Kanzler Christian Kern: Endstation Sehnsucht
Es ist nicht so leicht, die Balkontüre im Bundeskanzleramt zu öffnen. Das Sicherheitsglas sperrt sich und klemmt. "Ich habe mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass jemand auf mich schießen könnte", seufzt Christian Kern. Er blickt ernst auf den Fernsehschirm, über den Nachrichten zum Mord an einer britischen Labour-Abgeordneten flimmern. Die Balkontür ist dann doch kein Problem. Kern posiert, im wie immer akkurat sitzenden Anzug, für den profil-Fototermin. Doch frische Luft in die alte Tante Sozialdemokratie und in die angejahrte Regierung hineinzulassen, gestaltet sich schwieriger, als sich Kern das nach der Anfangseuphorie wohl träumen ließ.
Call me Christian
Es ist ein postmodernes Wunder, wenn einmal ein Hype um einen Politiker entsteht, und zwar einen regierenden Politiker. Beim "pioneers festival" in der ehrwürdigen Hofburg kreischte die junge Start-up-Szene, als Kern erschien. Wie ein Popstar musste sich der frischgebackene Kanzler durch die Menge kämpfen. "Call me Christian", rief Christian Kern von der Bühne herab. Das war mit dem Veranstalter so vereinbart. Kaum war sein Auftritt vorüber, schlug Kern gegenüber dem Moderator, den er eben noch geduzt hatte, wieder das formelle "Sie" an. Manche finden das allzu geschmeidig. Für die Generation Facebook ist das normal. Sich der jeweiligen Situation anzupassen, wird ihnen hundert Mal am Tag abverlangt.
Einem Mitstreiter aus Jugendtagen fällt zum Phänomen Kern ein Fachbegriff aus der Linguistik ein. Der neue Kanzler sei ein leerer "Signifikant", der mit jeglicher Bedeutung aufgeladen werden könne. Kern als Retter der Sozialdemokratie, der schon wissen wird, wo es langgeht, egal wohin; der Genosse, der die zerstrittenen Flügel der Sozialdemokratie wieder eint, egal worauf; der Politiker, der Heinz-Christian Strache im Bundeskanzleramt verhindert, egal wie. Kern, das bedeutet für die SPÖ: Endstation Sehnsucht.
In seinen ersten vier Wochen konnte Kern diesen Erwartungen auf überraschende Art und Weise entsprechen. Seine Auftritte hält er in einer neuen, frischen Sprache. Doch Weltbewegendes gibt er nicht von sich. Er stellt sich auf das jeweilige Publikum ein, nimmt Stimmungen wahr, reagiert auf Blicke und Gesten und sagt zu seinen Gesprächspartnern immer erst einmal: "Sie haben recht."
Kern geht nach Fakten, und er hat seine Werte. Er beantwortet Herausforderungen nicht mit Gefühl.
Wie kein anderer Politiker in den vergangenen Jahren kontrolliert Kern die Inszenierung seiner selbst. Seit zwei Wochen stellen drei junge Profis aus dem Bundespressedienst täglich Fotos des neuen Bundeskanzlers auf die Social-Media-Plattform Instagram, vorzugsweise in Schwarz-Weiß. Kern auf cool. Daneben sieht selbst der 29-jährige Außenminister Sebastian Kurz alt aus. Die Fotografen hatten übrigens ihre Idee, den Kanzler in einer neuen Ästhetik abzubilden, auch schon Werner Faymann angeboten. Doch der wollte das nicht. Schon in der Chefetage der ÖBB hatte Kern seinen Mitarbeitern viel Freiraum gelassen - es musste nur funktionieren.
Eine Woche vor dem SPÖ-Parteitag wird vor allem eines debattiert: Ist Kern ein rechter oder ein linker Sozialdemokrat? Alle würden ihn gern für sich reklamieren. Der Vorschlag einer Wertschöpfungsabgabe oder Maschinensteuer sei eine alte Idee linker Gewerkschafter, sagen die einen. Keineswegs, sagen die anderen: Es handle sich um zeitgemäßen Pragmatismus. Kern sei auch jede andere Idee recht, die den Sozialstaat nachhaltig finanziere.
