühungen schwebt die permanente Angst, das Kellerversteck könnte entdeckt werden.

Am Ende der zweiten Woche endlich ein Lichtstreifen am Horizont. Ein alter, fast schon vergessener Freund, der Richter Siegfried Königshofer, meldet sich und erzählt eine erstaunliche Geschichte. Seine Kollegin Edith Zeller, Präsidentin der "Association of European Administrative Judges" habe eine afghanische Richterinnenfamilie mithilfe des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn außer Landes bringen können.

Das funktionierte so: Der Verwaltungsrichterin hatte ein Mail mit einem Hilferuf aus der afghanischen Stadt Mazar-i-Sharif erhalten. Die Absenderin schrieb, sie sei Richterin, halte sich mit ihrer Familie in Kabul versteckt und fürchte um ihr Leben. Den Dienstpass hatte sie als Attachment drangehängt. Zeller handelte rasch. An das österreichische Außenministerium wandte sie sich erst gar nicht, weil sie den Stehsatz, man werde keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen, schon kannte. Sie vertraute auf ihr Netzwerk. In ihrem Fall war das ein Richter in Luxemburg, der Außenminister Jean Asselborn anrief. Dieser stellte ein Visum in Aussicht, und es klappte: Die Familie saß im letzten Flugzeug vor dem Terroranschlag des 26. August am Flughafen Kabul. Die Geschichte darüber erscheint unter dem Titel "Richterin hilft Richterin" in profil.
 

Könnte, was einmal gelungen ist, ein weiteres Mal gelingen? Richterin Zeller ist sofort dazu bereit.

Am 27. August sagt Justizministerin Alma Zadić in einem Interview, Österreich solle gefährdete Frauen und Kinder aus Afghanistan aufnehmen. Am selben Tag schreibt der verzweifelte Omar in Salzburg an seine Schwestern in Kabul, er wisse nicht mehr ein noch aus. Er habe es bei allen möglichen Stellen probiert, niemand fühle sich zuständig, Österreich wolle keine weiteren Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Von den Freunden in Wien wird Omar dafür arg gescholten. Er dürfe die Frauen nicht entmutigen, auch wenn er recht habe.

Am 28. August meldet sich erneut Alice Schwarzer: "Liebe Christa Zöchling, hat der Bruder noch Kontakt zu seiner Schwester in Kabul? Übrigens: Die Richterin war auf keiner deutschen Liste. AKK hat zwar reagiert, aber an das Außenministerium verwiesen-das ist in Dauerschweigen verfallen. Ein Freund hat geholfen, sie auf die amerikanische Liste zu setzen, und dort wurde sie 'priorisiert' dank einer demokratischen Kongressabgeordneten und des Juristinnenverbandes Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden."

Internationale Medien berichten, dass nur noch US-Militärangehörige, NATO-Soldaten und Kriegsgerät ausgeflogen werden.

Am 30. August schickt Maryam Wakil Links der Einwanderungsbehörde der USA und Kanadas an die Richterin im Keller.

Am 31. August schreibt Deewa: "Die schmutzigen Taliban machen Party. Überall wird geschossen. Das letzte amerikanische Flugzeug ist weg und unschuldige Menschen werden sterben."

Mirwais Wakil schlägt vor, sie sollten versuchen, Afghanistan über den Landweg Richtung Iran oder Usbekistan zu verlassen. Deewa antwortet: "Wenn wir einen Zettel bekommen, eine Bestätigung von irgendwoher, dann können wir vielleicht in ein anderes Land." Ich höre, es sei möglich, brasilianische Visa zu bekommen. Brasilien? Ein kurzer Rückruf bei der Familie: "Hauptsache raus!" Die Visa waren ein Gerücht. Ich bekomme zu Kontakt zu einer Frau, die bei einer internationalen Organisation arbeitet und in ihrer Freizeit Spenden sammelt und Evakuierungsflüge von Herat aus organisiert. Ich muss ein Codewort nennen, wenn ich sie anrufe, und fühle mich wie in einem James-Bond-Film. Sie wird am Ende nicht die Richterin Palwasha, dafür aber Hunderte anderer Frauen und Kinder retten.

Woche drei: Bittere Tage brechen an. Die Ungewissheit zehrt. Die Frauen im Keller halten es kaum noch aus, fühlen sich, als würden sie langsam ersticken. Sie weinen oft. Palwashas Schwester Spozhmai, die Lehrerin, geht nach draußen, um Lebensmittel zu besorgen, gerät in eine Frauendemonstration und wird von Taliban eingekesselt. Halb ohnmächtig sackt sie zusammen. Ihre große Angst: Sie könnte verhaftet werden und das Versteck verraten. Sie kommt gerade noch davon. Ein großer Teil der Demonstrantinnen wird, nachdem die TV-Kameras weg sind, in ein Gebäude gesperrt und stundenlang festgehalten, erzählt Spozhmai.

