Kindergarten-Ausbau in Niederösterreich: Kein Platz für Hunderte Zweijährige
Michael Oberschil ist im Stress. Er telefoniert. „In einer halben Stunde hätte ich noch Zeit“, sagt er zu seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Dann legt er auf. „Tschuldigen S’, wir sind schon voll im Wahlkampf“, sagt Oberschil zu profil, bevor er durch die örtliche Raika-Filiale und die Amtsstube in den Sitzungssaal der Gemeinde Hagenbrunn führt.
Der Sitzungssaal ist so etwas wie das Wohnzimmer von Oberschil, seit zehn Jahren ist er mittlerweile Bürgermeister (ÖVP) der 2400-Einwohner-Gemeinde im Bezirk Korneuburg. Im Gespräch antwortet er überlegt. Aber auch bestimmt. Denn die Kinderbetreuung ist in Hagenbrunn ein Riesenthema. „Wir haben im ersten Moment nicht allen Zweijährigen einen Platz anbieten können“, sagt Oberschil. „Jetzt sind wir einigermaßen im Plan, durch den Bau der neuen Schule kriegen wir in der alten Schule Platz, und ab Februar werden voraussichtlich alle Kinder, die auf einer Warteliste stehen, einen Platz bekommen“, so der Bürgermeister des Weinviertler Ortes.
Viele Eltern kennen das Problem: Nach der Karenz sind die Kinder, je nach Modell, ein bis zwei Jahre alt. Ein Alter, in dem bis zur niederösterreichischen Landtagswahl 2023 nur eines von drei Kindern eine Kinderbetreuungseinrichtung besuchte. Diese Betreuungslücke zu schließen, war das große Versprechen der niederösterreichischen Volkspartei vor der Wahl im Jänner 2023. Etwa indem ab September 2024 schon Zweijährige in Kindergärten aufgenommen werden können. Bewerkstelligen müssen den Ausbau die Gemeinden. Viele von ihnen schlagen nun Alarm.
Wir geben unser Bestes, in dem Wissen, dass das Kartenhaus in absehbarer Zeit zusammenfällt.
profil hat gemeinsam mit dem ORF Niederösterreich bei allen 573 niederösterreichischen Gemeinden nachgefragt, wie der Ausbau läuft und ob wirklich alle Eltern einen Platz für ihre Zweijährigen bekommen haben. So viel vorweg: Nein, haben sie nicht.
Die Rückmeldungen der Bürgermeister zeigen: Fast alle nehmen die Offensive ernst. Sie bauen Räumlichkeiten zu und aus, stocken Personal auf. Sie berichten aber auch von Mitarbeiterinnen aus der Amtsstube, die im Krankheitsfall bei der Kinderbetreuung aushelfen. Und mehr als 100 Gemeinden schreiben von einer finanziellen Last, die künftig nicht mehr zu stemmen sei: „Wir geben unser Bestes, in dem Wissen, dass das Kartenhaus in absehbarer Zeit zusammenfällt“, antwortete etwa ein Bürgermeister aus dem Bezirk Gänserndorf.
Einzelfälle? Oder droht das große Versprechen, dass jedes Kind, das einen Betreuungsplatz braucht, diesen auch in Wohnortnähe erhält, zu scheitern? Und steht es wirklich so schlecht um die Finanzen der Gemeinden?
Ein Rückblick: In Maria Taferl neigt sich der Sommer 2022 dem Ende zu. Draußen hat es noch 20 Grad, drinnen ist die Luft zum Schneiden. Das größte Bundesland Österreichs befindet sich im Wahlkampf. Etwas mehr als vier Monate sind es damals noch bis zur Landtagswahl, als die niederösterreichische Volkspartei ihre Eckpfeiler am 7. September 2022 bei einer Arbeitsklausur im Wallfahrtsort einschlägt. Niederösterreich soll „Kinderösterreich“ und zum „Familienösterreich“ werden, sagt Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) damals.
Kleinere Gruppen, die Betreuung im Kindergarten ab dem zweiten Geburtstag ab September 2024 und weniger Schließtage im Sommer. Familien sollen dann selbst entscheiden, ob sie den Nachwuchs lieber zu Hause betreuen oder schneller wieder in den Beruf zurückkehren wollen. 750 Millionen Euro sind für die Kinderbetreuungsoffensive bis 2027 budgetiert.
Niederösterreich soll „Familienösterreich“ werden
Mit der Betreuung im Kindergarten ab dem zweiten Lebensjahr, kleineren Gruppen und weniger Schließtagen im Sommer möchte Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) Niederösterreich zum „Kinderösterreich“ und „Familienösterreich“ machen.
Ambitionierte Pläne. So ambitioniert, dass der damalige Vorsitzende der SPÖ-Niederösterreich, Franz Schnabl – er wird nach der Landtagswahl für Sven Hergovich Platz machen – darin das SPÖ-Kinderprogramm in großen Teilen umgesetzt sieht. Einzig der Rechtsanspruch fehlt der SPÖ damals, ebenso wie den Grünen. Die FPÖ, mit ihr wird die Volkspartei nach der Landtagswahl regieren, ortet Wahlkampfgeplänkel. In Salzburg, wo wenig später ebenfalls Schwarz-Blau regiert, propagieren die Freiheitlichen ein traditionelles Modell. Die Betreuung soll vor allem die Familie schultern, allen voran Mamas und Großmütter.