Er bewundere den linken US-Demokraten Bernie Sanders, wendet das linke Lager ein. Was er an Sanders gut finde, sei nicht dessen Politik, sondern dessen Kampagne: dass Sanders das Gefühl vieler Menschen anspreche, dass es in unserer Gesellschaft nicht mehr gerecht zugehe, entgegnet das rechte Lager.
Und was tut Kern? Er zitiert Studien, die belegen, dass soziale Ungleichheit in der Welt sich verschärft. Karl Krammer, ehemals Vranitzky-Sprecher und Lobbyist, sagt trocken: "Kern geht nach Fakten, und er hat seine Werte. Er beantwortet Herausforderungen nicht mit Gefühl."
Kerns Haltung, sich einem Entweder-Oder zu verweigern, ist ein Zug seiner Persönlichkeit, der sich schon in den 1980er-Jahren im Verband Sozialistischer Studenten (VSStÖ) zeigte. Der VSStÖ erlebt damals seine letzten Jahre als intellektuell-elitärer Zirkel, in dem jeder Schwenk der Eurokommunisten ausführlich diskutiert wurde, aufstrebende Jungpolitiker wie Michael Häupl Wochenend-Schulungen über Karl Marx und "Das Kapital" abhielten. Selbst Manfred Matzka, der soignierte spätere Leiter der Präsidialsektion im Kanzleramt, soll einmal über die "Hirnwichser im VSStÖ" geseufzt haben.
Christian war schon als 20-Jähriger ein Pragmatiker. Es war nie seine größte Begabung, sich für aussichtslose Minderheitenthemen einzusetzen.
Christian Pöttler spricht lieber von der "Sekte am Schmerlingplatz". Der heutige Geschäftsführer des Echo-Mediaverlages war von 1984 bis 1986 Wien-Vorsitzender der roten Studenten und erinnert sich an den um sechs Jahre jüngeren Christian Kern als "ungewöhnlich disziplinierten, sehr überlegten, extrem gebildeten, unaufgeregten und nie überheblichen Menschen". Aus erbitterten Grundsatzstreitereien hielt sich Kern heraus: "Christian war schon als 20-Jähriger ein Pragmatiker. Es war nie seine größte Begabung, sich für aussichtslose Minderheitenthemen einzusetzen. Er hatte schon damals den Zug zum Tor", erzählt Pöttler. Bei feucht-fröhlichen Runden fehlte Kern. Er war mit 20 Jahren das erste Mal Vater und vorübergehend Alleinerzieher geworden. Das erforderte ein Leben in geregelten Bahnen.
Wenn man mit Weggefährten über die politische Verortung des jungen Kern spricht, fällt am häufigsten der Begriff "Zentrist" - Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit darüber, ob Kern nun links oder rechts war. Ganz gewiss ist nur, dass weder Palästinensertücher noch Schmuddellook Kerns Stil waren. "Christian war schon vom Habitus her bürgerlicher als wir und besser angezogen", witzelt Thomas Uher, damals Vertreter der ÖVP-nahen Aktionsgemeinschaft, der Kern auch "als extrem ehrgeizigen Fußballspieler" kennenlernte. Uher ist heute Vorstandsvorsitzender der Erste Bank und einer der vielen Knoten in Kerns Netzwerk. Als Kern Kanzler wurde, schickte Uher ihm eine launige SMS: "Tut mir leid, dass du deinen Traumjob nicht gekriegt hast." In ihren Hochschultagen sei das der Managerposten beim Fußballverein Arsenal London gewesen.
