Koalition: Vollbremsung im Pendlerland
Von Eva Linsinger
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Knapp 20 Kilometer von Melk entfernt, mitten im niederösterreichischen Mostviertel, liegt die kleine Gemeinde Golling an der Erlauf. Schon im Jahr 1334 wurde sie als „bei den Goldwäschern“ urkundlich erwähnt, vor 130 Jahren entstand dort die „erste österreichische Seilwarenfabrik“. Diese stolze Industriegeschichte ist Vergangenheit, Golling ist kein Magnet mehr, sondern verliert an Bevölkerung. 1477 Kinder, Pensionisten und Erwerbstätige leben noch dort – und mit 683 davon pendelt ein Gros der Einwohner im erwerbsfähigen Alter aus und arbeitet woanders.
Golling ist ein Extrem-, aber kein Einzelfall. Österreich ist ein Land der Pendlerinnen und Pendler: Die Statistik Austria zählt zwischen Boden- und Neusiedler See die erkleckliche Zahl von 2,347.926 Menschen, die zum Arbeiten aus ihrer Gemeinde auspendeln. Das ist mehr als die Hälfte der vier Millionen Erwerbstätigen in Österreich. Und eine recht eindrucksvolle Macht an Wählerinnen und Wählern – mit der es sich tunlichst keine Partei anlegen will.
Wenig Wunder, dass nun, im anlaufenden Wahlkampf, die Schlacht um die Pendler entbrannt ist – besonders hitzig zwischen den Koalitionspartnern ÖVP und Grünen.
Klimaministerin Leonore Gewessler pocht seit dem Klimagipfel im Herbst vehement darauf, die finanzielle Pendlerförderung ökologischer und sozialer zu gestalten – wie es eigentlich im Regierungsprogramm auf Seite 56 vereinbart ist. „Ökologisierung und Erhöhung der Treffsicherheit des Pendlerpauschales“, heißt es dort wörtlich. Von dem Ziel ist die Koalition meilenweit entfernt, denn im Jahr 2022 machte Gewessler das exakte Gegenteil – und will diese Scharte in ihrer persönlichen Ministerinnenbilanz wohl rechtzeitig vor der Wahl auswetzen: 2022 erhöhte Gewessler die Pendlerförderung, einen Steuerfreibetrag, als Anti-Teuerungs-Maßnahme um satte 50 Prozent – was ihr viel harsche Kritik von Umweltschutzorganisationen eintrug. Im Juli 2023 ist die Erhöhung des Pendlerpauschales ausgelaufen.
Sehr zum Ingrimm von Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, die für eine Verlängerung des Extra-Pendel-Geldes gekämpft hatte – und sich nun vehement gegen Gewesslers Pläne in Rage redet und wortreich „Einschnitte“ für Pendler ablehnt. Nicht ohne Grund: Niederösterreich ist die Pendel-Hochburg Österreichs, ungefähr jeder dritte Pendler-Euro fließt dorthin. Satte 71 Prozent der Einwohner pendeln, mehr als im klassischen, aber kleinen Pendler-Bundesland Burgenland, mit über 580.000 Menschen leben die meisten Pendlerinnen und Pendler in Niederösterreich. „Die können nicht einfach aufs Lastenrad umsteigen“, macht Mikl-Leitner klar, dass mit ihr in der Frage nicht zu spaßen ist. Auch Digitalisierungsstaatssekretär Florian Tursky, der in Innsbruck um den Bürgermeistersessel wahlkämpft, deponiert ein „ganz klares Nein“ zu Änderungen.
