Klassenlotterie: Warum die Bildung unserer Kinder so ungerecht ist
Dieser Artikel erschien im profil Nr. 50 / 2020 vom 06.12.2020.
Es musste schnell gehen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden vor zwei Wochen Online-Stundenpläne entworfen, Nachhilfestunden und ein Betreuungsdienst in der Schule organisiert. Auf die letzten versprochenen Laptops warten sie noch. Der zweite Lockdown. Jetzt weiß man mehr. "Die Kinder haben es schwer", sagt Klaus Tasch, Direktor einer 800-Kinder-Schule am Stadtrand von Graz, umgeben von Einfamilienhäusern, Gewerbeflächen und einem Autobahnzubringer. "Sie leiden am vernunftgesteuerten Umgang mit der Krise; ihnen fehlen die Freunde und das, was an normalen Tagen in einem Klassenzimmer eben so passiert." Tasch zögert einen Augenblick, aber dann sagt er: "Der Zauber des Augenblicks geht fast zur Gänze verloren." Das Kognitive könne man gut auslagern ins Distance Learning, doch Schule sei mehr. Unterrichten sei intuitiv, das meiste passiere ungeplant. Das mache es menschlich. Jetzt habe man 30 Kinder am Bildschirm vor sich, ein paar vielleicht gar nicht.
Man sieht, an welchem Tisch ein Kind sitzt, ob es eng ist, man hört ein Baby schreien, im Hintergrund den Fernseher laufen oder rotes Herbstlaub vom Garten hereinleuchten. Das macht den Unterschied. Corona - das bestätigen Lehrerinnen und Lehrer - macht das System Schule noch ungerechter, als es ohnehin schon ist. Die Lauten und Selbstbewussten setzen sich durch, die Leisen und Scheuen verstummen.
Vor zwei Wochen, am 17. November, stellten Österreichs Schulen auf Distanzunterricht um (die Oberstufen waren schon davor im Heimunterricht). Der Bildungsminister, die Wirtschaftskammer, Bildungsexperten, Epidemiologen und Elternverbände hatten sich zum Teil heftig gegen diesen Schritt gewehrt, der Kanzler setzte sich schließlich durch. Die Bedenken fußen auf den Erfahrungen des ersten Lockdowns vom Frühjahr. In dieser Zeit waren die hartnäckigen Mängel des heimischen Systems zutage getreten, allen voran die "Abhängigkeit der Schulleistungen von der Unterstützung durch die Eltern und von deren sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital", bilanziert Johann Bacher, Bildungssoziologe an der Johannes Kepler Universität Linz. Auch wenn es für genaue Aussagen noch zu früh sei - so viel steht für Bacher bereits fest: "Ungleichheiten verstärken sich. Vor allem bei jüngeren Kindern, die auf elterliche Hilfe noch völlig angewiesen sind."
Das Institut für Höhere Studien fragte 2500 Lehrkräfte, wie sie mit den Schulschließungen zurechtkamen. Fazit: zwölf Prozent der Kinder waren nur schwer oder gar nicht erreichbar; in der bereits vor der Corona-Krise als benachteiligt wahrgenommenen Gruppe riss zu jedem dritten Schüler, jeder dritten Schülerin der Kontakt fast völlig ab. Laut Aufzeichnungen der Bildungsdirektionen waren allerdings nur rund sieben Prozent der Kinder quasi abgemeldet. Eltern waren während des Lockdowns doppelt und dreifach gefordert, nicht selten verzweifelt. In einem Viertel der Haushalte mangelte es laut Austrian Corona-Panel an der technischen Ausstattung für Distance Learning (bei neun Prozent zur Gänze, 17 Prozent teilweise); fast 30 Prozent der Befragten mit schulpflichtigen Kindern gaben an, keinen oder zu wenig Platz für Schulaufgaben zu haben. Wenig überraschend sind Geringverdiener-Haushalte und Eltern mit niedriger Bildung besonders betroffen.