Beschlossen wurden die Grundpfeiler der Betreuungsoffensive schließlich noch vor der Wahl, im November 2022. Eine weitere Gesetzesänderung, um den dafür notwendigen Personalbedarf zu decken, folgte nach der Landtagswahl, im April 2023.
Mehr als 200 Kinder abgewiesen
Zurück nach Hagenbrunn. Der Weinort ist längst nicht die einzige Kommune, die Eltern von zwölf Zweijährigen im September 2024 vertrösten musste. Mindestens 217 Kinder im Alter von zwei Jahren haben niederösterreichweit keinen Platz in ihren jeweiligen Gemeinde bekommen. Allein 143 Kinder davon entfallen auf die Stadt Groß-Enzersdorf und die Landeshauptstadt St. Pölten. Die restlichen 74 verteilen sich auf Gemeinden aller Größen quer durch das Bundesland. Einige der betroffenen Gemeinden haben die Zahlen nur unter der Voraussetzung herausgerückt, dass sie namentlich nicht erwähnt werden. Vor der Gemeinderatswahl Ende Jänner will kaum ein Ortschef öffentlich zugeben, dass Kinder abgelehnt werden mussten. Die tatsächliche Zahl der abgewiesenen Kleinkinder könnte noch deutlich höher sein. Denn 330 der 573 Gemeinden ließen die Anfrage von profil und ORF unbeantwortet.
Dass Kinder keinen Platz bekommen haben, liege auch an den veränderten Gruppengrößen, heißt es beispielswiese aus der Landeshauptstadt: Aufgrund der Änderung der gesetzlichen Höchstzahlen hätte die Stadt St. Pölten ab September 2024 die Zahl der Kindergartenplätze um 180 reduzieren müssen, sagt ein Sprecher auf Nachfrage. Auch in Groß-Enzersdorf machte man die veränderten Gruppengrößen als Grund für die Abweisungen aus.
In einer Kindergartengruppe dürfen demnach maximal 22 Kinder sein. Befindet sich darin ein Kind unter drei Jahren, reduziert sich die Gruppengröße auf 20 Kinder. Bei zwei bis vier unter Dreijährigen sind es maximal 18 und bei mehr als fünf Zwei- bis Drei-Jährigen dürfen sich maximal 17 Kinder in der Gruppe befinden – und es braucht eine zusätzliche Betreuungskraft. Anforderungen, die die Planung für Gemeinden schwierig machen.
Der Bund und das Land machen bei der Neuerrichtung von Gruppen Anschubfinanzierungen, die sind erfreulich. Beim laufenden Betrieb ist dann aber Schluss mit lustig, da bleiben wir auf einem Großteil der Kosten sitzen.
Auch Michael Strasser (SPÖ), Bürgermeister der Gemeinde Weinburg, kann davon ein Lied singen. Im Gespräch mit profil zählt er die Liste der Kinder in seiner Gemeinde durch. 13 Kinder kamen im Vorjahr auf die Welt, 16 Kinder wurden 2023 geboren. „So können wir schon relativ genau sagen, wie viel Bedarf wir in zwei und in drei Jahren haben werden, und das versuchen wir auch umzusetzen“, sagt Strasser.
Dass die Gemeinden von den ersten Ansagen bis zur Umsetzung kaum Zeit hatten, macht es nicht einfacher: „Das war ganz, ganz kurzfristig. Ich kann mich erinnern, dass kurz vor Landtagswahl die ersten Versprechen kommuniziert wurden, was alles umgesetzt werden soll. Aber wir als Gemeinde haben darüber eigentlich überhaupt keine Informationen gehabt“, sagt der Ortschef. Ein Aspekt, den auch zahlreiche andere Bürgermeister kritisieren.
Ausbau in der Praxis
Laut Michael Strasser (SPÖ), Bürgermeister der Gemeinde Weinburg, hatten die Gemeinden kaum Zeit zu reagieren. Mit den Geldern der Betreuungsoffensive konnte die Gemeinde im Bezirk St. Pölten-Land schließlich eine neue Tagesbetreuungseinrichtung errichten.
„Im Endeffekt beginnt das mit der Raumbedarfserhebung, bei der das Land Niederösterreich prüft, ob überhaupt Bedarf für einen Ausbau besteht. Und erst wenn man dann eine Zusage hat, dass ein Ausbau förderfähig ist, dann werden auch die Fördermittel freigegeben“, sagt Strasser. Durchaus sinnvoll, meint er, denn so erfährt man im Vorhinein, welche Kosten gefördert werden und welche nicht. Im Schnitt erhalten Gemeinden etwa die Hälfte der Kosten ersetzt. In Weinburg konnte dadurch etwa der Bau einer neuen Tagesbetreuungseinrichtung – Krippen oder altersgemischte Einrichtungen für Kinder ab dem ersten Geburtstag – realisiert werden.
