Kinderbetreuung: Erreicht Österreich wirklich die EU-Ziele?
Es sind Fragen, über die sich werdende Eltern den Kopf zerbrechen: Ab wann ist ein Betreuungsplatz für den Nachwuchs möglich? Wie weit ist er vom Wohnort weg? Und welche Öffnungszeiten hat diese Einrichtung dann? Die gute Nachricht lautet: Drei von fünf Kinderbetreuungsplätzen hierzulande sind mit einem Vollzeitjob der Eltern vereinbar. Auch erreicht Österreich erstmals seit dem Jahr 2002 die sogenannten Barcelona-Ziele. Die Richtung stimmt also, oder?
Die Barcelona-Ziele ...
... sind eine Empfehlung der EU-Kommission aus 2002, dass 45 Prozent der unter-dreijährigen und 96 Prozent der drei- bis fünfjährigen Kinder in institutioneller Betreuung sein sollen. Zwischen 2017 und 2021 war die Kinderbetreuungsquote in Österreich mit 22,1 Prozent noch immer zu niedrig. Das ursprüngliche Ziel von 33 Prozent war bei weitem nicht erfüllt. Somit gab die EU-Kommission im Vorjahr ein niedrigeres Ziel von 31,9 Prozent vor. Auf profil-Nachfrage stellt das Büro der Familienministerin klar, vom alten Ziel von 33 Prozent auszugehen. Das ist auch naheliegend, da Österreich dieses erstmals erfüllen kann. Bei Nichterfüllung gibt es jedoch keine Sanktionen.
Ob jedes Kind in Österreich einen Kindergartenplatz bekommt, beschäftigt Österreich schon lange. Als die Barcelona-Ziele eingeführt wurden, besuchte nicht einmal jedes zehnte Kind unter drei Jahren eine Kinderbetreuungsstätte. Inzwischen sind mehr als 60 Prozent aller Zweijährigen in einem Kindertagesheim – das ist ein wichtiger Fortschritt, zumal der Karenzanspruch vor dem zweiten Geburtstag endet.
„Wir reden seit Jahren von den Barcelona-Zielen. Mittlerweile haben wir sie übererfüllt“, sagt Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) am Dienstag im Bundeskanzleramt. Doch die durchaus erfreuliche Zwischenbilanz hat einige Haken.
Erstens ist damit Österreichs altes Ziel gemeint, wonach 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine Erziehungsstätte besuchen sollen. Das bestätigt das Büro der Familienministerin. Zählt man Kinder dazu, die bei Tageseltern betreut werden, kommt man auf 34,9 Prozent. Die Besuchsquote ohne Tageseltern liegt bei 32,8 Prozent. Allerdings gilt in der Europäischen Union inzwischen eine höhere Quote von 45 Prozent. Österreich erfüllt hier lediglich eine Ausnahmebedingung.
Zweitens schreitet der Ausbau der Kindergartenplätze je nach Region unterschiedlich stark voran. Während Wien seit jeher Spitzenreiter bei den Betreuungsplätzen der Kleinsten ist, holen Oberösterreich und die Steiermark nur langsam auf, wie eine Sonderauswertung der Statistik Austria bis ins Jahr 2009 zurück zeigt.
Zwar gilt das Barcelona-Ziel freilich für ganz Österreich. Doch die Tendenz, dass Kinder in Großstädten eher einen Betreuungsplatz bekommen, ist naheliegend. In den Regionen ist das nicht selbstverständlich. Für die Gemeinden bedeutet der Ausbau hohe Kosten, und, weil die Kinderbetreuung Ländersache ist, gelten neun verschiedene Qualitätsstandards für Pädagog:innen. Nimmt man Wien gar aus, unterschreitet die Besuchsquote der Null- bis Zweijährigen mit nur 28,9 Prozent bei weitem alle Ziele.
Derzeit werden insgesamt 332.000 Kinder in rund 9000 Einrichtungen betreut. Auch für Kinder, deren Eltern Vollzeit arbeiten, gibt es inzwischen mehr Plätze. Der aktuelle Kinderbetreuungsmonitor der Statistik Austria im Auftrag des Familienministeriums verzeichnet, dass 60 Prozent der Kinder in einer Einrichtung untergebracht sind, die mit dem Vollzeitjob der Eltern vereinbar ist. Das ist auch das Ziel der ÖVP.
Wiedereinstieg für Mütter ins Berufsleben
Die Volkspartei warnt vor Altersarmut nach langer Teilzeitarbeit. Dass es dafür die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie bedarf, da sind sich Politiker:innen und Wirtschaftsforscher:innen einig. Die dafür notwendigen Betreuungsplätze soll es, wie von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im ORF-Sommergespräch im Vorjahr angekündigt, bis Ende 2030 auch geben. 4,5 Milliarden Euro hat Nehammer damals versprochen und sich auf eine Analyse des Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria bezogen. 200 Millionen Euro pro Jahr bis 2027 wurden dafür bereits im Sommer 2022 beschlossen. Weitere 500 Millionen Euro jährlich bis 2030 gibt es für die Bundesländer und Gemeinden aus dem im Dezember 2023 beschlossenen Finanzausgleich. Sie sollen den flächendeckenden Ausbau in den kommenden sechs Jahren sicherstellen.