„Der Zug ist voll“
Das klingt nicht wirklich danach, als würde eine Einigung in der Regierung unmittelbar bevorstehen – sondern eher so, als würde die Koalition bei der vereinbarten Reform der Pendlerförderung eine Vollbremsung hinlegen. Andreas Ottenschläger, ÖVP-Verkehrssprecher, macht daraus auch wenig Hehl: „Ich kann mir schwer vorstellen, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas passiert“, sagt er im profil-Gespräch. Und argumentiert: Erstens habe die Regierung die CO2-Bepreisung und das Klimaticket eingeführt, damit sei einiges zur Ökologisierung im Verkehrsbereich geschehen. Zweitens: Unbestritten fahren die meisten Pendler mit dem Auto, rund
65 Prozent, das ist einer der Gründe, warum Umweltexperten seit Jahren auf Ökologisierung drängen. Ottenschläger sagt aber: „Der Zug ist voll. In der Ostregion gibt es große Kapazitätsprobleme, das müssen wir in den Griff bekommen, bevor wir die Menschen zum Umsteigen bewegen.“ Etwa eine halbe Milliarde Euro wird jedes Jahr an Pendlerpauschale ausgeschüttet, wie von jedem Steuerabsetzbetrag profitieren Besserverdiener stärker. Ein Einwand, dem Ottenschläger entgegenhält: „Besserverdiener zahlen ja auch mehr Steuern. Wir müssen schauen, dass die Mobilität gewährleistet bleibt, aus Niederösterreich etwa pendeln viele Polizisten und Krankenschwestern nach Wien.“
Regulär tagt der Verkehrsausschuss im Parlament noch zwei Mal bis zum Herbst und bis zur Wahl. Natürlich könnten ÖVP und Grüne Extratermine einschieben, falls sich ein Kompromiss abzeichnet – der ist aber nicht in Sicht. „Das Pendlerpauschale wird von den Menschen als Lohnbestandteil angesehen, deswegen haben so viele in der Politik Spundus davor, etwas zu ändern“, seufzt Hermann Weratschnig, Verkehrssprecher der Grünen. In einem Wahljahr nimmt keine Partei der Bevölkerung gern etwas weg, auch nicht die Ökos den Autofahrern. Weratschnig plädiert dafür, denjenigen Pendlern, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, einen Art Öffi-Zuschlag zu zahlen. Sagt aber gleich dazu: „Das ist sehr komplex umzusetzen.“ Er zeigt sich dennoch zuversichtlich, dass die Gespräche mit der ÖVP darüber bald beginnen.
Schwarz-Grün wäre nicht die erste Regierung, die eine Reform des Pendlerpauschales ankündigt, dann aber davor zurückschreckt. Das hängt auch mit dem traditionellen Bild von Pendlern zusammen, das noch in vielen Köpfen verankert ist: 1972 wurde das Pendlerpauschale eingeführt, damals rollten Zigtausende Arbeiter aus dem Burgenland für schlecht bezahlte Hackler-Jobs nach Wien. Die Pendler des Jahres 2024 wohnen aber vor allem in den Speckgürteln um Städte, wohnen in schmucken Einfamilien- oder Reihenhäusern, sie fahren statistisch durchschnittlich 27 Kilometer oder 27 Minuten in die Arbeit – und verdienen mehr als Durchschnittsösterreicher. Das Wirtschaftsforschungsinstitut hat berechnet, dass nur drei Prozent des gesamten Pendlerpauschales Erwerbstätigen im untersten Viertel der Einkommen zugutekommt. 70 Prozent der Förderung erhalten Besserverdienende.
Dazu kommt ein komplexes Sammelsurium an Beihilfen: Gemeinden werden im Finanzausgleich, der Milliarden Euro zwischen Bund, Ländern und Gemeinden umverteilt, für jeden zusätzlichen Einwohner belohnt, daher locken sie mit Zuckerln wie Startwohnungen oder Jungfamilienprämien Zuzügler an. Für Häuslbauer wird dann die Wohnbauförderung draufgelegt, manche Bundesländer zahlen zusätzlich Fahrkostenunterstützung oder Landes-Pendlerpauschalen. Das Resultat: Die Zahl der Pendler hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Nicht ohne Grund verspotten Raumplaner all die Pendlerförderungen gern als „Zersiedlungsprämien“. Und das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo listet das Pendlerpauschale unter den umweltschädlichen Förderungen.
Dieses verschachtelte System aus Geldströmen wird aber im Wahljahr lieber nicht angegangen.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin