Unbesetzte Kassenstellen: Rezepte gegen den Ärztemangel
Mehr Patienten, weniger Ärztinnen. Dieser Trend setzt sich in Österreich fort. Die Symptome dieser Entwicklung zeigen sich immer deutlicher: lange Wartezeiten in Ordinationen, Bangen um Neuaufnahmen bei Kassenärztinnen, Verschiebungen medizinischer Eingriffe in Spitälern. Patentrezept gibt es für diesen komplexen Bereich keines – auch international. Doch einige Hebel, an denen man ansetzen kann.
Wo die meisten Ärzte fehlen
Aktuell fehlen in den Bundesländern 182 Allgemeinmediziner und 110 Fachärztinnen – besonders in den Bereichen Gynäkologie und Dermatologie klafft eine Lücke.
Was an dem Engpass verwundert: An sich ist die Anzahl an ausgebildeten Medizinerinnen im EU-Vergleich relativ hoch. In Österreich gab es 47.722 Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2022, damit sind wir im europäischen Spitzenfeld. Das Problem steckt im österreichischen Modell: Immer weniger junge Mediziner wollen ins Kassensystem einsteigen. Das bekräftigt auch Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärtzekammer (ÖÄK), im Gespräch mit profil: „Früher war ein Kassenvertrag eine langfristige Absicherung, heute sind die Arbeitsbedingungen als Wahlarzt besser.“
Der Facharztmangel ist regional unterschiedlich. In Niederösterreich sind elf Hautarztstellen unbesetzt, hingegen fehlen in der Steiermark mit neun unbesetzten Stellen die meisten Gynäkologinnen. Doch dies, so Wutscher, sei nur eine Momentaufnahme: „Der Ärztemangel ist ein österreichweites Problem.“
Abbau von Bürokratie
Aus Sicht des ÖÄK-Vizepräsidenten gibt es zwei wichtige Hebel, um hier gegenzusteuern. Einerseits fordert Wutscher einen Abbau der Bürokratie, etwa bei der chefärztlichen Bewilligung für gewöhnliche Blutdruck-Medikamente. Andererseits sollten laut der Berufsvertretung auch die Kassenverträge flexibler werden. Ein Beispiel: Eine Arztpraxis mit Kassenvertrag muss 22 Stunden in der Woche offenhalten, an mindestens zwei Nachmittagen. Das sei für viele Ärztinnen mit Betreuungspflichten nicht stemmbar. „Unsere wichtigste Forderung ist, diese banalen Vorschriften über Bord zu werfen“, so Wutscher. Er fordert auch den Ausbau von Teilzeitstellen und die Möglichkeit für Kassenärztinnen, in Karenz zu gehen.
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) hingegen hat andere Pläne, um dem Ärztemangel entgegenzusteuern. In der Ausbildung setzt sie mit Stipendien für Medizinstudierende und mehr Unterstützung im letzten Studienjahr an. Heuer waren bis zu 85 der 1.900 Studienplätze für Aufgaben im öffentlichen Interesse für Bundesländer, die ÖGK, das Innenministerium und das Verteidigungsministerium reserviert. Interessierte verpflichten sich dabei, in bestimmten Sektoren tätig zu bleiben und bekommen dafür formale Erleichterungen und Unterstützung.
Das Interesse an diesen Plätzen ist überschaubar: Die ÖGK konnte nur sechs ihrer 13 Studienplätze besetzen. Für jene angehenden Studierenden, die genug Punkte für eine reguläre Einschreibung erzielten, war dieses Angebot zu unattraktiv.
Ein Bericht des Rechnungshofs aus 2021 zeigte auf, dass von allen Medizinstudierenden mit Abschluss nur 69 Prozent in der heimischen Ärzteliste eingetragen waren. 31 Prozent des Nachwuchses standen somit für die ärztliche Versorgung in Österreich nicht zur Verfügung. „Wir statten Menschen mit einer Ausbildung aus, die ihnen international Türen öffnet“, sagt dazu Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom vom Institut für Höhere Studien (IHS).
Was für Czypionka hinter diesem Fakt steht: das Gesundheitssystem in Österreich sei noch nicht auf die neue Generation an Ärztinnen eingestellt. Junge Medizinerinnen hätten – anders als etwa in den USA – keinen finanziellen Druck, direkt in den Beruf einzusteigen, um Studien-Schulden abzubauen. Viele wollen sich auch nicht gleich langfristig beruflich binden. „Die Jungen wollen sich oft nicht schon festlegen, wo sie in fünf Jahren sind. Darauf muss das System reagieren.“
Bessere Aufgabenverteilung
Sucht man nach Best-Practice-Beispielen in der EU, stößt man auf Schweden. Dort ist der Mangel weniger eklatant, weil die Aufgaben im Gesundheitsbereich anders verteilt sind. Viele Routineuntersuchungen werden dort etwa vom weiteren Gesundheitspersonal durchgeführt. Erst bei auffälligen Befunden wird ärztliches Personal tätig. Ärztinnen haben zwar weniger direkten Kontakt mit Patientinnen, nehmen sich dafür vergleichsweise mehr Zeit bei Verschlechterungen des Krankheitsverlaufs oder für neue Diagnosen.