Die Finanzierung ist trotz Zusatzmittel aus dem Finanzausgleich über den Zukunftsfonds nicht nachhaltig abgesichert.
Viel Geld davon wird auch nach Niederösterreich fließen. Denn dort hat die niederösterreichische Volkspartei vor der Landtagswahl 2023 versprochen, dass es ab dem kommenden Kindergartenjahr Betreuungsplätze für all jene Zweijährige geben soll, deren Eltern Bedarf anmelden. Das Land unterstütze die Gemeinden bei der Umsetzung, bestätigt der SPÖ-Landtagsabgeordnete Rene Zonschits. Allerdings: „Das Problem der Gemeinden wird der Betrieb der Kindergärten sein, schwer zu findendes Personal und die Personalkosten machen es uns Gemeinden sehr schwer, in Zukunft noch Geld für andere Projekte zu haben“, sagt der Vizebürgermeister von Angern an der March (Bezirk Gänserndorf) zu profil.
Zonschitz ist mit dieser Befürchtung nicht allein. Auch Karoline Mitterer vom Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ) äußert aufgrund der finanziellen Belastung für Gemeinden Bedenken: „Die Verbesserung der Angebote im Kinderbetreuungsbereich bedeutet für die Gemeinden eine hohe finanzielle Belastung, deren Finanzierung trotz Zusatzmittel aus dem Finanzausgleich über den Zukunftsfonds nicht nachhaltig abgesichert ist“, sagt Mitterer.
Denn österreichweit stieg der laufende Zuschuss, den Gemeinden zum Ausbau der Elementarpädagogik leisten, auf zuletzt jährlich knapp acht Prozent. Demgegenüber würden die Mittel aus dem Finanzausgleich in den nächsten Jahren hingegen um nur durchschnittlich 3,4 Prozent pro Jahr steigen. „Da die Gemeinden gleichzeitig mit hohen Ausgabensteigerungen im Bereich Gesundheit und Soziales konfrontiert sind, verbleibt ihnen immer weniger Geld, was die Finanzierung der Elementarpädagogik immer schwieriger macht“, so die Expertin für öffentliche Finanzen.
Personalsuche als größte Baustelle
Doch selbst wenn das Geld für die Infrastruktur und den laufenden Betrieb vorhanden ist - damit allein ist der Ausbau der Kinderbetreuung noch nicht geschafft. „In den Kindergärten braucht es dringend mehr Personal“, bestätigt Sonja Dörfler-Bolt vom Österreichischen Institut für Familienforschung an der Uni Wien.
Die Familienforscherin kritisiert die großen Qualitätsunterschiede in den Bundesländern. Kindergärtnerinnen arbeiten je nach Wohnort mit unterschiedlichen Gruppengrößen für unterschiedlich viel Gehalt. Nach und nach bessern die Bundesländer nach. Neulich einigten sich Oberösterreich, die Steiermark und Kärnten auf höhere Einstiegsgehälter für Elementarpädagoginnen sowie mehr Urlaub für Assistenzkräfte. „Das sind wichtige Maßnahmen“, so Dörfler-Bolt. Bundesweit gebe es allerdings noch „Luft nach oben“.
Denn der Republik geht das Personal aus. Laut einer Studie des Instituts für Berufsbildungsforschung (öibf) im Auftrag des Bildungsministeriums aus 2022 könnten bis 2030 mindestens 13.700 Fachkräfte fehlen – wenn der Betreuungsschlüssel sich nicht verbessert. Wie groß der Personalmangel bei der Kinderbetreuung ist, konnte die Ministerin bei der dieswöchigen Pressekonferenz nicht sagen. Sie betonte jedoch, dass die Regierung „erstmalig auch die Personalkosten der Pädagoginnen, Pädagogen und Assistenzkräfte“ unterstütze. Zudem sieht Raab weiteren Raum für Maßnahmen zur Entbürokratisierung notwendig, damit sich die Pädagoginnen „auf ihre Tätigkeit konzentrieren“ können.
Laut Dörfler-Bolt bräuchte es vor allem mehr Anreize und Aufstiegsmöglichkeiten für Pädagoginnen und Assistentinnen. Momentan zeichne sich eine Abwärtsspirale ab: „Der Personalmangel wirkt sich auf die Arbeitsbedingungen aus, was wiederum weniger Personal in den Beruf zieht.“
Forderung nach Rechtsanspruch wird lauter
Das erklärte Ziel von Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP) ist aber ohnehin nicht, nur die Barcelona-Ziele zu erreichen. Raab sprach sich im Vorjahr dafür aus, dass es ihr in puncto Kinderbetreuung um „echte Wahlfreiheit“ für Familien gehe.
SPÖ, Neos und Grüne schlagen vor, dass jedes Kind ab dem ersten Geburtstag in Betreuung gehen können soll. Mit einem Rechtsanspruch soll dies gesetzlich verankert werden. Dagegen sträubt sich Raab und will sich vielmehr auf den flächendeckenden Ausbau konzentrieren. Ob Familien dann einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen oder zuhause – etwa von den Großeltern oder auch von Tageseltern – betreut werden, will Raab nicht vorgeben.
Ein Rechtsanspruch würde jedenfalls mehr Tempo bei dem Ausbau der Kinderbetreuung bedeuten, sind sich Expertinnen einig.