Stattdessen wurde Kern Ende der 1980er-Jahre Chefredakteur der "Rotpress" und bewies erstmals Managerqualitäten. Die defizitäre Zeitung stand vor der Einstellung, Kern brachte sie -mithilfe der SPÖ und Inseraten von Siemens, Post und Bahn -in ruhigere Gewässer. 1989 wurde er Spitzenkandidat des VSStÖ-Wien für die Hochschülerschaftswahlen. "Er war eben auch ein Bindeglied zwischen den hoffnungslos zerstrittenen Gruppen", beschreibt Annemarie Kramser, langjährige ÖGB-Pressesprecherin, seine verbindlichen Qualitäten. Ihr erschien er damals schon "unheimlich perfekt" - in jeder Hinsicht: "Ich habe ihn einmal im Stadtpark getroffen, da hat er mit seinem Sohn mit Pfeil und Bogen geschossen und mir das auch für meinen Sohn nahegelegt. Das sei gut für die Feinmotorik der Kinderfinger."
Man lernt institutionelle politische Prozesse kennen, welche Instrumente man einsetzen kann. Ministerkabinette sind Scharnierstellen.
Kern war 1991 einer der wenigen, die direkt von der Uni in die Politik gingen. Manche sollten ihm später vorwerfen, er habe es sich "gerichtet". Als Peter Kostelka von der Löwelstraße an den Ballhausplatz wechselte, wurde Kern Pressesprecher des Staatssekretärs. 1996 kommt er für die SPÖ ins ORF-Kuratorium.
Die Lehrjahre im Kanzleramt sind eine gute Ausbildung, meint der frühere Vranitzky-Sprecher Krammer: "Man lernt institutionelle politische Prozesse kennen, welche Instrumente man einsetzen kann. Ministerkabinette sind Scharnierstellen."
1994 wurde Kern Pressesprecher im SPÖ-Klub. Die Partei schwankte damals zwischen law and order und Humanität. Man war überrumpelt von der Massenzuwanderung nach dem Fall des Ostblocks und den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und beschloss, getrieben von der FPÖ, Verschärfungen des Asylgesetzes und Schikanen für Ausländer. Sonja Ablinger, unter Werner Faymann aus der SPÖ ausgetreten, war damals eine blutjunge Abgeordnete des ganz linken Flügels: "Kern war sicher kein Linker, er stand bei diesen Debatten in der Mitte. Ich fand ihn aber einen extrem angenehmen Pressesprecher, weil er nicht wie andere alles glattbügeln und Jubelpropaganda betreiben wollte."
Kern war nicht nur Pressereferent. Er war Teil des politischen Planungsstabes des Klubs und der Partei.
1995 wurde Kern von Journalisten zum besten Pressesprecher gekürt, überzeugend vor allem in den Kategorien Umgangsformen und Informationswert. Kerns ehemaliger Chef Peter Kostelka: "Kern war nicht nur Pressereferent. Er war Teil des politischen Planungsstabes des Klubs und der Partei."
In den Ferien schrieb Kern an seiner Magisterarbeit über Politik und Medien. Er ging dabei mit der SPÖ streng ins Gericht: Das Misstrauen gegenüber Journalisten werde den Funktionären offenbar schon in den Basiszellen eingeimpft. Dabei zeige die Empirie, dass die subjektive politische Haltung eines Journalisten weniger ins Gewicht falle als eine gute Story, analysierte Kern.
Ende 1996 breitete sich Fin-de-siècle-Stimmung im SPÖ-Klub aus, die Ära Vranitzky neigte sich dem Ende zu. Mit sicherem Gespür für den richtigen Zeitpunkt verließ Kern das politische Feld. Johannes Sereinig holte ihn zum Verbund. Als "7. Zwerg von links" beschreibt Kern seinen Einstand als Vorstandsassistent. Es war eine Zeit des Umbruchs. Der Strommarkt wurde liberalisiert, Monopole gewohnte Energieversorger stellten auf freien Wettbewerb um. Kern legte eine Blitzkarriere hin und leitete bald die "Power Trading" und deren europäischen Stromhandel. Es waren die Boomjahre auf dem internationalen Strommarkt. Wer keine Aktien besaß, galt als ewiggestrig. Kern gab Sätze zum Besten wie: "Ich bin seit meiner Schulzeit auch privat auf Finanzmärkten unterwegs." Er war nun für das Auslandsgeschäft zuständig. Freund wie Feind attestierten ihm enormen Fleiß. Der Rechnungshof zerpflückte Jahre später die Auslandsbeteiligungen des Verbunds. Da war die europäische Elektrizitätswirtschaft längst in die Krise geschlittert und Kern bei den ÖBB gelandet.
