Kommissar Beifang: Die FPÖ und zufällige Funde
Parteichef Heinz-Christian Strache nahm rasch den Hut, Klubobmann Johann Gudenus tauchte überhaupt ab. Die meisten anderen ehemaligen blauen Spitzenfunktionäre, die sich nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos Mitte 2019 irgendwann auf der Beschuldigtenliste einer Staatsanwaltschaft wiederfinden sollten, haben mittlerweile ebenfalls keine Parteifunktionen mehr inne. Fast schien es, als wäre es der FPÖ unter ihrem neuen Chef Herbert Kickl gelungen, die politische Gefahr, welche die zahlreichen Ermittlungsverfahren der Justiz ausstrahlten, erfolgreich einzudämmen. Dass Strache zuletzt in einem Nebenast der vielfältigen Affären erstinstanzlich (nicht rechtskräftig) freigesprochen wurde, verstärkte bei manchen noch den Eindruck, dass die Sache eigentlich ausgestanden wäre. Mitnichten.
Nun sorgt eine anonyme Anzeige gegen zahlreiche Verantwortliche der FPÖ-Wien für helle Aufregung. Dies weniger wegen des Inhalts des sechsseitigen Schriftstücks, das bereits im Oktober 2021 bei den Ermittlern einging, ohne dort zu großen Veranlassungen zu führen. Hohe Wellen schlägt hingegen das mutmaßliche Zustandekommen des mit Vorwürfen gespickten Papiers: Ermittler fanden nämlich kürzlich eine weitgehend, wenn auch nicht vollständig deckungsgleiche Entwurf-Fassung auf einem Computer, den sie ausgerechnet bei einer Schlüsselperson aus dem Vertrautenkreis Kickls sichergestellt hatten: dem früheren FPÖ-Nationalratsabgeordneten und späteren parlamentarischen Mitarbeiter Hans-Jörg Jenewein.
Bisher liegen keine Hinweise dafür vor, dass Kickl selbst hinter dem Ansinnen stand, die widerspenstige Wiener Landesgruppe bei den Strafverfolgungsbehörden anzuschwärzen – er selbst bestreitet das vehement. Die FPÖ-Wien hat die in der Anzeige erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen. Die Angelegenheit wirft jedoch nicht nur ein grelles Licht auf die innerparteilichen Spannungen bei den Freiheitlichen nach dem Ibiza-bedingten Abgang Straches. Sie zeigt auch, dass die nach der Videoveröffentlichung angestoßenen Ermittlungen mehrerer Staatsanwaltschaften alles andere als am Ende sind. Und dass von diesen weiterhin ein massives politisches Bedrohungspotenzial ausgeht – auch für die FPÖ.
Der Name des Ex-Verfassungsschützers tauchte auch in der Wirecard-Affäre auf.
Ursprünglicher Ausgangspunkt der jüngsten Verwerfungen ist ein Ermittlungsverfahren mit politischen Bezügen, das nicht aus dem Ibiza-Kontext entstanden ist, sondern in Zusammenhang mit dem früheren Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT; nunmehr: DSN – Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst) steht. Seit 2017 wird gegen einen ehemaligen BVT-Mitarbeiter ermittelt. Ihm wird vorgeworfen, geheime Informationen weitergegeben zu haben. Er soll gar für Russland spioniert haben, so der Verdacht, dem die Staatsanwaltschaft Wien seit mittlerweile fast fünf Jahren nachgeht.
Als der Name des Ex-Verfassungsschützers dann auch noch in Zusammenhang mit der Affäre um den geflohenen früheren Wirecard-Vorstand Jan Marsalek auftauchte, wurde bei dem Mann im Jänner 2021 eine (neuerliche) Razzia durchgeführt. Auf seinem Mobiltelefon fanden die Ermittler Chats mit Jenewein, was im September 2021 auch bei diesem zu einer Hausdurchsuchung führte. Jenewein steht nunmehr im Verdacht, den früheren BVT-Mitarbeiter zum Amtsmissbrauch angestiftet zu haben. Letzterer soll Ersterem angebliche Geheimnisse übermittelt haben – beide Betroffenen bestreiten sämtliche Vorwürfe.
Das Verfahren gegen Jenewein ist bei der Staatsanwaltschaft Wien anhängig, welche bei ihren Ermittlungen vom Bundeskriminalamt (BK) unterstützt wird. Das BK wertet nunmehr auch die bei Jenewein sichergestellten elektronischen Geräte aus. Wie aus einem Amtsvermerk vom 28. Juni 2022 hervorgeht, stießen die Kriminalbeamten auf einem Apple MacBook, das von Jenewein benutzt worden war, auf eine Datei mit dem Namen „An die Wirtschafts.docx“. Inhalt: eine an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) adressierte Anzeige gegen zahlreiche Verantwortliche der FPÖ-Wien (der Dateiname ergibt sich offensichtlich aus den ersten drei Wörtern des Dokuments). Die Ermittler gehen auf Basis der elektronisch hinterlegten Dateieigenschaften davon aus, dass Jenewein der Verfasser des Schreibens ist.
Das Papier soll über mehrere Monate hinweg erstellt beziehungsweise bearbeitet worden sein. Tatsächlich eingebracht wurde eine – beinahe identische – anonyme Anzeige im Oktober 2021, allerdings nicht bei der WKStA, sondern beim Bundeskriminalamt.
Nun ist die Angelegenheit zwar politisch brisant, hätte mangels direkten Bezugs zum BVT-Verfahren der Staatsanwaltschaft Wien selbst aber wahrscheinlich wenig bis gar keinen Niederschlag gefunden. Der zufällige Fund – quasi ein Beifang – passt allerdings potenziell zu anderen Ermittlungen, die immer noch am Laufen sind, nämlich zu einem Verfahren der WKStA in Bezug auf FPÖ-nahe Spendenvereine und zu den Spesen-Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Wien gegen Strache, der alle Vorwürfe in diesem Zusammenhang zurückweist. Zur WKStA berichtete das Bundeskriminalamt nun auch die neuen Erkenntnisse. Bereits zuvor hatten die Ermittler übrigens eine Tonaufnahme von Jeneweins Handy verschriftlicht und an die WKStA geschickt, die einen Bezug zu einem anderen dort anhängigen Verfahren aufweist. In dem – offenbar geheim aufgezeichneten – Gespräch spielten auch wiederum FPÖ-nahe Vereine und Personen eine Rolle.
Dieses vernetzte Denken der Ermittlungsbehörden bei der Auswertung elektronischer Datenträger ist es, was die Situation für die betroffenen Parteien politisch unkalkulierbar macht. Das gilt derzeit nicht nur für die FPÖ, sondern vor allem auch für die ÖVP – man denke nur an die Handydaten des früheren Generalsekretärs im Finanzministerium Thomas Schmid. Seitens der Volkspartei kam – in Person von Ministerin Karoline Edtstadler – zuletzt übrigens der Vorstoß, Befugnisse der Staatsanwaltschaften bei der Auswertung von Mobiltelefonen einschränken zu wollen.
Manche würden wohl aufatmen.