Krebsoperation im AKH: Mutter wird doch aufgenommen
Twitter ist meist schrill, sehr männlich und nicht selten bis zur Peinlichkeit persönlich. Nicht umsonst machte Donald Trump den Kurznachrichtendienst zu seinem politischen Megafon. profil-Wirtschaftsredakteurin Christina Hiptmayr ist nichts davon. Sie gehört zur leisen Sorte der Twitter-User, die ihre Geschichten bewerben, ihre Themen diskutieren, vielleicht einmal herumwitzeln, aber einen Teufel tun, sich persönlich zu exponieren. „Ich“ ist für sie keine journalistische Kategorie. Sie selbst und ihre Familie sind keine Objekte der Berichterstattung. Deswegen schreibt sie diese Story auch nicht selbst. „Ich bin einfach nicht der Typ“, sagt sie im Wissen, dass Zurückhaltung in Zeiten von Social Media auch ein Wettbewerbsnachteil sein kann.
Am 6. April gerät ihre Welt derart aus den Fugen, dass sie in ihren persönlichen Trump-Modus wechselt, zum Handy greift und aus der vollen Emotion heraus twittert: „Triage in Wien ist Fakt: habe heute morgen meine Mutter wg dringender lebenswichtiger TumorOP ins AKH gebracht. Jetzt kam der Anruf, ich soll sie wieder abholen: OP nicht möglich, weil keine Intensivbetten. Verantwortung anyone?“ Sie taggt den Gesundheitsminister und den Sprecher des Wiener Gesundheitslandesrates Peter Hacker.
In einer Zeit, in der nur noch wenige Covid-19-News die Menschen wirklich zu erschüttern vermögen, schlägt ihr Tweet ein; schwappt aus der Twitter-Blase sofort über in die Mainstream-Medien; wird Coverstory der Tageszeitung „Heute“ und Hauptmeldung in der ORF-Sendung „Wien heute“. Kaum ein Medium lässt ihre Geschichte aus. „Die Leute müssen wissen, was los ist. Was es fürs eigene Leben bedeuten kann, wenn es im Notfall kein Intensivbett mehr gibt.“ Das ist ein Grund für ihren Tweet. Der andere: Wut. „Lassen wir die Alten in der Pandemie nun sterben? Weil sie ihr Leben eh gelebt haben?“ Es erinnere sie an ein Dritte-Welt-Land, wenn lebensnotwendige Operationen nicht stattfinden, und nicht an das viel gerühmte österreichische Gesundheitssystem.
Der Wiener Gesundheitsverbund beschwichtigt in einer ersten Reaktion: „Jede notwendige OP wird weiterhin durchgeführt“ – und suggeriert damit, die OP ihrer Mutter sei nicht dringend gewesen.
Es ist 11.21 Uhr an diesem Dienstag, dem 6. April, als sie ihren Tweet absetzt. Sie steht vor dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus und wartet, bis ihre Mutter von einem Träger durch die große Glasschiebetür begleitet wird – mit einem ausgeprägten Tumor im Rippenfell, der ihr Schmerzen bereitet und am übernächsten Tag hätte entfernt werden sollen. Der Termin stand fest. Und platzte, als die Patientin nach einer 2,5-stündigen Anreise aus dem Salzkammergut bereits auf der Station angekommen war. Kein Intensivbett wegen Corona. Es tue ihm wahnsinnig leid, erklärte der behandelnde Chirurg der Tochter am Telefon. Warum hat er nicht früher abgesagt? Er habe bis zuletzt alles versucht und gehofft, dass doch noch ein Bett frei wird, erklärt er. Aber die Zahl der Intensivpatienten sei in den letzten Tagen regelrecht explodiert.
Die Mutter kommt mit verzweifeltem Blick auf die Tochter zu. Die beiden steigen in der Parkgarage ins Auto, fahren durch einen April-Graupelschauer zurück ins Salzkammergut. Für das, was gerade passiert ist, finden sie noch keine Worte. Umso lauter geht es währenddessen auf Twitter zu. Bedauern, Anteilnahme, aber auch Relativierungen bis hin zu Anfeindungen reihen sich unter Hiptmayrs Tweet. 450 Mal geteilt, 1300 Mal gelikt. Es wird ihr mit Abstand „erfolgreichster“ Tweet. „Das ist eigentlich krank“, sagt Hiptmayr, aber noch verstörender findet sie, wie ihre Mutter vom wichtigsten Spital Österreichs abgewiesen wurde. Ein Twitter-User weist Hiptmayr auf freie Intensivbetten in anderen Bundesländern hin und unterstellt ihr „Panikmache“. Ihr fehlt die Kraft, zu schreiben, wie zynisch das ist, und ihm die Geschichte von Anfang an zu erklären:
Am 4. März 2021 bekommt Hiptmayr senior ihre Diagnose im Krankenhaus Vöcklabruck. Der Krebs ist zurück. Im Rippenfell.
