Kein Fisch im Wasser: Wiens Vizebürgermeisterin Birgit Hebein
Von Hof zu Hof, das kann sie. Im ersten schwingt Birgit Hebein einen Hula-Hoop-Reifen, lässt sich von einer 13-Jährigen erklären, warum Black-Lives-Matter-Demos wichtig sind, und wechselt ein paar Worte mit den Bobo-Eltern, die in Klappstühlen am Wiesenrand lümmeln. Ein paar Ecken weiter, ein Gemeindebau. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Im Durchgang baumelt ein Mund-Nasen-Schutz von der Decke. Handtaschen, die Jahrzehnte in Schränken überdauert haben, werden auf Tischen feilgeboten. Hebein steuert auf eine weißhaarige Dame zu und ist schon mitten im Gespräch darüber, welche Bewandtnis es mit den Puppen in den bunten Trachten hat. Es sind Geschenke von Ungarn-Flüchtlingen, denen ihr verstorbener Mann über die Grenze nach Österreich half. Dritte Station, ein verwinkelter Park im Inneren eines Wohnblocks, in dem junge Familien picknicken. Am Spielplatz stellt sich die Grüne ans Steuer eines Holzautos. Die Fotografin aus dem Tross der Wahlhelferinnen kann gar nicht genug Bilder machen.
So gelöst bekommt sie die Spitzenkandidatin in diesem Wahlkampf selten vor die Linse. Die Wiener Grünen pendeln in den Umfragen bei 15 Prozent (2015 kamen sie auf 11,8 Prozent).Geht es nach ihnen, wird Rot-Grün nach dem 11. Oktober neu aufgelegt. Für SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig kommen hingegen als Partner auch ÖVP und NEOS infrage. Wohl auch deshalb, weil sich Rot-Grün zuletzt im Hickhack um Gürtelpool, Pop-up-Radwege und autofreie Innenstadt verzettelte.
Der Samstag der offenen Innenhöfe in Wien-Wieden ist eine der raren Gelegenheiten für Hebein, das zu tun, was ihr leichtfällt: Straßen, Höfe, Menschen, Lächeln, Grüßen, Winken, Plaudern. Wenn sie in Gasthäusern mit Leuten rede, mit Arbeitern auf einer Baustelle, fühle sie sich an ihr Dorf im Kärntner Gailtal erinnert, wird sie in einer Pause erzählen. Ihre Eltern stammen aus Feistritz, mit jedem Zweiten war sie dort verwandt, anders als winkend, grüßend, plaudernd sei man nicht durchs Dorf gekommen. Seit 14 Monaten ist Hebein Vizebürgermeisterin von Wien. Nun habe sie das Gefühl, "dass alle Teile meiner Persönlichkeit erblühen", sagt sie - die Dorfkindheit und alles, was danach kam.
Fernsehstudios gab es im Leben der Grünen bisher bloß sporadisch. Im Wien-Wahlkampf aber sind Elefantenrunden und Konfrontationen - neben Social Media - die Kampfzone schlechthin. Bei keiner Landtagswahl zuvor gab es so viele TV-Auftritte. Die Grüne kommt auf mehr als 50. Jeder gegen jeden im ORF, auf privaten Sendern und den Videokanälen diverser Medien. Für Hebein, die sich bis vor zwei Jahren weder in der ersten Reihe noch an der Spitze ihrer Partei oder als Vizebürgermeisterin einer Millionen-Metropole sah, ist das unvertrautes Terrain.
