Die feinen Unterschiede
Das Gymnasium Renngasse im ersten Wiener Gemeindebezirk liegt im Schatten. An einem Sonntag um neun Uhr morgens ist hier nichts los. Hier wohnen nicht viele Menschen, hier befinden sich Ämter und Institutionen. Keine höheren Angestellten sind unterwegs, die mit Laptops in nachhaltigen Rucksäcken in Richtung City streben. Keine Absätze klackern auf dem Asphalt. Nur vor dem Eingang der Schule hat sich eine Menschentraube gebildet, aus deren Mitte Stative und Mikrophonständer hervorragen. Geschäftiges Murmeln der Journalisten, Fotografen und Multi-Media-Leute; muntere Aufsager in die Kamera. Tassilo Wallentin, bekannt als Kronenzeitungs-Kolumnist, lässt auf sich warten. Mit Rückenwind dieser Zeitung hat er seinen Wahlkampf geführt - und mit beachtlichem Selbstbewusstsein. Als er um die Ecke biegt, einen kleinen Hund hinter sich herzerrend, ist davon nichts mehr zu spüren. Ein leicht schiefes Lächeln, ein leicht beleidigt wirkender Blick, weil er von Journalisten gefragt wird, wie es denn nun weitergehe? Er zähle nicht Prozente, sondern Menschen, sagt Wallentin. Nach der Stimmabgabe werde er sich im privaten Umfeld erholen. Seine braune Hose ist von teurem Tuch, ebenso der marineblaue Mantel, die Schuhe vermutlich handgenäht, und das Hündchen - die Journalisten wissen, es heißt Augustina - trägt in der kalten Zeit sicher ein Nappa-Leder-Hunde-Jäckchen. Wer hier wohnt, den plagen solche Sorgen: wie man aussieht, wie man wirkt, was man trägt.
Am anderen Ende der Stadt, unter der donnernden Trasse der Süd-Osttangente, zwischen modernen Glasbauten, Parkflächen, Brachen und alten Zinshäusern, bewegt sich eine Kolonne von Fiakern durch die sonnenbestrahlte Rinnböckstraße. Hufe klappern am Asphalt. Vor der neuen Mittelschule in der Pachmayergasse eine Menschenansammlung. Die Journalisten und Journalistinnen sind durchwegs jünger als zuvor. Eine Frau mit Gehstock klagt, sie komme die Stufen nicht hoch zum Wahllokal, doch das interessiert Niemanden. Alles wartet auf Dominik Wlazny alias „Marco Pogo“. Als er mit seinem Vater und zwei, drei weiteren Mitstreitern die Gasse hochkommt, stürzen sie auf ihn zu. Aufgeregte, junge, weibliche Stimmen- wie geht es weiter? Wie verbringen Sie den Tag? Was werden Sie in Zukunft machen? „Entweder in der Hofburg sitzen oder für die Stichwahl weiterkämpfen“, sagt der junge Mann mit platzendem Selbstbewusstsein. Mit langen Schritten, in schwarzen Jeans, dunkler Jacke, unter der ein feineres schwarzes Jackett hervorlugt, stakst er zur Schule. Ein sympathischer junger Mann, der davon träumt, er könnte wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer echten Krisensituation einmal zeigen, was in ihm steckt. Dass sein Ergebnis respektabel ausfallen wird, dass er ohne Strukturen, nur mit Familie und Freunden, in allen größeren Städten hunderte Fans um sich versammeln konnte, zeigte sich zuletzt zwei Tage vor der Wahl am Wiener Stephansplatz. Ein paar Hundert junge Leute waren gekommen, hörten eine kurze Rede und bildeten am Ende eine lange, sich immer wieder erneuernde Schlange für ein Selfie oder ein kurzes Hallo mit dem Kandidaten. Eineinhalb Stunden nach Wlaznys Rede standen sie noch immer an. Unter Erstwählern wird der Jungkandidat wohl abräumen.
Kontrastprogramm im Dritten Wiener Gemeindebezirk. Diplomatenviertel. Die Volksschule, in der Bundespräsident Alexander van der Bellen seine Stimme abgibt, liegt direkt neben der russischen Botschaft. An allen Ecken lehnen Gitter für eine Straßensperre; gemütlich wirkende Verfassungsschützer haben die Kreuzung im Blick. Da nähert sich eine kleine Gruppe, noch unbemerkt vom Journalisten- und Kamera-Pulk, der noch einmal angeschwollen ist. Kurzes Geplauder, was soll man schon sagen, was die Zukunft betrifft?
Auch hier wieder eine ältere Frau, die jammert, ohne die Hilfe ihres Sohnes, hätte sie die Treppe nicht geschafft. Van der Bellen, in einem Anzug wie man ihn von den Plakaten kennt, nickt verstehend. Er sieht glücklich und entspannt aus, nicht so wie in den letzten Tagen des Wahlkampfs. Seine Frau Doris Schmidauer lächelt verschmitzt. Wissen sie etwas, was man selbst noch nicht weiß?
Mit einem Cut an der Stirn hat der freiheitliche Volksanwalt Walter Rosenkranz am späten Vormittag sein Wahllokal in der Kremser Pfarre Sankt Paul betreten. Eine kleine Ungeschicklichkeit, „patschertes Verhalten“ bei seinem letzten Wahlkampfauftritt, sagt er missmutig. Kein gutes Omen für weitere Stichwahlkampfwochen.
Heinrich Staudinger in roter Freizeitjacke hat schon aufgegeben: Es sei „nicht wahnsinnig wichtig, wer Präsident ist“, sagt der Schuhfabrikant, ehe er das Kulturzentrum in Schrems zur Stimmabgabe betritt.
Resigniert hat auch der Kandidat der Corona-Maßnahmen-Gegner, Michael Brunner. Der ältere Herr sagt, vor dem Rathaus in Pressbaum stehend: Jede Stimme für ihn sei ein Erfolg. Jedenfalls für ihn.
Der frühere BZÖ-Obmann Gerald Grosz baute sich um die Mittagszeit vor dem Grazer Dom auf und nutzte das Geläute der Kirchenglocken gewitzt für große Worte: „Der liebe Gott hat seinen Sanktus gegeben.“
Es sieht aus, als seien alle ganz froh, wenn es keine zweite Runde gäbe.