Eine hochkomplexe OP, die – wenn überhaupt – nur die Spezialisten im Wiener AKH durchführen können, im oberösterreichischen Landeskrankenhaus fehlen hierfür sowohl die personellen als auch die infrastrukturellen Voraussetzungen. Der Befund geht ans AKH. Der Chirurg, der die Patientin von einer früheren Krebsoperation kennt, bestellt Hiptmayr senior ein, checkt sie, ruft sie eine Woche später an und fixiert die Operation mit 8. April. Am 6. April werde sie aufgenommen. Die Tochter spricht ihn auf die angespannte Corona-Situation an. Der Arzt warnt: Aufgrund des „Bettendrucks“ könne er nicht ausschließen, dass der Eingriff kurzfristig abgesagt wird, vielleicht sogar noch am Tag vor der Aufnahme.
Es beginnt das große Zittern. Als Journalistin verfolgt Hiptmayr die Lage auf den Intensivstationen von Berufs wegen. Ab diesem Tag wird die Recherche persönlich. Die Zahlen steigen und steigen, führen zum Oster-Lockdown im Osten des Landes. Oberösterreich bleibt aufgelockert, doch das bringt der Familie herzlich wenig. Die Spezialisten, die über das künftige Leben ihrer Mutter entscheiden, sind in der Lockdown-Zone. Am 6. April läutet der Wecker um 5.45 Uhr. Die beiden packen sich zusammen und fahren nach Wien. Noch im Auto zittern sie bei jedem Handy-Pieps. Doch der befürchtete Anruf bleibt aus. Hiptmayr und ihre Mutter parken, bejahen am Haupteingang des AKH die Frage nach dem PCR-Test und melden sich beim Empfang. Die Tochter übergibt die Mutter in die Obhut eines Trägers und verabschiedet sich im Wissen, sie wohl frühestens in sieben Tagen besuchen zu können. Aus Erschöpfung und Erleichterung kommen ihr kurz die Tränen, dann fährt sie in ihre Wiener Wohnung. Der Anruf kommt, als sie sich daheim die Kontaktlinsen entfernen und nach einer schlaflosen Nacht endlich ausruhen möchte. Sie lässt die Kontaktlinsen an ihrem Platz, greift nach der ungeöffneten Reisetasche, fährt zurück ins AKH und dann mit der Mutter wieder heim ins Salzkammergut.
Am Abend ist das Leben der Mutter wieder auf Warteposition eingerichtet, der Kühlschrank aufgefüllt, die notwendigen Medikamente sind in der örtlichen Apotheke geordert. Dann meldet sich der Chirurg mit der nächsten Hiobsbotschaft. Er habe alles versucht, aber noch keinen Ersatztermin. Bei zu langer Wartezeit sei es fraglich, ob die Mutter dann noch robust genug sei für diesen komplexen Eingriff. Am 7. April fasst die Tochter die Lage im ORF-Interview so zusammen: „Da geht es um Tage.“
Dann meint ein Sprecher des Wiener Gesundheitsverbundes gegenüber der Tageszeitung „Der Standard“ mit Bezug auf Hiptmayrs Mutter: „Wenn ein Arzt befunden hätte, dass die OP dringend notwendig ist, dann wäre sie durchgeführt worden.“ Hiptmayr dazu: „Da fühle ich mich verhöhnt. Die Einschätzung des behandelnden Chirurgen spricht doch dagegen.“ Auch AKH-Intensivmediziner Thomas Staudinger räumt in Interviews mittlerweile offen ein: „Wir müssen wichtige Herzoperationen verschieben wie Bypass und Herzklappen.“
8. April. 11.30 Uhr. Fast exakt zwei Tage nach ihrem Tweet ruft Hiptmayr in der Redaktion an. „Wir haben einen Termin.“ Am Sonntag werde die Mutter erneut im AKH aufgenommen. „Ich bin den Medizinern sehr dankbar, die sich enorm um den Fall bemüht haben. Aber ich bin schockiert über das systemische Versagen in Politik und Verwaltung. Ich habe das Gefühl, wir fahren mit Karacho gegen die Wand. Wir wissen seit einem Jahr, was coronamäßig Sache ist. Wissenschafter und Ärzte haben permanent vor dem Kollaps des Gesundheitssystems gewarnt und wurden weitgehend ignoriert.“ Auf ihren Tweet gab es von offizieller Seite nie eine Reaktion.
Wie es wohl Betroffenen geht, die von Spitälern abgewiesen werden und ihr Schicksal still akzeptieren, weil sie keine Angehörige haben, die sich für sie in die Bresche (und Presse) werfen?