Woche vier: Auf dem Display des Handys von Richterin Zeller erscheint eine unbekannte Nummer mit luxemburgischer Vorwahl. Es ist der Außenminister persönlich. Jean Asselborn sagt ein Visum zu. Die Familie müsse es nur außer Landes schaffen, auf eine westliche Botschaft, die mit Luxemburg zusammenarbeitet. Eine Visa-Bestätigung könne virtuell übermittelt werden, die Visa selbst müssen aber persönlich auf einer Botschaft abgeholt und in den Pass gestempelt werden.

In Wien und Kabul wird an diesem Abend gefeiert. Fotografien von Pässen und Dienstausweisen werden elektronisch übermittelt. Dabei unterläuft mir ein furchtbarer Fehler. Als kurz danach die offizielle Visa-Bestätigung eintrifft, fehlen die Namen zweier Schwestern auf der Liste: Deewa und Durkhanei.

Freitagabend, 3. September, Kabul: Alle weinen und beratschlagen, was nun zu tun sei. Zwei junge Frauen zurücklassen? Allein? Sie reden die ganze Nacht und entscheiden schließlich: Wir bleiben alle. Palwasha, die Richterin, wird später im Flüchtlingsheim in Luxemburg sagen: "Wir haben damals dem Tod ins Auge geschaut und uns damit abgefunden." Sie hätte es sich nie verzeihen können, ohne die beiden Schwestern zu fahren.

Jetzt bin ich es, die nicht mehr ein noch aus weiß. Ich schreibe ein Mail an den höchsten Beamten der luxemburgischen Migrationsbehörde und bitte um Nachsicht. Erkläre, dass es von Anfang an fünf Schwestern waren und nicht drei, dass es mein Fehler war, dass nicht alle Dokumente angekommen seien. In Luxemburg stellt man sich jetzt natürlich Fragen: Kommen da noch mehr? Was ist das für eine Familie? Fünf Frauen im Alter von 27 bis 42 Jahren, und keine von ihnen ist verheiratet? Gibt es im Hintergrund vielleicht Ehemänner und Kinder, die im Rahmen des Familiennachzugs Einlass begehren werden?

Der Frauenhaushalt ist für afghanische Verhältnisse in der Tat ungewöhnlich. Man versteht es besser, wenn man in die Geschichte dieser Familie und die afghanische Gesellschaft eintaucht. Der Vater war selbst Richter gewesen, eine anerkannte Autorität im afghanischen Justizministerium, der in seinen letzten Jahren Korruptionsfälle bearbeitete. 1994, als die Taliban begannen, das Land zu terrorisieren, war er aus seinem Dienstwagen entführt und tot, mit vier Schüssen exekutiert, zurückgebracht worden. Seine Frau, die Mutter Palwashas, der Richterin, entstammt ebenfalls einer Familie, in der Bildung großgeschrieben wurde. Sie war mit Leidenschaft Lehrerin.

Keine der Töchter hatte einen Mann von Rang und Namen gefunden, der in der gesellschaftlichen Anerkennung ebenbürtig und gleichzeitig modern genug war, Frauenkarrieren gutzuheißen. Und die Schwestern wollten sich ihre Freiheiten nicht nehmen lassen .- "Eine Richterin kann ja keinen Taxi-Chauffeur heiraten" erklärt die Wienerin Maryam. "Wir haben gesehen, wie viel besser es ist, als Single zu leben" sagt die Richterin - da war sie schon in Luxemburg.

Alle in dieser Familie hatten einen Beruf und eine Arbeit. Selbst der halb blinde Bruder, der es in der patriarchalen Kriegsgesellschaft nicht leicht hatte, war in der Finanzverwaltung angestellt. Gewohnt hat er in einem Anbau zum Haupthaus.

Die Richterin sieht sich als Oberhaupt der Familie. Sie ist noch zu der Zeit geboren, als die Sowjetunion Afghanistan besetzt hatte, verbrachte ihre Jugend in den Jahren, als die verschiedenen Fraktionen der Mudschaheddin gegeneinander kämpften und Kabul in Schutt und Asche legten, Chaos und Hunger herrschten. Als sie an der Universität ein Jus-Studium beginnen wollte, kamen die Taliban an die Macht; Ex-Präsident Mohammed Nadschibullāh, unter dem ihr Vater Karriere gemacht hatte, wurde öffentlich erhängt; ihr Vater ermordet. Palwasha arbeitete danach von zu Hause aus als Kosmetikerin und Näherin. Erst 2001, nach dem Fall des Taliban-Regimes, konnte sie studieren. Die Familie wohnte weiter in dem modernen Haus, das einst der Vater gekauft hatte, am Hang eines Hügels, mit Blick über die Stadt. Man kannte die Familie. Alle Frauen studierten, machten den Bachelor, den Master. Die Richterin war in der afghanischen Justiz-Reformkommission tätig. Mit den Erfahrungen und dem Wissen dieser Frauen hätte ein Staatswesen gebaut werden können. Aber das ist gerade eingestürzt.

Die Rettungsversuche gehen weiter. Noch einmal werden alle Dokumente nach Luxemburg geschickt, diesmal von den Schwestern mit kleinen persönlichen Biografien versehen, um das Besondere ihrer Familienkonstellation verständlich zu machen. Der Leiter des luxemburgischen Migrationsamtes geht sogar am Wochenende ins Büro, um höchstpersönlich die neuen Visumsbestätigungen zu schicken, mit seiner Paraphe und seinen Kontaktdaten, falls bei der Ausreise aus Afghanistan und der Einreise nach Pakistan ein Problem auftreten sollte.

Woche fünf: Deewa und Durkhanai sind überglücklich und wagen es, in der pakistanischen Botschaft in Kabul für alle eine Art Transit-Visum zu besorgen. Sie dringen nicht einmal bis zum Schalterbeamten vor. Am Botschaftseingang stehen Taliban und schlagen mit Stöcken auf jeden ein, der eintreten will. In ihren langen Gewändern und mit verhängten Gesichtern laufen die Schwestern zurück in den Keller. Was tun?

Die nächste Hiobsbotschaft: In der neuen Taliban-Regierung sitzen drei Minister aus dem Haqqani-Netzwerk, jene Männer, die schon früher Jagd auf Richterinnen gemacht haben.

Woche fünf: Wenn sie nicht nach Pakistan einreisen können, kommt nur noch der Landweg in der anderen Richtung infrage: die Russland-Connection. Ich kenne keine Scheu mehr und wende mich an den Anwalt Leopold Specht, von dem es heißt, dass er Gott und die Welt kennt und vor allem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gut vernetzt ist.

"Sehr geehrter Herr Specht: Eine Richterinnenfamilie hat die schriftliche Zusage Luxemburgs, mit Visum einreisen und dort einen Asylantrag stellen zu dürfen. Seit einigen Tagen versuchen sie verzweifelt, außer Landes zu kommen, um an einer Botschaft ihr Visum zu erhalten. Die pakistanische Botschaft in Kabul stellt derzeit keine Transit-Visa für afghanische Staatsbürger aus. Könnte vielleicht die russische Botschaft in Kabul, die ebenfalls noch geöffnet ist, helfen?"

Specht meldet sich umgehend. Auch Ex-Kanzler Christian Kern verspricht, seine Kontakte im Vorstand der russischen Eisenbahngesellschaft zu aktivieren. Beide meinen, das werde etwas länger dauern.

Ein weiterer Versuch, die ehemalige Außenministerin Karin Kneissl, die auf ihrer Hochzeit in der Steiermark den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu Gast hatte, schlägt fehl.

In der sechsten Woche wende ich mich an den ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer. Er kennt den Fall bereits und sagt, er könne wahrscheinlich nicht viel tun. Er habe den Eindruck, eine Intervention von ihm sei im österreichischen Außenministerium wirkungslos. Aber er tue alles, was ihm möglich sei. Fischer verfasst ein offizielles Schreiben auf Briefpapier des Ban Ki-Moon Centre, für das er tätig ist, und bittet den iranischen Botschafter in Wien, einer afghanischen Richterinnenfamilie die Einreise in den Iran und die Durchreise bis Teheran zu ermöglichen. Die Depesche wird mit einem Eilboten überbracht.

In der siebenten Woche gelingt es luxemburgischen und belgischen Diplomaten mit vereinten Kräften, dem pakistanischen Innenministerium eine Vereinbarung abzuringen, dass der Familie die Einreise nach Pakistan erlaubt werde. Die Richterin und ihre Angehörigen hatten nun ein sogenanntes Laissez-passer auf ihrem Handy. Die treue Alice Schwarzer fragte nahezu wöchentlich nach dem Stand der Dinge.

Bevor es an die pakistanische Grenze gehen sollte, wurden noch die im Blumenbeet vor ihrem Haus vergrabenen Dokumente ausgebuddelt. Es war alles noch da. Ein Teil des Gebäudes war tatsächlich angezündet worden, doch die Schäden waren nicht so groß wie gedacht. Sobald es hell war, nahmen sie ein Taxi an die pakistanische Grenze. Sie trugen kaum Gepäck mit sich, die wichtigsten Dokumente hatten sie am Körper in einem Täschchen verborgen. "Tut es unter die Kleider. Die Taliban werden euch nicht anrühren", hatte Maryam Wakil geraten. Sie sahen nicht aus wie Flüchtlinge, eher wie Frauen auf Shopping-Tour nach Islamabad. Es ging trotzdem nicht gut aus. Eine lange Schlange hatte sich vor der Grenzstation gebildet, und sie beobachteten, dass beim TalibanCheckpoint jeder genau kontrolliert, jeder Pass eingehend studiert wurde. Das Risiko war zu groß. Wenn sie Palwashas Pass aufschlugen und den Namen sahen, waren sie unter Umständen alle dran. Sie fuhren wieder zurück nach Kabul. In den Keller.

Nun beantragten sie online ein sogenanntes Gate-Visum und gingen noch einmal auf die pakistanische Botschaft. Als sie das zweite Mal die Grenzstation Turkham erreichten, zeigten sie nur den Gate-Pass vor, nicht ihre Reisepässe und durften passieren. Auf der belgischen Botschaft in Islamabad, die informiert war und die Familie bereits erwartete, erhielten sie innerhalb kürzester Zeit ihr Visum. Der Monsunregen prasselte auf den Asphalt, und sie weinten vor Glück, kauften sich ein paar warme Sachen, blieben aber sonst im Hotel. In Pakistan fühlten sie sich noch nicht sicher. Am 8. Oktober ging es mit einer Zwischenlandung in Istanbul nach Luxemburg.

Wir trafen sie zwei Wochen nach ihrer Ankunft. So lange waren sie in Quarantäne. Wir - das waren Mirwais Wakil, der übersetzte, und die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig, die sich uns aus Interesse angeschlossen hatte.

Die Flüchtlinge, jetzt offiziell Asylwerber, erwarteten uns vor dem Zaun ihrer Flüchtlingsunterkunft an einer Ausfahrtsstraße der Stadt Luxemburg, sieben Gestalten, zart und fragil, kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie hatten sich ihrerseits Luxemburg ganz anders vorgestellt. Sie hatten eine Skyline wie in New York erwartet.

Wir redeten viel. Die Familie ist fromm. Sie denken voll Wehmut an ihre Heimat und an den Hunger ihrer Landsleute. Sie sind wütend auf die Taliban und beten zu Gott, dass er sie vernichte. Sie wissen, was auf sie zukommt. Alles, was sie einmal gelernt haben, ist in ihrem Gastland wenig wert. Noch einmal werden sie die Disziplin des Lernens aufbringen, in einer fremden Sprache denken müssen und Arbeiten verrichten, von denen sie geglaubt haben, sie seien nur für ungebildete Leute. "Wir schaffen das, wir schaffen alles, wenn wir nur gesund bleiben", sagt die Richterin. Am allerglücklichsten scheint Maiwand zu sein. "Ich mag die Menschen hier, sie sind ehrlich und nett zueinander, auch zu mir. Die afghanische Gesellschaft ist dagegen hart."

Außenminister Jean Asselborn, der die Rettung der Familie ermöglicht hat, ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich zu begrüßen. Nach einem 12-Stunden-Flug aus Kigali in Ruanda ließ er sich direkt zum Flüchtlingsheim fahren, begrüßte zuerst die Mutter, dann die anderen, setzte sich mit der Richterin an einen Tisch und fragte, wie es ihr gehe. Unter der FFP2-Maske der Richterin kullerten dicke Tränen. Asselborn legte kurz seinen Arm auf ihren Arm. Auch er weiß, dass es schwer werden wird. Sie solle mutig sein, redet er ihr zu. So mutig, wie sie es bisher war.

Die WhatsApp-Gruppe mit den anderen Richterinnen, die sie in der Zeit im Keller eingerichtet hat, gibt es noch immer. "Manche sind jetzt in Amerika, manche in Griechenland, sehr viele noch immer in Kabul. Es geht den Taliban um das System, nicht nur um Richterinnen und Richter, die direkt Urteile gegen sie gefällt haben, sondern um das Symbol des Rechtsstaats. Alle neu eingesetzten Staatsanwälte, der Justizminister selbst stammen jetzt mehr oder weniger aus dem Haqqani-Netzwerk, die uns damals schon gesucht haben",sagt die Richterin.

Zusatz: "Es gäbe noch einige von uns zu retten, wenn ich das so sagen darf."

Christa   Zöchling

Christa Zöchling