Das pädagogische Personal wird vom Land Niederösterreich gestellt, weitere Betreuerinnen finanzieren die Gemeinden. Viele von ihnen sprechen von einer Verdoppelung der Personalkosten in den Jahren von 2023 bis 2025. „Der Bund und das Land machen bei der Neuerrichtung von Gruppen Anschubfinanzierungen, die sind erfreulich. Beim laufenden Betrieb ist dann aber Schluss mit lustig, da bleiben wir auf einem Großteil der Kosten sitzen“, sagt auch der Hagenbrunner Ortschef Oberschil (ÖVP). „Die nun vom Land Niederösterreich eingeführten Personalkostenzuschüsse helfen zwar. Es fragt sich aber, wie lange diese in Zukunft gewährt werden“, schreibt etwa Stefan Löffler (ÖVP), Bürgermeister der Gemeinde Gedersdorf.
In Einzelfällen setzten wir sogar Mitarbeiterinnen aus der Amtsstube im Kindergarten ein, um die Betreuung der Kleinsten sicherzustellen.
Die Gemeinden stehen aber nicht nur aufgrund der Kosten vor Herausforderungen, sondern auch wegen der angespannten Personalsituation. Nicht nur die Gemeinden konkurrieren miteinander, Niederösterreich rekrutiert auch verstärkt in der Bundeshauptstadt Wien. „Jenen, die von Wien nach Niederösterreich wechseln, werden zusätzliche Urlaubstage angeboten und mehr Dienstjahre angerechnet“, sagte Manfred Obermüller von der Gewerkschaft younion bereits im November zu profil. Ausreichend scheinen diese Anstrengungen aber nicht zu sein: Mehr als ein Viertel aller Gemeinden, deren Antworten profil und ORF vorliegen, gaben an, personell an die Grenzen zu stoßen. „Wir organisieren die Betreuung so gut wie möglich. Doch in manchen Situationen gestaltet sich das sehr schwierig. In Einzelfällen setzten wir sogar Mitarbeiterinnen aus der Amtsstube im Kindergarten ein, um die Betreuung der Kleinsten sicherzustellen“, schilderte eine Bürgermeisterin einer Gemeinde aus dem Bezirk Neunkirchen.
Gemeinden geht das Geld aus
Mit dem Ausbau der Kinderbetreuung stehen viele Gemeinden also vor folgendem Problem: „Es ist für die Gemeinde wesentlich, ein entsprechendes Kinderbetreuungsangebot zu haben, denn das ist letztlich entscheidend, wo sich junge Familien ansiedeln“, heißt es aus einer Gemeinde aus dem Bezirk Melk. Auf der anderen Seite bindet das Projekt Kleinkindbetreuung Mittel, die bei anderen Vorhaben fehlen. Etwa beim Neubau von Gemeindewohnungen, der Instandhaltung von Straßen, bei der Seniorenbetreuung oder auch bei der Finanzierung von Stützkräften für Menschen mit Behinderungen, wie viele Gemeinden auf profil- und ORF-Nachfrage ausführen.
„Wenn die freien Finanzmittel zur Neige gehen, wie es auch bei uns gerade der Fall ist, dann werden wir uns damit beschäftigen müssen, welche freiwilligen Leistungen (Subventionen an Vereine etc.) zukünftig gekürzt oder eingestellt werden“, so der Gedersdorfer Ortschef Löffler. Ein noch viel düsteres Bild zeichnen der Städtebund und das Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ).
Denn laut einer Prognose des KDZ könnte sich die finanzielle Situation bis zum Jahr 2028 zuspitzen. Setzt eine künftige Bundesregierung hier keine Gegenmaßnahmen, dann würden jene Mittel, die den Kommunen nach Deckung des laufenden Betriebs für Investitionen zur Verfügung stehen, bis 2028 auf unter fünf Prozent sinken. In drei Jahren hätte dann beinahe jede zweite Gemeinde in Österreich mehr Ausgaben als Einnahmen.
Das Büro der zuständigen Landesrätin Christiane Teschl-Hofmeister (ÖVP) zeigt sich mit dem Ausbau zufrieden. Seit dem Start der Offensive habe es bereits Förderzusagen in der Höhe von 260 Millionen Euro für 442 Kinderbetreuungsgruppen gegeben. Die Frage, bis wann wirklich alle Kinder einen Platz bekommen, ließ ein Sprecher der Landesrätin unbeantwortet. Für zusätzliche Gelder möchte man sich in den Verhandlungen des nächsten Finanzausgleichs (Herbst 2028; Anm.) einsetzen. Bestehende Förderungen des Landes, wie etwa die Übernahme von Personalkosten, würden „über den Zeitraum von 2027 und über die genannte Investitionssumme von 750 Millionen Euro hinaus“ weiterlaufen, heißt es aus dem Büro von Teschl-Hofmeister.
Wann wirklich alle Kinder einen Platz bekommen, deren Eltern dies wollen, bleibt also offen. Es wird auch davon abhängen, ob den Gemeinden davor nicht das Geld ausgeht.
Mitarbeit: Elena Crisan