Als Grüne in Rudolfsheim-Fünfhaus, dem ärmsten Bezirk Wiens, und später als Landtags-Abgeordnete (ab 2010) kümmerte sie sich um soziale Belange von Randgruppen, den Straßenstrich hinter dem Westbahnhof, die Bettlerinnen und Wohnungslosen der Stadt, Mindestsicherungsbezieher, Bevölkerungsgruppen also, die von der Politik gerne vergessen werden. Nun liegt sie im Bund mit der Kanzlerpartei ÖVP im Clinch, die sich weigert, Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager im griechischen Moria ins Land zu holen, und liefert sich auf Stadtebene in Verkehrsfragen zusehends nervende Scharmützel mit SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig. 15 von 23 Wiener Bezirken sind derzeit rot regiert, drei grün. SPÖ und Grüne fischen in den Innergürtelbezirken im selben Wählerteich. Spannend wird es in der Leopoldstadt und am Alsergrund. Hier liegen die Kontrahenten Kopf an Kopf.
Der deutsche Elitenforscher Michael Hartmann beschrieb 2018 in dem Buch "Die Abgehobenen", wie sich das politische und mediale Establishment über die Dekaden von der Masse entfernte und zur Parallelgesellschaft wurde. Rekrutiert werde unter seinesgleichen. Von unten in die obersten Positionen aufzusteigen, sei kaum noch möglich. Hartmanns Befund gilt - mit Einschränkungen - auch hierzulande. Zwar funktionierten Bünde und die Gewerkschaften lange Zeit als Aufstiegsschienen, doch auch in Österreich zeige sich die Spitzenpolitik zusehends entrückt. Zur Elite zählt der Soziologe Menschen, die dank ihrer gesellschaftlichen Stellung Einfluss ausüben, "ein paar Tausend" seien es in Deutschland, ungefähr ein Drittel davon in Österreich. Na, und? An der Spitze überlebten eben nur die Besten, halten Professionisten des politischen Handwerks dagegen. Doch viele fühlen sich von diesem Establishment nicht repräsentiert. Wer als Kind eines Maurers und einer Mutter, die keinen Beruf lernen durfte, in einem Kärntner Tal aufwächst, sieht die Welt mit anderen Augen als ein Kind aus der städtischen Bildungsschicht.
Feistritz im Gailtal ist seit jeher eine zweisprachige Gegend, bis heute wird in der Kirche auch slowenisch gesungen. Anders als in den Gunstlagen im Klagenfurter Becken fretteten sich die Landwirte hier eher durch. Bis Ende des 19. Jahrhunderts lebte das Tal auch vom Pferdefuhrwerk. Zwei Jahrhunderte lang hatten Bauern Güter über die nahe gelegene Grenze nach Italien gebracht und sich als Spediteure den Raum zwischen der Steiermark und Salzburg erschlossen. Mit dem Bau der Eisenbahn brach der Nebenerwerb zusammen. 1894 ging die Gailtalbahn in Betrieb. Viele Gailtaler wurden Bahnarbeiter oder wanderten nach Amerika aus, um in den Schlachthöfen von Milwaukee und Chicago zu schuften. Die sowohl bäuerliche als auch proletarische Prägung des Gailtals erklärt sich aus dieser Geschichte. Die Modernisierung nach 1848 hatte seine Bewohner zu Verlierern gemacht, wie beim Historiker Peter Wiesflecker nachzulesen ist. Chroniken beschreiben ein trotziges Bauernvolk, einen aufsässigen Menschenschlag. Der jährliche Kirchtag, der als Weltkulturerbe gilt, ist mit seinen wilden Gesängen und seinem archaischen "Kufenstechen" das lebendige Echo einer Zeit, in der Männer beweisen mussten, dass sie die Pferde unter widrigsten Bedingungen zu reiten verstehen.