Kern ist zielorientiert, überdurchschnittlich intelligent und verlangt von sich und seinem Umfeld Höchstleistungen.
Finanziell bedeutete das einen Abstieg. Für Peter Koren, lange in Verbund und Industriellenvereinigung tätig, war es dennoch alles andere als eine Überraschung: "Kern ist zielorientiert, überdurchschnittlich intelligent und verlangt von sich und seinem Umfeld Höchstleistungen. Er ist ein Teamplayer, will aber die Nummer eins sein. Beim Verbund war er , einfaches' Mitglied im Vorstand, bei der Bahn konnte er die Nummer eins sein."
Kern nutzte die neue Bühne geschickt. "Man wird begreifen müssen: Es ist unsere letzte Chance", sagte er 2010 beim Antritt als ÖBB-Chef. Er kündigt einen "Kulturwechsel" im verschnarchten Traditionsbetrieb an. Manche der Sätze von damals fanden sich fast wortgleich in seinen ersten Auftritten als Kanzler wieder. Kern entsorgte die bis dahin gültige Managementkultur, versprach einen Neustart und umwarb die Mitarbeiter mit Videobotschaften wie "Bahnfahren wird cool". Kern reduzierte Personalstand und Verlust, verbesserte Service und vor allem Image der Bahn, begleitet von hymnischen Zeitungsschlagzeilen à la "Kern räumt auf".
Das blieb nicht unbemerkt. Im Mai 2011, als der SPÖ-Vorsitzende und Kanzler Werner Faymann schon eine Serie von Verlusten bei Landtagswahlen eingefahren hatte, tauchte erstmals in den Medien ein Gerücht auf: Die rote Personalreserve in der Bahn zeige Leadership und könnte eine Alternative zu Faymann sein.
Meine Lust auf Politik ist so groß wie die auf mud wrestling
Kern entwickelte rasch Routine darin, einschlägige Ambitionen wortreich zu dementieren ("Meine Lust auf Politik ist so groß wie die auf mud wrestling"), wurde aber als öffentliche Figur allgegenwärtig. Er kickte beim Wissenschafts-Forum in Alpbach für den guten Zweck und parlierte über Reformen. Er saß in der ersten Reihe, wenn SPÖ-Dauerkritiker Hannes Androsch "7 Thesen für Österreichs Zukunft" präsentierte. Er war im Aufsichtsrat des Fußballklubs Austria Wien, gemeinsam unter anderem mit dem obersten SPÖ-Gewerkschafter Wolfgang Katzian, Bürgermeister Michael Häupl oder Pensionistenboss Karl Blecha.
Er zeigte sich beim Sommerfest des Frauennetzwerkes Medien. Aber auch auf Society-Events ließ er sich gern sehen, etwa bei der Eröffnung des italienischen Labels Bottega Veneta im Wiener Goldenen Quartier, gemeinsam mit seiner Frau Eveline Steinberger-Kern, die ihrem Mann in puncto Netzwerken kaum nachsteht: Mit Niko Pelinka, SPÖ Zukunftshoffnung a. D., gründete sie den "Innovation Club", der Reisen nach Silicon Valley veranstaltet. Einer der ersten Teilnehmer war ORF-General Alexander Wrabetz. Mit Harald Mahrer, heute ÖVP-Staatssekretär, verband sie eine Bürogemeinschaft, in der "Energie Burgenland" saß die Unternehmerin im Aufsichtsrat , ab und an veranstaltete sie einen politischen "Salon". Wo Werner Faymann seine Abende verbrachte, blieb bis zuletzt sein Geheimnis - die Kerns waren immer schon ein Fixpunkt im Gesellschafts- und Kulturleben Wiens.
Vielleicht war Kern einfach lieber unter Leuten, als man es von ÖBB-Chefs vor ihm gewohnt war. Vielleicht brachte er sich auch geschickt für höhere Aufgaben in Stellung. Als geborenes Kommunikationstalent verstand er es geschickt, allfällige Avancen auf das Kanzleramt weit von sich zu weisen -und gerade deshalb im Gespräch zu bleiben.
Kern hat die ÖBB-Hauptwerkstätte in St. Pölten gerettet.
Fünf lange Jahre lang, von 2011 bis 2016, stand Kern ante portas. SPÖ-Landespolitiker freuten sich, wenn sie mit ihm Bahnhöfe eröffnen durften und er ihnen beim Lösen ihrer Probleme half. Niederösterreich-SPÖ-Chef Matthias Stadler: "Kern hat die ÖBB-Hauptwerkstätte in St. Pölten gerettet. Es gab eine Empfehlung des Bahn-Managements, die Arbeitsplätze nach Ungarn zu verlagern. Kern war selbst vor Ort und hat anders entschieden. Er ist ein Macher." Später saß Kern im Komitee für Stadlers Wiederwahl. Er tauchte bei Fotoausstellungen im SPÖ-Klub im Burgenland auf -und im Februar 2015 in der Loge von Landeshauptmann Franz Voves bei der Grazer Opernredoute und wenig später am Tisch von Michael Häupl am Wiener Opernball.
Die SPÖ-Granden hatte er da längst auf seiner Seite, im kurzen Sommermärchen, als Österreich die Willkommenskultur zelebrierte, legte er auf den Bahnhöfen sein Schnösel-Image ab und sammelte Punkte im Freifach Hemdsärmeligkeit. Auch hier durfte Inszenierung nicht fehlen: Die Kampagne hieß "Menschlichkeit fährt Bahn" und heimste mehrere Preise ein.
Doch Faymann kämpfte. Fast sah es aus, als sollte sich Kern in die Riege der besten Kanzler einreihen, die Österreich nie hatte. Er orientierte sich um und verhandelte mit einem großen, global organisierten Industrieunternehmen. Der Vertrag war unterschriftsreif, als Faymann dann doch losließ. Kern zauderte. Und gab der SPÖ den Vorzug. Endstation Sehnsucht?
Kern stammt aus kleinen Verhältnissen, aufgewachsen im Arbeiterbezirk Simmering, der Vater Elektriker, die Mutter Sekretärin. Über Politik diskutiert wurde nie. Kern stieß zuerst zum anarchistisch-grünen, dann sozialdemokratischen Milieu, in jenen Jahren, als der Liberale Ralf Dahrendorf das Zeitalter der Sozialdemokratie für beendet erklärte. Er ging in die staatsnahe Wirtschaft, als elf von insgesamt 15 Regierungschefs in Europa Sozialdemokraten waren, als Tony Blair und Gerhard Schröder den "dritten Weg" einschlugen und einen programmatischen Kotau vor den Finanzmärkten machten.
Eine neue Erzählung der Sozialdemokratie ist weit und breit nicht in Sicht.
Ist ein guter Manager auch ein guter Politiker? Genügt es, die Werte der Sozialdemokratie im Mund zu führen und darauf zu hoffen, den Gegner mit Argumenten etwa über die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft zu überzeugen? Die deutsche Soziologin und Parteienforscherin Jasmin Siri warnt vor der Kluft "zwischen den schönen Sätzen und der praktischen Anwendung. Eine neue Erzählung der Sozialdemokratie ist weit und breit nicht in Sicht." Der verstorbene SPD-Intellektuelle Peter Glotz, auf den sich Kern in seinem ersten Auftritt im SPÖ-Klub berief, sagte einmal, intelligente Kompromisse in der Politik könnten nur von Leuten ersonnen werden, die gegen den Strich denken.