Unterrichtsminister Heinz Faßmann gibt sich im profil-Gespräch weiterhin als vehementer Kämpfer gegen geschlossene Bildungsstätten. Das böse L-Wort (Lockdown) will er nicht einmal in den Mund nehmen: "Wir haben dieses Mal die Schulen bewusst offen gelassen, nicht nur zu Betreuungszwecken, sondern für alle, die zu Hause keine förderliche Lernumgebung haben." In den Volksschulen sind derzeit 25 Prozent der Kinder anwesend, in den AHS-Unterstufen und in den Mittelschulen weniger als zehn Prozent. Die Umstellung auf Distance Learning habe dieses Mal "deutlich besser funktioniert". Man habe über den Sommer ein Portal "Digitale Schule" programmiert und die "Eduthek" für digitale Unterrichtsmaterialien sowie Fort-und Weiterbildung neu aufgesetzt. Das Gros der österreichweit 123.000 Lehrerinnen und Lehrer trage alle Maßnahmen mit. "Je schneller wir in die schulische Normalität zurückkommen, desto besser", so Faßman.
Aber der Minister weiß auch um das Problem, dass der soziale Status der Eltern in Österreich besonders stark auf die schulischen Leistungen der Kinder durchschlägt. "Soziale Benachteiligungen auszugleichen ist eine staatliche Aufgabe", sagt Faßmann. Ein "Back to normal" werde deshalb mit einem zielgerichteten Förderunterricht für jene, die zurückgefallen sind, einhergehen - eine Botschaft, die auch an den Finanzminister geht: "Da werden wir auch mehr Geld in die Hand nehmen müssen."
Die Grazer "Klusemann" wird bis zum 14. Lebensjahr als Gesamtschule geführt, die in der Oberstufe in ein Gymnasium übergeht. Seit ein paar Jahren verpflichtet sich die Schulleitung zur breiten gesellschaftlichen Durchmischung. "Unsere Schule soll nicht die Verlängerung der Kindheit für Bürgerkinder sein", sagt Direktor Tasch, wobei er Siegfried Bernfeld, einen Pionier der Chancengleichheit für die ärmeren Schichten, zitiert. So werden in jedem Jahrgang 20 Prozent an Kindern aufgenommen, die in der Volksschule nach landläufiger Meinung versagt haben: Kinder mit Dreiern und Vierern im Zeugnis. Oft, doch nicht immer, sind solche Noten ein Indiz für schwierige soziale Verhältnisse, überforderte Eltern, Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird. Es gibt auch Wohlstandsverwahrlosung und Gewalterfahrungen in besseren Kreisen. Und manche Kinder brauchen einfach länger und starten später durch. Die Bemühungen der Schule lohnen sich. 50 Prozent eines Jahrgangs bleiben nach der 4. Schulstufe auf der "Klusemann", viele wechseln auf eine berufsbildende höhere Schule, einige machen eine Lehre.
In Österreich besteht ein verfassungsmäßiges Recht, "unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem Hintergrund" ein "höchstmögliches Bildungsniveau" zu erreichen. Auch deshalb wurde im Jahr 2012 vom Bildungsministerium als zentrales Ziel die "Verbesserung der Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit im Bildungswesen" ausgegeben.
Im dazugehörigen Bildungsbericht 2012 erkundeten Michael Bruneforth, Christoph Weber und Johann Bacher, von welchen Faktoren der Bildungserfolg in Österreich - gemessen an erworbenen Abschlüssen und Kompetenzen - abhängt.
Die Ausgangslage: Ein chancengerechtes Schulsystem sei nicht nur im Interesse der Kinder, sondern auch volkswirtschaftlich und demokratiepolitisch erstrebenswert. Eine moderne Wissensgesellschaft könne es sich bei weiter sinkender Geburtenrate nicht leisten, auf die vorhandenen Begabungsreserven zu verzichten. Gelänge es, den Anteil der SchulabgängerInnen mit sehr geringen Lesekompetenzen auf null zu senken, würde das österreichische Bruttosozialprodukt jährlich um einen halben Prozentpunkt stärker wachsen - was über die Jahre rasch Milliardenbeträge bedeute. Daneben führen die Autoren politische Argumente ins Treffen: "Befürchtet wird, dass Bildungsarmut die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt gefährden könnte."
