Nehammer 2023
Rücktritt

Karl Nehammer: Der unwahrscheinliche Kanzler

Obwohl der Ballhausplatz nie sein Karriereziel war, landete Nehammer trotzdem dort. Sein Versuch, eine Koalition gegen FPÖ-Chef Kickl zu zimmern, wurde hintertrieben. Was bleibt von ihm?

Drucken

Schriftgröße

Spitzenpolitiker bekommen Macht selten geschenkt – sie müssen sie sich holen. Das wissen die Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Christian Kern und Werner Faymann (beide SPÖ) nur zu gut. Sie alle putschten gegen ihre Vorgänger, um selbst nach oben zu kommen.

Die Karriere von Noch-Bundeskanzler Karl Nehammer verlief untypisch anders: Er purzelte ins Kanzleramt. Die Korruptionsermittlungen gegen Sebastian Kurz setzten eine Ereigniskette in Gang, an deren Ende Nehammer im Dezember 2021 unverhofft Kanzler war.

Ins Amt gerutscht 

Ambition auf den Posten hatte er zuvor entweder gut verheimlicht oder tatsächlich nie gehegt. Er war auf die Rolle –  anders als etwa Kurz –  nicht penibel vorbereitet, er war eine Notlösung, gewann mit den Monaten im Amt aber an Statur.

Dieser untypische Weg zur Macht erklärt vielleicht ein wenig, warum Nehammer auch ein unkonventioneller Kanzler war. Er musste sich schnell in der Rolle des Trümmermanns zurechtfinden. Krisen warteten überall, sogar in seiner eigenen Partei.

Seine Karriere begann der langjährige Parteifunktionär in der mächtigen ÖVP Niederösterreich. Schon aus diesen Tagen kennt er die nunmehrige Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, die bei Nehammers Inthronisierung eine Schlüsselrolle spielte.

Als Kommunalreferent der niederösterreichischen ÖVP baute er die schwarze Vormachtstellung in den 573 Gemeinden aus. Er war ein enger Mitarbeiter des Landesgeschäftsführers und späteren Innenministers Gerald Karner und stammte ebenso wie die spätere Verteidigungsministerin Klaudia Tanner aus der Schule Ernst Strassers.

Nehammer als ÖVP-Generalsekretär, 2019

Am Anfang seiner Polit-Karriere stand aber auch ein Scheitern: 2016 leitete Nehammer den Bundespräsidenten-Wahlkampf von Andreas Khol –  daraus wurde nichts. Mit Sebastian Kurz’ Wahlkampf klappte es dann –  Nehammers Weg führte in die Regierung. 2020 wurde Nehammer Innenminister –  naheliegender wäre das Verteidigungsministerium gewesen, hieß es damals, denn Nehammer war damit als ehemaliger Berufssoldat und Leutnant eng verbunden. 

Privat ist Nehammer mit der Tochter von ORF-TV-Legende Peter Nidetzky liiert, dieser verstarb Anfang November. Auch Katharina Nehammer war politisch in der ÖVP aktiv, unter anderem als Pressereferentin von Wolfgang Sobotka. Von Hietzing aus wurde Hobby-Boxer Nehammer Bezirksparteiobmann, später Generalsekretär des Arbeitnehmerbundes (ÖAAB) und dann Generalsekretär der Bundes-ÖVP. Er war kein Mastermind, aber loyal.

Überlebenskünstler

In seine Zeit als Innenminister fiel auch der Wiener Terroranschlag am 2. November 2020. Für die großen Worte war in jener Nacht noch Ex-Kanzler Sebastian Kurz zuständig. Bei der Aufarbeitung der Terrornacht gab es Kritik an Nehammer, der Anschlag hätte das Ende seiner politischen Karriere sein können. Aber er tauchte durch. Nur ein Jahr später, am 6. Dezember 2021, wurde Nehammer Bundeskanzler und ÖVP-Chef –  inmitten der Coronakrise, ganz ohne Neuwahl. Kurz war durch die Inseratenaffäre ins Straucheln gekommen. 

Nehammer trug die viel kritisierte Impfpflicht mit, die unter Interims-Kanzler Alexander Schallenberg eingeführt wurde, und begleitete auch deren Rücknahme. 

Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 reiste Nehammer als erster westlicher Staatschef zum russischen Machthaber Wladimir Putin nach Moskau. Der Boxer Nehammer wollte die „persönliche Konfrontation“ mit Putin, „sehr direkt, offen und hart“, verteidigte er sein Treffen damals.

Formell besiegelt wurde Nehammer als Parteichef im Mai 2022 – mit 100 Prozent der Stimmen. Derartige Zustimmungswerte erhielten formell nur Leopold Figl (1947) und Julius Raab (1954) bei ihrer Wiederwahl. Damit übertraf er Sebastian Kurz, er erlangte 2017 98,7 Prozent der Stimmen sowie Reinhold Mitterlehner im Jahr 2014 (99,4 Prozent).