Aber will die Parteibasis überhaupt einen Vorsitzenden, der gegen den Strich denkt? Auf den bisherigen Landesparteitagen rührte Kern alte Genossen zu Tränen und war wohl auch selbst sehr gerührt. Bis zum Bundesparteitag am kommenden Samstag wird die ungewohnte Aufbruchsstimmung noch anhalten. In der profil-Umfrage (siehe Seite 21) legte die SPÖ seit Kerns Amtsantritt um drei Prozentpunkte zu. Noch deutlicher zieht Kern in der fiktiven Kanzlerfrage davon. Er liegt jetzt zehn Prozentpunkte vor Strache. Werner Faymann war noch hinter Strache gelegen. Doch wie lange bleibt Kern Kanzler?
Haben SPÖ und ÖVP ein gemeinsames Ziel? In der Koalition wirkt es nach Scharmützeln um Rechnungshof und Asylzahlen so, als hätte die Regierung Neustart und Flitterwochen längst hinter sich. Kern birgt das Potenzial zu entgegengesetzten Extremen: Er könnte einer jener raren Regierungschefs werden, die das Land voranbringen - oder der kürzestdienende Kanzler, den Österreich je hatte.
Man kann eine Regierung eben nicht führen wie ein Unternehmen. In der Wirtschaft erkennt man ein Problem, sucht eine Lösung - und aus.
Der Start verlief holpriger als erwartet. ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, selbst einst Manager, analysiert das so: "Man kann eine Regierung eben nicht führen wie ein Unternehmen. In der Wirtschaft erkennt man ein Problem, sucht eine Lösung - und aus. In der Politik braucht es ab Findung der Lösung noch 47 Beschlüsse und 100 Diskussionen. Das kann ungeheuer nervig sein und braucht viel Zeit. Wenn man nicht die politische Handwerkserfahrung hat, tut man sich damit doppelt schwer." Schelling zählt wie Vizekanzler Reinhold Mitterlehner zu jenen in der Regierung, die gerne Ergebnisse vorlegen würden. Er sitzt neben Mitterlehner und Staatssekretär Mahrer für die ÖVP in der Steuerungsgruppe, der die Koordination der Arbeitsgruppen für den "New Deal" obliegt. Für die SPÖ verhandeln neben Kern Kanzleramtsminister Thomas Drozda und Klubobmann Andreas Schieder.
Schieder beschreibt Kerns Stil so: "Er ist diskussionsorientiert, nimmt Widerspruch als Bereicherung und will rasch Lösungen." Der steirische SP-Chef Michael Schickhofer: "Wenn die Argumente gut sind, verändert er seine Meinung." Der Fansektor auf ÖVP-Seite ist dünner besetzt, dort wird seine Art, Ministerratsvorträge nicht abzunicken, sondern bei den Ministern gezielt nachzufragen, mit hämischen SMS quittiert: "Prof. Kern prüft heute Sobotka."
Seine Anfangsreden waren brillant, sichtlich geplant und geübt. Ich halte es für einen Fehler, die Latte gar so hoch zu legen.
Eine recht harte Landung für jemand, der vor vier Wochen als Überflieger gestartet war. ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin kennt und schätzt Kern: Als Motivforscherin führte sie Kundenzufriedenheitsstudien für die ÖBB durch. Sie ist jedoch irritiert über Kerns erste Wochen. "Zu seiner Marke gehört Wirtschaftskompetenz -und dann kommt er mit alten Kamellen wie der Maschinensteuer? Und macht sich nicht einmal die Mühe, sie neu zu benennen?" Zweitens wundert sich Karmasin über seinen Einstieg: "Seine Anfangsreden waren brillant, sichtlich geplant und geübt. Ich halte es für einen Fehler, die Latte gar so hoch zu legen. Ich hätte es für klüger gehalten, nicht gar so rasant in Vorlage zu treten. Dann wäre die theoretische Fallhöhe weniger groß."
In seiner Diplomarbeit hat Kern schon vor 30 Jahren das Phänomen der Überflieger in der Politik analysiert, den tiefen Fall nach der großen Euphorie. Seine Schlussfolgerung, sinngemäß: Wenn ein Regierungschef beliebt bleiben wolle, solle er am besten gleich nach der Angelobung zurücktreten.