Das Fazit der Forscher war ernüchternd: Das Recht auf Bildungsgerechtigkeit ist in Österreich nicht durchgehend verwirklicht. Es gelingt dem System nicht, vorhandene Ungleichheitsfaktoren auszugleichen. Im Gegenteil: "Das österreichische Schulsystem ist durch ein hohes Ausmaß an Chancenungleichheit gekennzeichnet, und der sozialen Herkunft kommt bei der Entstehung dieser Ungleichheiten eine zentrale Rolle zu." Dabei dürfe es für eine Schulkarriere keine Rolle spielen, aus welchem Elternhaus ein Kind stammt. Ein wirklich gerechtes System müsse vor- und außerschulische Unterschiede systematisch ausgleichen.
In der Bildungspolitik aber herrscht das Prinzip Blockade. Die Grundsatzdebatten entwickelten Züge eines von Waffenstillständen unterbrochenen, aber nie beigelegten Glaubenskrieges: Im christlich-konservativen ÖVP-Lager ist eine ideale Schulwelt ohne AHS bis heute fast undenkbar, während sozialdemokratische Bildungspolitikerinnen - beginnend mit dem Reformer Otto Glöckel in den 1920er-Jahren - seit jeher auf "Chancengerechtigkeit für alle" zielen und die Gesamtschule, mittlerweile "gemeinsame Schule für alle 6-bis 14-Jährigen", für den Königsweg halten. Annäherungen über den ideologischen Graben hinweg gab es zwar - etwa ein verpflichtendes Kindergartenjahr, die Schaffung Neuer Mittelschulen (NMS), nunmehr schlicht Mittelschulen, oder die 2007 neu geregelte gemeinsame Ausbildung für Pflichtschullehrer - große Würfe blieben jedoch aus.
Die "Klusemann" ist privilegiert. Sie wurde von Architekten geplant, die eine neue Schule im Sinn hatten; Materialien aus Glas und Stahl, durchscheinend und hoch, mit breiten Gängen, bunten Sitzecken für Schachspiele, Gruppenarbeit oder Rückzug. Ein autistischer Schüler hat seine eigene Lernecke, mit Büchern, Zeichnungen und Bildbänden. Stundenlang saß am vergangenen Mittwoch eine Lehrerin an seiner Seite, und der Junge, der sich oft so aufregt, war ganz ruhig.
"Schule ist nicht gerecht", sagt Gabriele Payer-Zankl, Administratorin und Mathematiklehrerin nüchtern. "Wenn die Eltern keine Unterstützung geben, nicht die Hausübungen durchlesen, das Wissen abprüfen, weil sie nicht mitkönnen, kann es nicht gerecht sein." Um das ein bisschen abzufangen, gibt es in diesen Tagen je einen Nachhilfetag für Mathematik, Englisch und Deutsch für die Unterstufe, Lerngruppen für die Oberstufe. Manche Lehrer und Lehrerinnen arbeiten fast doppelt so viele Stunden wie sonst.
Am vergangenen Mittwoch waren 14 Lehrer und Lehrerinnen im Einsatz. Aus offenen Klassenzimmern: Lachen, Kreischen, Tischerücken. Dann wieder minutenlang Stille. Ein Mathematik-Rätsel, von einem Computer an die Wand geworfen, beschäftigt Kinder der ersten Unterstufe. "Rechne alles im Kopf" steht in großen Buchstaben, fett unterstrichen an der alten grünen Kreidetafel. Mit heiligem Ernst wird versucht, die vorgegebenen Operationen im Kopf zu lösen. Am Ende sollte der Satz: "Ich bin heute super" herauskommen, aber das weiß keiner.
