Köchin, illegal, verzweifelt gesucht
In Österreich – und in ganz Europa – hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in den Köpfen der Bevölkerung folgende Überzeugung eingenistet: Migranten sind Leute aus fremden Ländern, die zu uns kommen wollen. Weil wir aber an ihnen kein Interesse haben, tun wir alles, um sie nicht reinzulassen. Schaffen sie es dennoch über die Grenze, nennen wir sie „illegale Migranten“ und versuchen, sie wieder loszuwerden.
Emilia Lopez, 40, ist eine solche Migrantin. Ihr Fall ist mittlerweile österreichweit bekannt. Die Inderin reiste mit ihrer Tochter Joia, heute 21, und ihrem Sohn Joshua, 15, im Jahr 2019 nach Österreich ein. Das Touristenvisum lief aus, sie blieben. Lopez stellte einen Asylantrag, er wurde in allen Instanzen abgelehnt. Jetzt soll die Familie abgeschoben werden. Illegale Migranten, siehe oben.
Ein Fall wie Tausende andere? Ja. Doch jetzt ändern sich gerade die Umstände, unter denen Migration betrachtet wird, völlig. Österreich, Europa und alle westlichen Industriestaaten haben derzeit nämlich dasselbe Problem: Arbeitskräftemangel. Die Gesellschaft altert rapide, die Unternehmen suchen Arbeitnehmer und finden keine. Das schadet der Wirtschaft und gefährdet die Sozialsysteme.
Diese Situation gab es schon einmal. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte das Wirtschaftswunder für erhöhten Bedarf an Arbeitskräften – die es nicht gab. Also mussten die reichen Volkswirtschaften welche suchen, und sie fanden sie in weniger entwickelten Ländern. Und weil eine andere, bessere Lösung für das Problem des Arbeitskräftemangels bisher nicht gefunden wurde, machen sich die reichen Volkswirtschaften jetzt erneut auf die Suche nach Arbeitskräften.
Finnland zum Beispiel benötigt laut Berechnungen der Organisation „Technology Finland“, in der 1800 Tech-Unternehmen Mitglied sind, pro Jahr 50.000 neue Arbeitskräfte, und zwar nicht nur im Technologie-Sektor. In Kanada sind es 900.000 in den kommenden zwei Jahren. Und auch die deutsche Wirtschaft leidet darunter, dass viele Jobs nicht besetzt werden können. Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat dieses Problem in der im Jänner erschienenen Studie „Deutschland sucht Arbeitskräfte“ analysiert. Daraus geht hervor, dass nicht nur Fachkräfte mit entsprechend hohem Ausbildungsgrad fehlen, sondern zunehmend auch geringer qualifizierte Arbeitskräfte.
Woher kriegt man die? Jedenfalls kaum noch in Europa, denn die Zeiten, als das Nord-Süd- oder das West-Ost-Gefälle riesig waren, sind vorbei. Heute muss man den Horizont etwas erweitern, und der Blick fällt auf Länder wie Marokko, Tunesien, Syrien, Elfenbeinküste, Indien, Kolumbien…
Spätestens an dieser Stelle tritt die Ironie der aktuellen Lage zutage. Die reichen Volkswirtschaften suchen Arbeitskräfte, die aus denselben Ländern stammen, aus denen die Migranten kommen, die keiner will. Auch der Einwand, dass die Migranten nicht ausreichend gebildet seien, ist nicht besonders stichhaltig, denn erstens fehlen Arbeitskräfte auch in Bereichen, für die man wenig Bildung benötigt, und zweitens kann man Leute, denen Kenntnisse fehlen, auch ausbilden.
Am 15. Mai 1964 schloss Österreich einen Vertrag mit der Türkei, der ein „Anwerbeabkommen“ enthielt. Die Wirtschaftskammer eröffnete in Istanbul die „Österreichische Kommission“ und begann, „Gastarbeiter“ zu rekrutieren. Österreich war mit dieser Initiative eher spät dran, dennoch kamen zehntausende Türken zu uns.
Heute, fast sechs Jahrzehnte später, könnte Österreich von damals einiges lernen. Es ist sinnvoll, Leute, die man braucht, möglichst rasch zu rekrutieren. Hingegen war es in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Fehler, „Gastarbeiter“ als temporäre Arbeitskräfte zu beschäftigen und zu versuchen, sie im Rotationsprinzip immer wieder auszutauschen. Viele Integrationsprobleme rührten von diesem falschen Ansatz.
Emilia Lopez, die illegale Migrantin aus Indien, die laut Behörden dringend abgeschoben werden muss, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Realität die Politik überholt hat. Österreich hat allen Grund, in Delhi, Lopez’ indischer Heimatstadt, eine „Österreichische Kommission“ zu eröffnen, um Frauen wie Lopez, die im oberösterreichischen Haslach bereits als Köchin gearbeitet hat, anzuwerben. Koch ist einer von vielen Mangelberufen. So wird aus der unerwünschten, illegalen Migrantin Lopez eine händeringend gesuchte Arbeitskraft.
Und das Sprachproblem? Es wird gern als unüberwindlich beschrieben, ist es aber – wie wiederum der Fall Lopez zeigt – gar nicht. Köchinnen, Installateurinnen, Pfleger, Maurer, auch Kellnerinnen erlernen das, was sie im Job an sprachlichen Fertigkeiten benötigen, ziemlich schnell.
Wie viele der 40.000 illegalen Migranten, die in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, hätten gute Chancen gehabt, in einem Anwerbeverfahren an ein europäisches Unternehmen vermittelt zu werden? Die noch bessere Frage lautet: Warum probieren wir es nicht einfach aus?