Hier kam Birgit Hebein 1967 auf die Welt. Sie machte die Hauptschule, maturierte an der Handelsakademie in Villach, absolvierte die Sozialakademie, eine klassische Aufstiegsschiene für Mädchen, und landete in der Stadt. Studentenproteste, Indien-Reise, Hausbesetzung, linksradikales Theater, alles macht sie durch. Das Bodenständige aber haftet ihr bis heute an. Es könnte ein Kompliment sein. Tatsächlich rümpfen Politikbeobachter die Nase. Tenor: Hebein fehle es an Gewandtheit, ihre Stimme sei zu hoch, sie gestikuliere zu stark, bringe ihre Botschaften nicht rüber, agiere ungeschickt, sei nicht schlagfertig. Natürlich ist die Kritik nicht frei von sexistischen Untertönen. Aber es schwingt auch etwas mit, das mit Herkunft zu tun hat. Wer im akademischen, weltoffenen Milieu aufwächst, muss sich die "große Welt" und die eigene Rolle darin nicht - so wie das Mädel vom Land - erst erobern. Wenn Hebein sich im Fernsehstudio verkrampft, dann auch deshalb, weil sie den Umgang mit den gültigen Rollen, Codes und Verhaltensweisen nicht in die Wiege gelegt bekam, sondern sich erst aneignen musste. Auch SPÖ-Bürgermeister Ludwig wuchs in einem Gemeindebau in Floridsdorf auf und entstammt - anders als ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel (katholisches Gymnasium, Philosophie-Studium, MBA) oder der Spross Wiener Innenstadt-Unternehmer und FPÖ-Kandidat Dominik Nepp -e her einfachen Verhältnissen.
Neben den Trägern von Slim-Fit-Anzügen, die sich gerne mit Trägern von Slim-Fit-Anzügen umgeben, wirkt die Grüne Hebein oft deplatziert. Welcher Politikerin fühlt sie sich ähnlich? Über die Frage denkt sie länger nach. "Vielleicht der Dohnal?" Die Antwort ist bemerkenswert: Die Ära der SPÖ-Politikerin Johanna Dohnal ging vor einem Vierteljahrhundert zu Ende. Doch sie trifft auch einen Punkt: Wie Hebein stammte Dohnal aus einfachen Verhältnissen, das Gymnasium stand nicht zur Debatte, wie Hebein blieb sie als Politikerin jenen verbunden, die es nicht so gut getroffen hatten. Dohnals Sprechstunden für Frauen am Land sind legendär, aber auch die Gehässigkeit, mit der die schnoddrige Rote und unerbittliche Parteisoldatin in der Öffentlichkeit beurteilt wurde. Kritik entzündete sich nicht nur an ihren Positionen. Oft ging es um ihr Auftreten, ihre vermeintlich unpassende Art und - unausgesprochen - den Unterschichts-Habitus, den die Rote nie ablegte.
Und Hebein? 2017 flogen die Grünen aus dem Parlament. Die Wiener Partei übernahm den Löwenanteil der Schulden, war heillos zerstritten und nach dem Rückzug von Parteichefin und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou führungslos. Selbst wagemutige Grüne hätten nicht darauf gewettet, dass eine widerspenstige Exponentin des linken Flügels ihr nachfolgen würde. Im November 2018 schlug Hebein überraschend David Ellensohn, immerhin Klubobmann mit Wahlkampf-Erfahrung, sowie die Nachwuchshoffnung Peter Kraus aus dem Feld. Noch erstaunter zeigten sich Grüne, als Hebein während der Regierungsverhandlungen im Bund als zähes Gegenüber der ÖVP reüssierte und das Ergebnis hinterher verteidigte. Man kannte sie als Gesinnungsethikerin, der es nur "um die Sache" geht. Die Rolle der Pragmatikerin war neu. "Ich bin selbst überrascht, wie mir der Job taugt",sagt die 53-Jährige inzwischen, "das Mehr an Verantwortung. Mehr zu gestalten, mehr zu ermöglichen."
In den vergangenen Monaten eröffnete sie Dutzende Pop-up-Radwege, coole Straßen und temporäre Begegnungszonen, nicht nur in den Aufmarschgebieten der Bobos innerhalb des Gürtels, wo die grüne Kernklientel lebt. "Klimaschutz ist auch eine soziale Frage", trommelte Hebein beim Austrian World Summit in der Spanischen Hofreitschule, bei der Neugestaltung der Wiener Praterstraße und jeder sich sonst bietenden Gelegenheit. Ob sie nicht in Wahrheit eine Rote sei, werde sie mitunter gefragt. "Ich würde nicht hier sitzen, hätte es den Kreisky, die Gratis-Schulbücher, das Stipendium während der Sozak nicht gegeben", sagt sie dann. Wofür die Sozialdemokratie heute stehe, könne sie nicht mehr einschätzen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Hebein der gleiche Vorwurf trifft. Vor lauter Wassersprenklern sehe sie den großen Wurf nicht mehr, sagen ihre Kritiker. Davon gibt es selbst in den eigenen Reihen nicht wenige.
