Kinderbetreuung: Eltern kämpfen mit Öffnungszeiten und Schließtagen
Fünf Minuten hätten Daniela Mayer das Leben deutlich erleichtert. Doch der örtliche Kindergarten war für Ausnahmen nicht zu haben. Aufsperrzeit: 7:00 Uhr. Punkt. Und so hetzte Mama Mayer jeden Morgen mit ihrer kleinen Tochter zum Kindergarten. Für Abschiedsrituale blieb keine Zeit, die 34-Jährige musste zum Bahnhof rasen und die Treppen hinauf zum Bahnsteig hecheln. Die Übung wollte nicht immer gelingen: Mehrmals pro Woche fuhr ihr der Zug knapp davon, die Alleinerzieherin aus dem Burgenland kam zu spät zur Arbeit nach Wien. „Das ist sich alles hinten und vorn nicht mehr ausgegangen“, sagt Mayer am Küchentisch ihrer Genossenschaftswohnung in Weiden am Neusiedler See. Der Spagat zwischen Job und Kind wurde Mayer irgendwann zu viel. Die bittere Bilanz: Burnout, Kündigung und jede Menge Frust.
Mayer hat es als Alleinerzieherin besonders schwer. Doch auch Paare kämpfen mit dem mangelnden Angebot an Kinderbetreuung. Mit Ausnahme von Wien fehlt es in allen Bundesländern an berufsfreundlichen Öffnungszeiten, an Kleinkindergruppen und an Ferienbetreuung. Privatinitiativen und Unternehmen mit Sozialbewusstsein springen mit unterschiedlichen Konzepten ein – kirchliche Organisationen bieten Ersatzomas an, Betriebe richten in Eigenregie Sommerkindergärten ein. Ganz abfangen können sie die Lücken im System allerdings nicht. Und die Regierung will nun Mittel für den Ausbau kürzen.
Eine der Schwierigkeiten: die vielen Schließtage. 21 Tage sind Kindergärten im Österreichschnitt pro Jahr geschlossen, in Tirol sind es gar 34 Tage – das übersteigt bei Weitem jeden Jahresurlaub von Berufstätigen. Dazu kommt: Die Öffnungszeiten sind alles andere als berufsfreundlich. In Vorarlberg haben 55,2 Prozent der Einrichtungen nur bis 15:30 Uhr geöffnet, in Tirol sind es 49,7 Prozent und in Oberösterreich 43,8 Prozent. Zwölf Stunden oder mehr Betreuung pro Tag bieten laut „Kindertagesheimstatistik“ der Statistik Austria in ganz Österreich nur 965 der insgesamt 9297 Kindergärten, Krippen und Horte. Auf einen zwölfstündigen Arbeitstag der Eltern wäre also nur jede zehnte Betreuungseinrichtung vorbereitet, die meisten davon in Wien (857). Im Burgenland hat keine einzige Einrichtung mehr als zwölf Stunden offen, in Vorarlberg sind es drei. Den Anforderungen am Arbeitsplatz entspricht das nicht.
An der Wand neben dem Küchentisch hängt ein Bild von Daniela Mayers Tochter. Der Vierjährigen ordnet die Mutter ihr Leben unter. Je mehr sie von Tagesmüttern erzählt, die ihr wenige Tage vor Betreuungsbeginn abgesagt haben, von übervollen Kinderkrippen und von der vierwöchigen Sommerpause des Kindergartens, umso ärgerlicher wird sie. Der Kindsvater zeigte in den vergangenen Jahren wenig Initiative – und die Großeltern sind selbst berufstätig. Der Vollzeitjob in Wien endete für Mayer nach einem Dreivierteljahr in einer psychischen Krise. Nach dem Krankenstand kündigte sie, um sich nach einem familienverträglicheren Job umzusehen. „Die Arbeitsmarkt- service-Betreuerin will von mir, dass ich von 8 bis 19 Uhr für einen potenziellen Arbeitgeber verfügbar bin. Ich soll Kinderbetreuung organisieren – so lange hat der Kindergarten bei uns aber nicht offen“, klagt die Burgenländerin, die sich private Betreuung nicht leisten kann. „Zahlt’s die Betreuung dann ihr?“, fauchte Mayer die AMS-Mitarbeiterin unlängst an.
Aber auch viele Kindergärten und Horte machen in den Ferien für mehrere Wochen dicht.