Drei wesentliche Faktoren verringern die Chancen österreichischer Jugendlicher: bildungsferner Hintergrund, niedriger sozioökonomischer Status der Familie und nicht deutsche Alltagssprache. In Familien mit Migrationshintergrund fallen oft mehrere dieser Risikofaktoren zusammen.
Die höchste abgeschlossene Schulbildung von Müttern und Vätern bleibt - etlichen Reformen zum Trotz - die maßgebliche Größe. Sie korreliert sowohl mit den schulischen Leistungen als auch mit den erreichten Abschlüssen. Bildung wird in Österreich in beträchtlichem Ausmaß vererbt.
Im Hinblick auf das Lehrplanziel Lesen, gemessen am Ende der Volksschule, ergibt sich eine beachtliche Spannweite zwischen den Leseleistungen von Kindern, deren Eltern maximal einen Pflichtschulabschluss haben (hier wird das Lehrplanziel nur von 28 Prozent erreicht) und Akademikerkindern (von denen 79 Prozent das Lehrplanziel erreichen). In dieser Schulstufe beträgt der Kompetenzunterschied in Deutsch zwischen Kindern von Eltern mit Matura und Kindern von Eltern mit maximal mittlerem Schulabschluss oder Lehre rund neun Schulmonate. Der formale Lernrückstand beträgt also schon in der vierten Schulstufe fast ein ganzes Schuljahr. Bei Eltern mit höchstens Pflichtschule steigt dieser Wert auf 22 Schulmonate. Auch beim Übergang in die Sekundarstufe I sowie in die Sekundarstufe II stellt der Bildungshintergrund der Eltern die entscheidenden Weichen. Je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto eher besuchen 17-Jährige eine maturaführende Schule (und desto eher eine AHS).Ein Fünftel der Jugendlichen, deren Eltern maximal über Pflichtschulbildung verfügen, sind mit 17 Jahren nicht mehr in Ausbildung oder nach wie vor in einer Pflichtschule. Bei Eltern mit Hochschulabschluss liegt dieser Wert bei nur vier Prozent.
Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang: Über Jahrzehnte hinweg steigt das Bildungsniveau der Bevölkerung deutlich. Im Jahr 1971 haben 57,8 Prozent der Bevölkerung höchstens einen Pflichtschulabschluss, 2,8 Prozent eine akademische Ausbildung. 2018 lag das Verhältnis bei 17,9 Prozent zu 15,8 Prozent. Nur sechs Prozent der Kinder werden heute von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss aufgezogen. In Migrantenhaushalten sind es jedoch 19 Prozent.
"Der Mathematiker ist ein fauler Mensch im Schreiben. Er will im Kopf was können", sagt der Lehrer zu den Eifrigen, die trotz Lockdowns in der Schule sitzen. So nebenbei erkundigt er sich, was zu Hause los sei, welcher arabische Dialekt daheim gesprochen werde. Er bemerkt, dass einem Kind das Papier ausgegangen ist und es sich schwertut, von seinem Nachbarn eines zu erbitten. Er registriert, wer beim Lesen der Computerschrift die Augen zukneift an der Wand. Er hat ein Auge für den Zustand der Federpennale und Arbeitsblätter und ob das Gewand der Kinder der Kälte draußen entspricht. Michael Karacsonyi kann gut mit Kindern. Und doch wird er am 23. Dezember erleichtert seine Pension antreten. In den vergangenen Jahren sei es schwieriger geworden, sagt er. Buben, halbe Kinder noch, ließen sich bisweilen von einer weiblichen Lehrperson nichts sagen. Die Unterschiede in den Grundvoraussetzungen würden immer krasser. Ginge es nach ihm, würde in der Schule viel mehr Theater gespielt, entdeckt, entwickelt und über Werte gesprochen. "Die Kraft ist begrenzt, und ich bemerke, wie ich anfange, in Konflikten hysterisch zu werden", sagt er. Silvia Kappler, 36 Jahre alt, Kind eines bosnischen Gastarbeiters, wird noch Jahrzehnte unterrichten. Im ersten Lockdown begriff sie, dass ihre Berufswahl richtig war. Sie vermisste die Kinder schmerzhaft. Am Bildschirm sah sie, wie Kinder daheim an einem Couchtisch kauern, kaum Platz zum Schreiben haben, völlig alleingelassen. Kappler meint, gerade die nicht privilegierten Kinder müssten in ihrem Alltag oft so selbstständig sein, dass man ihnen selbstständiges Lernen zutrauen könne. Mit fachlicher Hilfe, die jederzeit zugänglich sein müsse, denn Nachhilfestunden könnten sich finanziell knappe Familien nicht leisten. Kapplers Erfahrung mit durchmischten Klassen: Die leistungsstarken Kinder bringen einen Lernspin hinein. Auch das fehlt in Corona-Zeiten.