Die Erwartungen an das Spitzenpersonal der Demokratie sind hoch, und Hebein erfüllt viele davon nicht. Sie sei bereit, dazuzulernen, sagt sie. Jeansjacken und Leggings sind verräumt: "Wenn du arbeitest, musst du eine Arbeitskluft anziehen", habe ihr Vater gesagt. Für eine Vizebürgermeisterin und Grünen-Spitzenkandidatin sind das adrett geschnittene Kleider. Coaching, Medientrainings, Schminktäschchen für TV-Auftritte gehören dazu. Doch die Bereitschaft zur Anpassung kennt Grenzen: Ein Sakko besitze sie noch nicht. Und, so Hebein: "Ich lerne keine Sätze auswendig und beantworte zum Leidwesen meiner Öffentlichkeitsarbeitsgruppe Fragen, weil ich überzeugt bin, dass ich nur mit Glaubwürdigkeit die Grünen voranbringen kann." Deshalb bleibt mitunter keine klare Botschaft hängen.
Der Weg von der Peripherie ins Zentrum führt unweigerlich durch Kränkungen, Einsamkeit, soziale Scham. Für Absolventen einer bilingualen Eliteschule wäre eine Videobotschaft an den US-Präsidenten Donald Trump eine Kleinigkeit, für Hebein, die "nur ein Hauptschulenglisch" vorzuweisen hat, ist es ein anstrengender Akt. Natürlich war sie auch nicht im "Goldfischteich" der Industriellenvereinigung oder einer anderen Kaderschmiede. Ihre Netzwerke reichen von Grünen-Gewerkschaftern, Initiativen "von unten", wie die Armutskonferenz, zu Kontakten in die Polizei und in andere Parteien, die sie sich im Laufe der Zeit aufgebaut hat.
Wer aus einfachen Verhältnissen aufsteigt, wirkt mit seinen Ambitionen neben der Nonchalance der oberen Milieus selten souverän, sondern meist bloß bemüht. Die "wirklich distinguierten Leute sind die, die sich nicht darum kümmern, es zu sein", formulierte der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Das gilt auch im Fernsehstudio. Auf Bezirkstouren ist eine Spitzenkandidatin zu erleben, die sich "wie ein Fisch im Wasser" bewegt. Worte, Gesten, Begegnungen, alles fließt. Im "ZIB 2"-Interview wirkt Hebein mitunter wie eine Kämpferin im Feindesland. Freilich steht dieser Argwohn politisch zweckdienlichen Allianzen im Weg. Hebein traue vor allem engen Weggefährten, delegiere und schlafe zu wenig, beklagen Parteifreunde.
Wie sozial durchlässig muss Politik sein? Als Hebein kurz vor dem Corona-Lockdown im März eine Neue Mittelschule (NMS) besuchte, beeindruckte die Mädchen in der Klasse vor allem, dass die Grüne es "nur mit Hauptschulabschluss und Sozialakademie" bis zur Vizebürgermeisterin gebracht hat. Das Gespräch habe ihr zu denken gegeben. In dem autobiografischen Bestseller "Rückkehr nach Reims" beschreibt der Soziologe Didier Eribon, wie er nach langer Abwesenheit in die Arbeiterstadt seiner Kindheit zurückkommt. Sie ist inzwischen eine Hochburg der extremen Rechten. Eribon kann an sein Aufwachsen nicht mehr anknüpfen. Der Grünen Hebein würde die Rückkehr nach Feistritz wahrscheinlich besser gelingen.