Viele Alleinerziehende, meist sind es Frauen, kämpfen auf dem Land mit ähnlichen Sorgen. „Gerade für Alleinerziehende ist gut ausgebaute Kinderbetreuung ausschlaggebend dafür, dass sie überhaupt einer Erwerbsarbeit nachgehen können“, sagt Jana Zuckerhut von der Plattform für Alleinerziehende. Noch härter sei laut Zuckerhut die Situation für Eltern von Volksschulkindern: „Die haben 14 Wochen Ferien, das muss man einmal abdecken können. Übliche Angebote für Ferienbetreuung kosten 160 Euro aufwärts pro Woche. Alleinerziehende leben zu 40 Prozent an oder unter der Armutsgrenze – das kann sich nicht ausgehen.“
Aber auch viele Kindergärten und Horte machen in den Ferien für mehrere Wochen dicht. Der katholische Familienverband versucht den Mangel an Kinderbetreuung mit Ersatzomas abzufedern. Wer selbst kein familiäres Umfeld hat, kann den Omadienst kontaktieren und bekommt nach Möglichkeit eine ältere Dame mit ausreichend Tagesfreizeit vermittelt. Richtpreis: Zwölf Euro pro Betreuungsstunde. Wem das zu teuer ist, der muss auf den Ausbau öffentlicher Einrichtungen hoffen.
Doch das kostet Geld. Mittel, die viele Kommunen nicht haben – oder nicht aufbringen wollen. 2,5 Milliarden Euro geben Länder und Gemeinden jährlich für Kinderbetreuung aus, 140 Millionen Euro kommen vom Bund als Investitionsanreiz. Die Förderung des Bundes ist an Bedingungen gekoppelt, etwa an den Ausbau des Nachmittagsangebotes. 30 Millionen davon sollen laut Regierungsplänen eingespart werden – damit wird der Ausbau gedrosselt. Dabei wäre er notwendig.
Besonders für unter Dreijährige gibt es zu wenig Plätze. Österreich verpflichtete sich bereits 2002 zum sogenannten Barcelona-Ziel, das eine Betreuungsquote von 33 Prozent in dieser Altersgruppe vorsieht. 16 Jahre später ist man von diesem Ziel immer noch weit entfernt. Das liegt auch am Bevölkerungszuwachs: Zwar stieg die Zahl der Betreuungsplätze für Kleinstkinder seit dem Vorjahr um über 3000. Doch die Zahl der unter Dreijährigen erhöhte sich im selben Zeitraum um 5800 Kinder – die Betreuungsquote erhöhte sich deshalb nur moderat auf 28,6 Prozent. Auf das Barcelona-Ziel fehlen österreichweit gut 12.000 Betreuungsplätze. Das einzige Bundesland, das die Quote übererfüllt, ist Wien mit über 40 Prozent.
Welcher Mensch plant bitte so lange im Voraus?
Das sorgt nicht nur bei Arbeitnehmervertretern für Kopfschütteln. „Ich habe fast 17 Jahre durchgehend Kindergartenkinder gehabt – der Jüngste kommt bald in die Schule. Meiner Beobachtung nach ist es heute noch immer so wie vor 17 Jahren“, sagt die Unternehmerin Gabriele Jüly aus dem Bezirk Bruck an der Leitha. Jüly führt den gleichnamigen Entsorgungsbetrieb, zwei Drittel ihrer 60 Mitarbeiter sind Frauen. Sie versucht, ihnen entgegenzukommen – leicht ist es nicht. Weil der Kindergarten nur bis 16 Uhr offen hat und in den Ferien überhaupt schließt, beschäftigt Jüly ein Kindermädchen, ein Au-Pair-Mädchen, und auch die restliche Familie hilft mit. „Es ist halt immer noch eine Murkserei“, sagt die Unternehmerin, die sich mehr Flexibilität von den Betreuungseinrichtungen wünschen würde: Ihr geht es um längere Öffnungszeiten und um die Möglichkeit, die Kinder im Sommer auch kurzfristig zur Betreuung anzumelden: „Ich muss im Jänner angeben, an welchen Tagen und wie lange ich mein Kind im Sommer betreut haben will. Welcher Mensch plant bitte so lange im Voraus?“
Wie gut das Kind betreut ist, hängt nicht nur davon ab, wo die Familie wohnt: „Das Stadt-Land-Gefälle ist evident. Aber es hängt auch vom Alter des Kindes ab: eine sehr komplexe Matrix, dass man da am richtigen Ort sitzt, das Kind im richtigen Alter hat, damit es betreut wird – auch in den Ferien“, sagt Martina Genser-Medlitsch. Sie kann jahrelange Erfahrung in der Kinderbetreuung vorweisen, aktuell leitet sie beim Hilfswerk die Agenden Kinder, Jugend und Familie. Die Expertin hat Bürgermeister erlebt, die ihr gesagt haben: „Die Frau soll daheim bleiben, solange die Kinder klein sind.“ Es gebe aber auch viele, die sich selbst in Kleingemeinden redlich bemühen. Genser-Medlitsch: „Das Angebot hängt sehr stark vom Einsatz der Akteure vor Ort ab. Weil es österreichweit keine einheitliche Linie gibt.“
Einheitliche Kriterien, was Kinderbetreuung in Österreich leisten soll, fehlen völlig. Das Burgenland schreibt für Kleinkindereinrichtungen nur zwei Quadratmeter pro betreutem Kind vor, die Steiermark dagegen zehn. Auch beim Betreuungsschlüssel herrschen große Unterschiede. Das Hilfswerk wollte in einer Studie herausfinden, wie viel ein Kinderbetreuungsplatz im Schnitt kostet – mehrere Institute lehnten den Auftrag ab. Die Materie war ihnen zu komplex. „Selbst die Förderrichtlinien sind neun Mal unterschiedlich“, sagt Genser-Medlitsch, die stellvertretend für die privaten Träger eine Losung ausgibt: „Alle Eltern zahlen die gleichen Steuern, also sollten sie auch die gleichen Leistungen erhalten.“
Wiesen, Felder, alte Bauernhäuser und ein rostiger, roter Traktor prägen das Ortsbild von Sprögnitz im niederösterreichischen Waldviertel. Inmitten des bäuerlichen Idylls tollen auf der Spielwiese des Kindergartens „Sonnenscheinchen“ in der Vorwoche ein Dutzend Kinder umher. Die Hauptattraktion ist die riesige Hängematte, sie bietet mehreren Kindern problemlos Platz. Die Aufmerksamkeit eines Mädchens gilt dem Wasserbrunnen in der ausgedehnten Sandkistenlandschaft.