Rein statistisch hat der Migrationshintergrund - rechnet man andere Risikofaktoren heraus - nur geringe Auswirkungen auf den Bildungserfolg heimischer SchülerInnen. Die Chancen auf den Besuch einer Höheren Schule sind für Kinder angestammter Einheimischer nur geringfügig höher. Dennoch bleibt der Migrationshintergrund an allen Schlüsselstellen ein Faktor. Denn hier häufen sich die Risikofaktoren wie niedriger Bildungs- und sozialer Status der Eltern. Und: Die familiäre Alltagssprache ist natürlich ein zentraler Faktor. Im Jahr 2015 gaben 19 Prozent der im Rahmen der Bildungsstandard-Überprüfung befragten Volksschüler an, Deutsch nicht als Alltagssprache zu gebrauchen. Diese Gruppe befindet sich besonders beim Lesen in einer prekären Lage: 28 Prozent von ihnen können nicht, 35 Prozent nur teilweise sinnerfassend lesen. Bei Schülerinnen und Schülern, die nur Deutsch als Alltagssprache haben, summieren sich beide Werte auf 31 Prozent.
Bei der Betrachtung einzelner Risikogruppen darf aber eines nicht vergessen werden: Die absolute Mehrheit der Bildungsverlierer entspricht nicht dem urbanen Unterschicht-Klischee. Im Kompetenzbereich Lesen hat von den 10.050 Schülerinnen und Schülern, welche die Bildungsstandards laut Bildungsbericht 2018 nicht erreicht haben, mehr als jedes zweite Kind Eltern mit abgeschlossener Berufsbildung (Lehre oder BMS), 59 Prozent haben keinen Migrationshintergrund und 48 Prozent sprechen zu Hause und im Alltag Deutsch. Die Bildungsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger attestiert dem österreichischen Lehrpersonal einen folgenschweren blinden Fleck (siehe Interview ): "Unsere Lehrkräfte haben keinerlei soziologische Grundbildung und wissen nicht, wie Gesellschaft jenseits ihres eigenen Milieus aussieht. Den Studierenden muss klargemacht werden, dass es auch Systemerhalter gibt, die keinen akademischen Abschluss haben. Wir müssen ihnen sagen: Das sind eure Kinder, für die Schule gut genug sein muss. Es geht nicht nur um die bürgerliche Mitte, das sind 16 Prozent der Bevölkerung. Es geht um 100 Prozent." Österreichs Schulen lassen sich nach dem sogenannten "Index der sozialen Benachteiligung" klassifizieren, der vier Kennzahlen verrechnet: den Anteil der Schüler aus Familien aus dem unteren Fünftel der Sozialstruktur, den Anteil der Kinder von Eltern mit Pflichtschulabschluss, den Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund und den Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Alltagssprache. Nach diesem Index lässt sich die soziale Belastung einzelner Schulen definieren. Am hoch belasteten Ende der Skala residieren die gefürchteten "Brennpunktschulen".
An Standorten mit hoher sozialer Benachteiligung erreichen Schülerinnen und Schüler öfter die Bildungsstandards (Deutsch) nicht oder nur teilweise (zusammen 64 Prozent) als jene in Schulen mit geringer (32 Prozent) oder mittlerer sozialer Benachteiligung (41 Prozent). Im vergangenen Jahrzehnt gelang es nicht, in diesem Punkt für Entspannung zu sorgen. 2019 gingen mehr Kinder in sogenannte Brennpunktschulen als in den Jahren davor. Dabei befindet sich an dieser Stelle ein entscheidender Hebel. Wenn für eine ausgewogenere Verteilung gesorgt werden könnte, wäre ein archimedischer Punkt gefunden. An diesem Punkt scheiden sich freilich auch die schulpolitischen Ideologien.
Der Direktor der "Klusemann" vertritt eine, auf den ersten Blick, erstaunliche These: "Eine emanzipatorische Schule muss eine Leistungsschule sein. Es hat keinen Sinn, die "armen" Kinder in Watte zu packen. Leistung hilft sozial schwächeren und unterprivilegierten Kindern, in ihrem weiteren Leben zurechtzukommen." Eben weil es für sie keinen Papa gäbe, der einen einflussreichen Freund anrufen könnte, um den Nachwuchs gut unterzubringen. Für Kinder sei in den vergangenen Jahrzehnten die Schule schwieriger geworden. Ein Scheitern werde von der Gesellschaft, von vielen Eltern, von den Kindern selbst als Bedrohung gesehen. Dadurch sei "die Auslese noch stärker", Stress und Verzweiflung noch größer geworden. Die frühe Entscheidung im österreichischen Bildungssystem, welchen Weg ein zehnjähriges Kind einschlage, sei ein großer Fehler.
Wenig bekannt ist, welche verschiedenen Auffassungen von Bildung und Erziehung in unterschiedlichen Milieus vorherherrschen. Der deutsche Bildungsforscher Heiner Barz lotete die Differenzen für Deutschland aus. Seine Befunde sind auch für Österreich aufschlussreich. Laut Barz nehmen die gehobenen Milieus der Etablierten, der Performer, aber auch die bürgerliche Mitte die Bildung ihres Nachwuchses vom Kleinkindalter an selbst in die Hand. Erziehung heißt hier die Förderung von Talenten. Dabei kann es kaum "schöngeistig" und "hochkulturell" genug zugehen. Postmaterialistische Milieus sind besonders skeptisch gegenüber der Regelschule und offen für Alternativ-und Reformschulen. In den Milieus der Konservativ-Etablierten und der bürgerlichen Mitte gilt Bildung als "Element eines gehobenen Lebensstils und als Basis, um sich reibungslos und zielorientiert in den höheren Etagen der Gesellschaft zu bewegen". Im Unterschichtmilieu konstatiert der Forscher einen "vernachlässigenden, inkonsistenten Erziehungsstil, der oftmals mit Überforderung, Problembelastung und Bequemlichkeit" begründet werde. Negative schulische Erfahrungen hallen lange nach; Prüfungsund Schwellenängste dämpfen auch die Lust auf Weiterbildung. Die Unterschiede ziehen sich auch durch alle untersuchten migrantischen Milieus. Eines eint sie allerdings: Der Wunsch, dass es die Kinder "einmal besser haben". Nach "guter Bildung" zu streben, geht damit fast zwangsläufig einher.
Es gibt Migrantenfamilien, die über verstecktes kulturelles Kapital verfügen. Da ist der Taxifahrer, der studierter Bauingenieur ist und sechs Sprachen fließend spricht. Seine Diplome aus Ägypten wurden in Österreich nicht anerkannt. Aber er konnte seinen Kindern beim Lernen helfen - und er tat es auch. Sein Sohn maturiert dieses Jahr in der "Klusemann", seine Tochter geht in ein gefragtes Sportgymnasium.