Ein Weg, der für Thomas Czypionka auch in Österreich denkbar wäre: „Der Ärztevorbehalt muss auch bei uns reduziert werden“. Drei Viertel der Ressourcen im Gesundheitswesen würden auf chronische Krankheiten entfallen. „Es ist nicht immer notwendig, neue Behandlungsentscheidungen zu treffen“, argumentiert der Experte. Zum Beispiel müsse ein Diabetiker für einen Routinecheck nicht zwangsläufig nur zum Arzt. „Auch nicht-ärztliche Gesundheitsberufe können überprüfen, ob er noch gut sieht oder die Nerven unbeschädigt sind.“
Im administrativen Bereich gibt es schon Initiativen, die das Gesundheitspersonal entlasten sollen. Ab 2026 sollen Patientinnen über die Hotline 1450 Arzttermine buchen können, auch Videokonsultationen will man dann breit verfügbar machen. Die jüngste Gesundheitsreform sieht dafür 51 Millionen Euro jährlich im Rahmen der sogenannten „e-Health Strategie“ vor. Auch eine ELGA-App soll kommen, um Patientinnen die Abholung von Befunden zu erleichtern.
Jenseits der Administration ist derzeit keine große Umstrukturierung in Sicht. Eine Reduktion des Ärztevorbehalts, also jener Tätigkeiten, die nur von ausgebildeten Medizinern erbracht werden dürfen, steht offenbar nicht zur Diskussion.
Zukunftsmodell Primärversorgungszentren
Die vielen Baustellen und Engpässe im Gesundheitssystem sind allgemein bekannt. Länder, das Gesundheitsministerium und die Sozialversicherung arbeiten also daran, vor allem für junge Medizinerinnen passende Arbeitsmodelle zu schaffen.
Eine Strategie ist hier die Initiative Plus100. Hier will die ÖGK bei der Eröffnung 100 neuer Praxen in Österreich unterstützen. Dafür gibt es jährlich 300 Millionen Euro aus dem Bundesbudget. Auf profil-Nachfrage teilt die ÖGK mit, bisher 70 Stellen ausgeschrieben zu haben. Auf 63 Stellen habe es bereits 195 Bewerbungen gegeben. Tatsächlich in Vertrag genommen wurden Stand Juli zwölf Ärztinnen und Ärzte. Weitere sollen im Oktober folgen.
Ein weiteres Modell, das besonders bei jungen Ärzten Zuspruch findet, sind medizinische Primärversorgungseinheiten. Inzwischen gibt es in Österreich bereits 69 derartige Zentren, in denen Allgemeinmediziner im Team arbeiten. Die Öffnungszeiten sind dadurch deutlich umfangreicher, Patientinnen kommen schneller an Terminen und können im selben Haus von Pflegepersonen, Sozialarbeiter oder Psychotherapeutinnen betreut werden. „Ein fachlicher Austausch, Tür an Tür, von dem alle profitieren. Die Zukunft der Primärversorgung liegt in der interprofessionellen Teamarbeit“, sagt David Wachabauer von der Gesundheit Österreich, der die Primärversorgung landesweit koordiniert. Neuartig ist dabei die Vernetzung innerhalb der Ärzteschaft: die Plattform Primärversorgung zählt nach fast zwei Jahren bereits knapp 2000 Mitglieder. Laut Wachabauer ein positives Zeichen: „Der Hausarztberuf muss keine einsamer sein.“
Verschränkung mit Wahlärzten
Entlastung und Hürde im Kampf gegen den Ärztemangel ist eine österreichische Sonderlösung: das Wahlarztsystem. „Das ist europaweit einzigartig“, sagt Karin Eglau vom Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen. Wenn öffentlich Versicherte zu einer Wahlärztin gehen, können sie um Erstattung von bis zu 80 Prozent des gewöhnlichen Kassentarifs ansuchen.
Das System steht aber auch in der Kritik, eine Zweiklassenmedizin zu fördern. Daher werden hier Einschränkungen diskutiert. Zuletzt plante Wien ein Verbot von Privatordinationen für Ärzte, die nur Teilzeit in öffentlichen Spitälern arbeiten. Erwartungsgemäß traf dieser Vorstoß von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) auf Kritik vonseiten der Ärztekammer. Statt eine kleine Gruppe zu benachteiligen, solle vielmehr das Kassensystem an sich attraktiver gestaltet werden, argumentiert die Berufsvertretung.
Auch diese Debatte verdeutlicht: Österreich hat weniger einen tatsächlichen Ärztemangel, sondern ein Verteilungsproblem – von Aufgaben, Ressourcen und Infrastruktur.