Weil es im ganzen Bezirk an öffentlichen Betreuungseinrichten fehlt, hat das Unternehmen Sonnentor, das Kräutermischungen kreiert und vertreibt, einen eigenwilligen Weg gewählt: Vor vier Jahren startete das „Sonnenscheinchen“ als Betriebskindergarten – auch in den Sommermonaten. Betreut werden hier Kinder ab einem Jahr. Auch Eltern von Erst- und Zweitklässlern können das Angebot im Sommer in Anspruch nehmen.
Manuela Raidl-Zeller ermöglichte das „Sonnenscheinchen“ ein Jahr nach der Geburt ihres Sonnens den raschen Wiedereinstieg in den Job. Die Prokuristin verantwortet die strategische Ausrichtung bei Sonnentor – ihr sechsjähriger Sohn besucht den Kindergarten von Beginn an. „Mit einem Landeskindergarten wäre das nicht gegangen, die nehmen die Kinder erst ab zweieinhalb. Und als ich in der Region nach Kinderkrippen mit Nachmittagsbetreuung gesucht habe, war die Erkenntnis: Das ist nicht möglich.“ Raidl-Zeller ärgert sich über den fehlenden politischen Willen, das Angebot zu verbessern: „Da wird argumentiert, es gebe keinen Bedarf, also brauchen wir es nicht. Ich kenne allerdings viele Frauen, die auch wieder arbeiten wollen – und wo das einfach nicht klappt.“
Das öffentliche Angebot an Kinderbetreuung zählt im Waldviertel zu den schlechtesten.
Landeskindergärten haben in Niederösterreich in den Sommermonaten drei Wochen lang geschlossen, der Betriebskindergarten von Sonnentor dagegen nur eine. Das Angebot hat sich herumgesprochen: Jedes Jahr melden sich mehr Eltern, die selbst nicht bei Sonnentor arbeiten, aber um Betreuung ihrer Kinder anfragen. Platz hat der Betriebskindergarten allerdings nur für vier externe Kinder, die Mehrzahl der Anfragen muss das Unternehmen zurückweisen.
Berufstätigen Eltern im Bezirk Zwettl bleibt nur, auf private Betreuung auszuweichen. Oder ein Elternteil bleibt daheim – im überwiegenden Fall Frauen. Denn das öffentliche Angebot an Kinderbetreuung zählt im Waldviertel zu den schlechtesten: Das zeigt der Vereinbarkeitsindikator für Familie und Beruf, kurz VIF, den die Arbeiterkammer in Ermangelung einheitlicher Standards entwickelt hat. Damit messen die Kammerexperten, ob Kindereinrichtungen mit Vollzeitbeschäftigung der Eltern vereinbar sind. Die Kriterien erfüllt eine Einrichtung durch qualifiziertes Personal, 47 geöffnete Wochen im Kindergartenjahr, mindestens 45 Betreuungsstunden pro Woche, Betreuung von Montag bis Freitag, mindestens neuneinhalb Öffnungsstunden an vier Tagen wöchentlich und mit Angebot von Mittagessen. Im Bezirk Zwettl in Niederösterreich erfüllten im Jahr 2015 satte 75,6 Prozent der Kinderbetreuungseinrichtungen drei oder mehr der sechs Kriterien nicht. Ein negativer Spitzenwert.
Das „Sonnenscheinchen“ ist damit eine einsame Insel in einem Meer aus Mangel. Für Sonnentor-Prokurisitn Raidl-Zeller ist das Angebot „ein Segen“. Eigentlich hat der Kindergarten nur bis 17 Uhr geöffnet. Doch wenn die Führungskraft einmal länger braucht, kann sie die Betreuerin anrufen, und ihr Sohn ist versorgt.
Auf fünf Minuten kommt es hier nicht an.