In einer Studie zur Bildungsgerechtigkeit untersuchten Forscher der Universität Graz im vergangenen Frühjahr verschiedene Möglichkeiten, das soziale Ungleichgewicht an heimischen Volksschulen zu verbessern. Die Ausgangssituation in Graz: Von den 8558 Schülerinnen, die im Schuljahr 2019/20 eine der 38 öffentlichen Volksschulen in Graz besuchten, haben 46 Prozent Deutsch als Muttersprache. Zwischen den einzelnen Schulen ist ihr Anteil sehr unterschiedlich verteilt: An 13 von 38 Schulen liegt der Prozentanteil von Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache bei 70 Prozent, bei elf davon sogar über 85 Prozent. Auch die anderen Risikofaktoren - Bildungshintergrund und sozialer Status der Eltern - sind ungleich verteilt. Wie in ganz Österreich wirkt sich auch in Graz die soziale Zusammensetzung der Schulen deutlich aus: Die Bildungsstandards in Mathematik 2018 wurden in Schulen, die gering belastet sind, von 90,6 Prozent der SchülerInnen erreicht oder übertroffen; an sehr hoch belasteten Schulen gelang dies nur 45,2 Prozent. Die Forscher evaluierten nun anhand internationaler Fallbeispiele verschiedene Möglichkeiten, die soziale Verteilung zu verbessern. In Amsterdam etwa schließen sich Eltern mit ausgeprägtem Bildungshintergrund gezielt zusammen, um ihre Kinder gemeinsam auf sozial stark belastete Schulen - Brennpunktschulen - zu schicken und auf diesem informellen Weg für mehr Durchmischung zu sorgen.
Eine radikalere, aber wirksame Methode wird in vielen US-amerikanischen Schulbezirken angewendet. Um bildungsnahe und -ferne Kinder zusammenzuführen, werden diese innerhalb entsprechend festgelegter Schulbezirke von Amts wegen nach integrativen Vorgaben verteilt-mit dem deutlichen Nachteil, dass dadurch teils lange Schulwege entstehen und ein ausgeklügeltes Schulbus-System zur Verfügung stehen muss. In den USA wurde auch das Prinzip der "Magnet Schools" entwickelt - das sind Schulen in sozial unterprivilegierten Vierteln, die mit besonderen pädagogischen Programmen oder interessanten Organisationsformen (Mehrstufenklassen, Gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen) für eine neue Klientel attraktiver gemacht wurden.
Die "Klusemann" hat eine Dependance, die einmal eine solche "Magnetschule" werden könnte: das "Klex" - in einer Gegend in Graz, in der immer schon arme Leute wohnten. Vor zwei Generationen noch galt der alte Kasten, in dem der Schulversuch untergebracht ist, als eine schlecht beleumundete Schule. Heute wird dort mit offenen Lernformen experimentiert. Was auf den ersten Blick nach abgehobener Pädagogik riecht, erweist sich als radikale Weiterentwicklung der "Klusemann"-Ideen, freilich mit dem Wermutstropfen, dass hier der Nachwuchs von Bessergestellten, jedenfalls Akademikereltern, den Ton angibt. Obwohl die Kinder, die in diesem Bezirk wohnen - nach Auskunft von Direktor Tasch - auf alle Fälle einen Platz bekommen, gibt es auch finanzielle Hürden: 180 Euro im Monat für Ganztagsschule und Mittagessen und ein schwieriger Behördenweg, um eine Ermäßigung zu bekommen.
Die 14-jährige Emma aus der "Klusemann" ist gern in die Mathematikstunde gekommen. Zu Hause wäre sie den ganzen Tag allein, und Mathe war schon in der Volksschule ihr Schwachpunkt. Aber inzwischen ist sie begeistert von Englisch. "Die Schule fördert das. Kindern, die nicht so die Sterne in etwas sind, denen wird weitergeholfen, und man kommt trotzdem noch zum Aufleuchten", sagt Emma. Das Distance Learning findet sie gar nicht so schlimm. Mit dem Gerede vom verlorenen Corona-Jahrgang kann sie nichts anfangen. "Es ist nicht verloren. Wir lernen ja was. Wir sitzen nicht nur daheim und tippen blöd am Computer. Wir lernen, Sachen allein zu regeln, haben mehr Zeit für die Dinge, die uns interessieren. Und irgendeinen Lehrer können wir immer fragen."