Burger, Alkohol und Psychopharmaka 

 Bekannt war auch Nehammers fester Handschlag, 2023 kam der polnische Ministerpräsident Donald Tusk in den Genuss. Sein letzter Gast war der schwedische Premier Ulf Kristersson –  ein letztes Selfie beim Neujahrskonzert vor der Politkrise. 

„Bist du noch normal?“, fragte Nehammer im Juli 2023 in einem Werbevideo – aber eine Antwort darauf blieb der Kanzler schuldig. Beim Tiroler ÖVP-Parteitag 2022 verwunderte er mit seinem Sager zu „Alkohol und Psychopharmaka“: „Wenn wir jetzt so weitermachen, gibt es für euch nur zwei Entscheidungen nachher: Alkohol oder Psychopharmaka“. Der Sager ging im Netz viral und sorgte für viel Kritik.

Ein weiteres Video, mitgefilmt bei einem vertraulichen Talk mit Funktionären, verfolgte ihn bis zum Schluss: Eltern, die sich keine Mahlzeit für ihre Kinder leisten können, empfahl er Burger von McDonald‘s. 

Im Nationalratswahlkampf 2024 beschrieb profil Nehammer so: „Nervenzerfetzende Aufregung und vermeintliche Wunderwuzzis hatte Österreich genug, mit Nehammer macht das Abenteuer Pause. Er ist kein schillernder Charismatiker, eher der Typus standfester Rackerer und Normalo. Lieblingsessen Schnitzel, Auto Familienkutsche VW Sharan, in der Schule ein Mal durchgefallen. Konservativ und bodenständig, wie die ÖVP immer war. Zumindest am Land.“

Kogler und Nehammer im Nationalrat im September 2024.

Durchsetzen konnte Nehammer als Trümmermann unter Türkis-Grün einiges, er übernahm das Amt vom machtbewussten Sebastian Kurz in der Rolle des tonangebenden Koalitionspartners. Beschlossen wurde die Abschaffung der kalten Progression, eine Valorisierung der Sozialleistungen, das lange geforderte Informationsfreiheitsgesetz, außerdem erhalten die Länder Geld für den Ausbau der Kinderbetreuung - die Umsetzung ist hier fraglich, profil berichtete. Geprägt war die zweite Halbzeit von Türkis-Grün unter Nehammer aber auch von Blockadehaltungen und Schlagabtäuschen, sei es beim Klimaschutzgesetz, das Erneuerbaren-Ausbau-Beschleunigungsgesetz, dem Elektrizitätswirtschaftsgesetz oder einer Generalstaatsanwaltschaft. „Das Beste aus beiden Welten“ rief Kurz als Motto für die türkis-grüne Koalition aus, liegen geblieben sind vor allem Grüne Projekte aus dem Bereich Klimaschutz.

Immer wieder war im Vorfeld der Nationalratswahl über einen Rückzug Nehammers spekuliert worden. Er blieb, positionierte die durch Korruptionsvorwürfe gebeutelte ÖVP als Partei der „Mitte“ und gab die Losung aus: Herbert Kickl als Kanzler verhindern. 

Für Platz eins reichte es bei der EU-Wahl im Juni und der Nationalratswahl im September nicht mehr, aber das Ergebnis war besser als von vielen in der Partei befürchtet. Die Arithmetik im Parlament erlaubte es, weiter vom Kanzleramt zu träumen.

Nach der Nationalratswahl startete Nehammer den riskanten Versuch, eine Koalition mit SPÖ und Neos zu zimmern. Davon hing auch sein eigenes politisches Überleben ab. Nehammer gelang es in Rekordgeschwindigkeit, das tiefe Misstrauen zwischen ÖVP und SPÖ aus den Kurz-Jahren zumindest soweit abzubauen, dass ernsthafte Gespräche möglich waren. 

Doch die „DreiKo“ war in der ÖVP von Anfang an umstritten. Wirtschaftsvertreter liebäugelten offen mit einem Pakt mit der FPÖ, selbst wenn das für die Volkspartei den Verlust des Kanzleramts bedeutet.

Seit gestern ist bekannt, wie der Machtkampf (vorerst) ausgegangen ist. 

„Karl, wie geht’s?“, heißt der Podcast, mit dem sich Nehammer nach der Wahl nahbar gab. Darin beklagte der scheidende Kanzler, dass seine Familie und seine zwei Kinder durch das Kanzleramt oft auf der Strecke blieben. 

Das dürfte sich nun ändern. 

Franziska Schwarz

Franziska Schwarz

Seit Dezember 2024 im Digitalteam.

Jakob Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.