Kommentar: Warum nationale Lösungen eine Illusion sind
Gastkommentar von Elodie Arpa
Ich möchte mit einer Frage beginnen. Mit einer Frage, die wir uns alle stellen sollten und die einem – überdenkt man sie einmal vernünftig – nicht mehr aus dem Kopf geht: Welches Problem, welche große gesellschaftliche Herausforderung lässt sich heute noch auf nationaler Ebene lösen? Und mit lösen meine ich nicht herauszögern oder geschickt verschweigen. Sondern eben lösen. Langfristig lösen.
Seit dem ich mir diese Frage stelle – und das tue ich immer öfter – fehlt mir jede Antwort darauf. Angefangen von Themen wie dem Schulwesen, bei dem die notwendige globale Kooperation vielleicht weniger deutlich zu erkennen ist, bis hin zum Klimaschutz, wo die eingeschränkte Problemlösungsfähigkeit einzelner Staaten offen am Tisch liegt, wurde mir letztlich klar: National lösbare Herausforderungen gibt es nicht. Nicht mehr.
Migration wird man durch nationale Abschottung nur kurzfristig lösen können.
Die erweiterte Digitalisierung und der Einsatz von Artificial Intelligence wird unsere heutige Arbeitswelt weitreichend verändern. Nicht nur die Arbeit selbst wird sich weiter international vernetzen, auch in der Bildung bedarf es einer stärkeren Kooperation, um unsere nächsten Generationen in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Durch Fortschritte in der Medizin und in der Biotechnologie werden wir uns mit ethischen Fragen konfrontiert sehen, die international geltende Maßstäbe und Tabus fordern werden - und zwar bevor Großunternehmen den Bürgern moralische Entscheidungen vorwegnehmen. Gleiches gilt auch für den Datenschutz, ein neu entstandenes Menschenrecht. Auch hier hat man global gegen die Verletzung der Geheimhaltung personenbezogener Daten durch staatliche Einrichtungen und Konzerne anzukämpfen. Auch hier machen das Internet und die Aufzeichnungen nicht vor Ländergrenzen Halt.
Wir sehen uns vor große demografische Entwicklungen gestellt: Rapides Bevölkerungswachstum allen voran auf dem Kontinent Afrika, einerseits. Voranschreitende Alterung westlicher Gesellschaften, andererseits. Migration wird man durch nationale Abschottung nur kurzfristig lösen können. Und auch die Alterspflege braucht supranationale Kooperation. Denn wie es um die Ältesten unserer Bevölkerung ohne die vielen, schlecht bezahlten Pflegerinnen aus osteuropäischen Ländern stehen würde, wollen wir uns gar nicht vorstellen müssen.
Österreich allein wird von den USA, China und Russland nicht gehört und schon gar nicht ernst genommen werden.
Was ich damit sagen möchte: Nationale Probleme sind im Kern nicht national und nationale Lösungen daher nicht mehr als eine Illusion. Eine solche Feststellung mag politisch unklug, ja unaussprechbar sein. Eine solche Feststellung mag uns Bürgern Hoffnung nehmen und uns geradewegs in die Politikverdrossenheit führen. Jedenfalls bringt eine solche Feststellung keine Wählerstimmen ein. Denn sie suggeriert eine ungewisse Zukunft. Und niemand lebt gerne in konstanter Veränderung und unweigerlichem Nicht-Wissen. Die meisten von uns sind wohl der Meinung, wir hätte davon schon genug gehabt, die letzten Jahre.
Und so wird uns ein Alternativprogramm aufgezogen. Ein temporäres Ablenkungsmanöver. Bestehend aus Menschen, die mit Scheuklappen in der Welt agieren. Augen zu und durch! Menschen, die sich die Frage, ob sich etwas national lösen lässt, gar nicht stellen. Und sich die Frage so lange nicht stellen werden, bis die Realität die Politik letztlich wieder einzuholen vermag. Denn die Realität ist, dass Politik zur Außenpolitik geworden ist. Wollen wir als Bürger mitreden, mitentscheiden, unsere Zukunft mitprägen, dann ist das im Spiel der Weltmächte nur möglich, wenn wir uns bündeln. Österreich allein wird von den USA, China und Russland nicht gehört und schon gar nicht ernst genommen werden. Als geeintes Europa haben wir hingegen Gewicht am internationalen Parkett. Als geeintes Europa haben wir die Möglichkeit, unsere Interessen, unsere Politik voranzubringen. Vorausgesetzt wir sprechen so, dass man uns auch verstehen kann: Mit einer Stimme.
Wir gestalten Europa. Wir alle.
Das wird nur möglich sein, wenn das Europa, in dem wir jetzt leben, weiter zusammenwächst. Wenn wir aufhören Europa danach zu definieren, was es für uns tut, und beginnen zu verstehen, dass wir Europa sind. Wir Europa gestalten. Wir alle. Um ein letztes Mal meine Eingangsfrage zu stellen: Welches Problem, welche große gesellschaftliche Herausforderung lässt sich heute noch auf nationaler Ebene lösen? Fällt uns immer noch keine Antwort darauf ein? Ist die Antwort vielleicht: Keines?
Nun dann haben wir die Wahl. Wir können dem Multilateralismus, der internationalen Zusammenarbeit und einem geeinten Europa weiterhin den Rücken zudrehen. Wir können versuchen der Vergangenheit nachzurennen und uns der Stagnation hingeben. Oder aber wir entscheiden uns, konkrete Schritte in die Zukunft zu setzen. Schritte, von denen der erste bereits ansteht: Diesen Mai stellt sich das weltweit einzige direkt gewählte supranationale Parlament Neuwahlen. Das wissen wir - und dass die Wahl 2019 über den weiteren Verlauf der EU entscheiden wird, haben wir schon oft gehört. Und auch das Europa am Scheideweg steht, ist bekannt. Dass die Europäische Parlamentswahl aber darüber entscheiden wird, ob wir als Österreicher, wir als Europäer zukünftig zu stillen Beobachtern der Weltpolitik werden oder ob wir eine Möglichkeit bekommen, unsere Interessen international und somit auch national durchzusetzen, das mag ein neuer Gedanke sein. Ein Gedanke, über den es sich nachzudenken lohnt.
Ich jedenfalls werde mir meine Chance auf Mitbestimmung nicht nehmen lassen. Nicht heute und nicht in Zukunft. Und ich hoffe, dass tun wir alle nicht!
Zur Person Elodie Arpa ist Studentin, Ambassador to Austria des European Student Think Tank, Young Multiplier der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments, Sprecherin beim Gedenktag des Parlaments gegen Gewalt und Rassismus und im Gedenken der NS-Opfer Gewinnerin des Mehrsprachenredewettbewerbs „SAG’S MULTI“.