Hertbert Lackner über den "ewigen" Kaiser

Kaiser Franz Joseph I.: Despotismus und Schlamperei

Kaiser Franz Joseph I.: Despotismus und Schlamperei

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Ein gütiger alter Herr mit ergrautem Backenbart blickt mit väterlicher Strenge von alten Fotos und neuen Kaffeehäferln in den Souvenirshops zwischen Hofburg und Schönbrunn. Ein einsamer Alter aus lange versunkenen Zeiten grüßt uns da, einer, der viel mitgemacht hat, dem nichts erspart geblieben ist: der Tod der kleinen Tochter; der Selbstmord des Sohnes, der in seinen letzten Lebensstunden zum Mörder geworden war; die Hinrichtung des Bruders im fernen Mexiko; das tödliche Attentat auf seine Frau Elisabeth; der Anschlag auf den Thronfolger; der große Krieg. Auf zeitgenössischen Filmaufnahmen müht sich ein alter Herr, gebückt, aber noch immer stramm, jene übermenschliche Kraft auszustrahlen, die für den Zusammenhalt des zu großen Reiches notwendig gewesen wäre. Sie hatte ihn da schon längst verlassen.

Das Bild des alten Mannes überdeckt jenes seiner Ahnen und seines Nachfolgers. Was weiß man schon über seinen Großvater, Kaiser Franz, der immerhin 42 Jahre lang geherrscht hatte – und das in einer entscheidenden Phase der europäischen Geschichte? Franz Josephs Thronerbe, sein Großneffe Karl, blieb eine undeutliche Figur, obwohl in seiner Regierungszeit die 642 Jahre währende Habsburger-Herrschaft zu Ende ging. Einzig Franz Josephs Ururgroßmutter Maria Theresia schafft es über die kollektive Erinnerungsschwelle, nicht zuletzt wegen ihrer vielen Kinder und wegen des Umstands, dass da erstmals eine Frau ganz oben war. Für die Nachgeborenen hat Franz Joseph das Bild des Habsburger-Staates geprägt.

Es stimmt in fast keinem Detail. Franz Joseph – der gütige Beschützer der Völker unter seiner Krone? Mitnichten. Als die Ungarn 1849 Wahlrecht, Pressefreiheit und ein eigenes Heer einforderten, ließ der junge Kaiser Blutbäder unter den aufständischen Eliten anrichten und den zu Hilfe gerufenen russischen Zaren – die reaktionärste Kraft des Kontinents – die Drecksarbeit erledigen. 55.000 Ungarn wurden niedergemetzelt.

Franz Josephs Anteil am Zustandekommen des Ersten Weltkrieges wurde lange kleingeredet.

Franz Joseph – der Bewahrer des Reiches? Er hat dessen Untergang durch ein um fast 20 Jahre zu spät erfolgtes Eingehen auf einige Forderungen der ungarischen 49er-Revolutionäre wohl hinausgezögert – verhindern konnte er ihn letztlich nicht. Seine Bündnispolitik war tollpatschig; Italien wurde zu seinem Trauma: Innerhalb von sieben Jahren verlor er zuerst die Lombardei und dann Venetien mit den symbolträchtigen Metropolen Mailand und Venedig. Gegen Ende, 1915, war er sogar bereit, „Welschtirol“, also den mehrheitlich italienischsprachigen Trentino, herzugeben, um Italien aus dem Weltkrieg herauszuhalten. Rom genügte das nicht – die Alliierten hatten Italien das ganze Südtirol versprochen.

Der Kaiser trug fast immer Uniform und vergötterte seine Armee. Aber ein Schlachtfeld hatte Franz Joseph nur ein Mal gesehen, 1859 in Solferino. Das genügte ihm offenbar.

Franz Josephs Anteil am Zustandekommen des Ersten Weltkrieges wurde lange kleingeredet: Hier sei ein alter Mann – Franz Joseph war 1914 immerhin schon 84 – in ein kriegerisches Abenteuer getrieben worden, das er in Wahrheit so nie gewollt habe, hieß es lange aus verstaubten Historikerecken.

Die neuere Forschung hat mit dieser zurechtgezimmerten Konstruktion aufgeräumt. Der Kaiser war auch in diesem hohen Alter noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte. Anders als etwa sein Neffe Franz Ferdinand, war er den Kriegstreibern in der Armee nie entschlossen entgegengetreten. Nach den Schüssen von Sarajevo war er mit diesen sofort einer Meinung, die Situation müsse für einen Schlag gegen Serbien genutzt werden. Die entscheidende Sitzung des gemeinsamen Ministerrats von Österreich-Ungarn am 7. Juli 1914 wartete er gar nicht mehr ab: Zehn Tage nach dem Attentat saß er schon wieder im Sonderzug nach Ischl, wo er schon zuvor gekurt hatte. Zur Unterzeichnung der Kriegserklärung drei Wochen später unterbrach Franz Joseph die Beschaulichkeit seiner Sommerfrische nicht. Es war ja bloß eine Sache weniger Minuten, eine Formalität.

Die soziale Frage interessierte ihn kaum, weder die Ausbeutung des Industrieproletariats noch das Elend der aus Böhmen und Mähren zugewanderten Ziegelarbeiter.

Franz Joseph war ein verbohrter, mehr verwaltender denn regierender Herrscher. An seiner geistigen Unbeweglichkeit und der erstarrten Welt des Wiener Hofes zerbrachen sowohl sein Sohn als auch seine Frau. Veränderungen mochte er nicht: Parlament und Verfassung waren für den jungen Kaiser Teufelszeug. Dem allgemeinen Wahlrecht stimmte er erst zu, als 1905 in Russland eine Revolution ausbrach, die das Zarenreich erschütterte.

Die soziale Frage interessierte ihn kaum, weder die Ausbeutung des Industrieproletariats noch das Elend der aus Böhmen und Mähren zugewanderten Ziegelarbeiter. Freilich trug just das Auspressen der Massen maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufstieg Österreichs in den Gründerzeit-Jahren bei, der zum Teil auch Franz Joseph gutgeschrieben werden muss. Sein Entschluss, die Enge der mittelalterlichen Stadt aufzugeben, die militärisch sinnlosen Mauern zu schleifen, war für Wien der Schlüssel zu jener Weltstadt, die es heute ist.

Mit Maßstäben unserer Zeit ist Franz Joseph nicht zu messen. Er fuhr zwar schon im Auto, reiste per Bahn und konnte auch in Wien die ersten Flugversuche bestaunen – mit einem Bein stand er aber noch im Mittelalter. Es sah sich und alle anderen Monarchen als von Gott selbst eingesetzt, weshalb Menschen niemals an den Thronen rütteln dürften. Die Französische Revolution von 1789 war für ihn wohl bis zuletzt die Wurzel allen Übels.

Trotz alledem ist Franz Joseph eine erträgliche Symbolfigur, mit einem wie ihm kann ein Land wie Österreich leben – ganz gut sogar. Die Ambivalenz seiner Erscheinung charakterisierte kaum jemand besser als der sozialdemokratische Parteigründer Victor Adler, den die kaiserliche Polizei 17 Mal in den Kerker geworfen hatte. Franz Josephs Staat, so Adler 1889, sei „gleich unfähig, bei einem Werk der Gerechtigkeit consequent zu sein wie bei einem Werk der Unterdrückung. Wir haben den Despotismus gemildert durch Schlamperei.“

Herbert Lackner

war von 1998 bis zum Februar 2015 Chefredakteur von profil. Heute schreibt der Autor mehrer Bücher als freier Autor für verschiedene Medien, darunter profil.