Kreiskys Obergrenze: Der vermeintliche Rechtsruck der SPÖ
Der Säulenheilige der österreichischen Sozialdemokratie, Bruno Kreisky, der einst vor den Nazis ins schwedische Exil floh, klopft an die Pforten der SPÖ-Zentrale. Er spricht seinen dieser Tage viel zitierten Satz: "Wenn Sie mich jetzt zurückschicken, liefern Sie mich den Leuten aus, denen ich gerade entkommen bin." Doch das schwere Holztor bleibt "wegen Obergrenze geschlossen". Die kaltherzigen Türwächter: die eigenen Genossen, Bundeskanzler Werner Faymann und Wiens Bürgermeister Michael Häupl. Sie haben vergangene Woche gemeinsam mit der ÖVP eine Obergrenze für Asylwerber eingezogen.
Die Kreisky-Inszenierung stammt vom VSStÖ, den SPÖ-Studenten. Sie trifft den Nerv des linken Parteiflügels, der wie gelähmt ist vom "Rechtsruck" der Genossen und der beklagt, dass die Parteiführung "das Geschäft der FPÖ macht". Ein Befund, der grundfalsch ist. Wieder einmal. Besonders mit Bezug auf Kreisky.
Bruno Kreisky war ein großer Pragmatiker. Wie hätte er sonst auch einen guten Teil jener Menschen "ein Stück des Weges" mitnehmen können, die heute ÖVP oder FPÖ wählen? Gerade Kreisky hätte alles unternommen, um den Flüchtlingsstrom nach Österreich einzudämmen - und zwar schon viel früher, spätestens im November, als die Schweden die Grenzbalken runterließen. Die Weltmeister der Willkommenskultur, die auch Kreisky einst Asyl gewährten, knickten unter der Last von 200.000 Flüchtlingen im Jahr 2015 ein.
In dieser brisanten Lage hätte sich ein Politiker mit der Führungsstärke Kreiskys nicht auf den formal-juristischen Standpunkt zurückgezogen.
Nach Österreich sollen 2016 geschätzte 120.000 Asylwerber drängen. In dieser brisanten Lage hätte sich ein Politiker mit der Führungsstärke Kreiskys nicht auf den formal-juristischen Standpunkt zurückgezogen. Asylrecht ist Menschenrecht und kennt keine Obergrenze, egal, ob noch 100.000,500.000 oder eine Million nach Österreich kommen. Er hätte die Österreicher nicht auf die Verteilung der Flüchtlinge auf Resteuropa vertröstet - ein Szenario, das nach dem Horror von Köln ein weiteres Stück in die Ferne gerückt ist.
Der rein juristische Standpunkt ist löchrig wie der neue Grenzzaun in Spielfeld. Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt vielleicht keine nationalen Obergrenzen, aber sie kennt sichere Drittstaaten und Grenzen durch andere Rechtsnormen: das Recht auf den Schutz der Grenze, auf die innere Sicherheit, auf die Stabilität des Landes. "Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet", heißt es. Wo liegt nun diese Obergrenze des Könnens? Die Regierung hat sie definiert, vielleicht zu eng, aber immerhin. Und sie macht Druck auf jene Länder, die ihre Grenze bei nahe null eingezogen haben. Wie hilfsbereit Österreich im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich ist, illustriert Robert Treichler in seinem Kommentar (siehe Seite 59). Die USA nehmen 10.000 Asylwerber aus Syrien auf.
Aber wer begeht "Rechtsbruch", weil er mitten in einer epochalen Wanderung eine Obergrenze von 37.5000 einzieht? Österreich? Absurd.
Die FPÖ fordert die Obergrenze schon seit Jahren. Das heißt aber noch lange nicht, dass SPÖ und ÖVP den Blauen nun hinterherhumpeln. Denn wenn sie könnte, würde sich die FPÖ mit den Osteuropäern hinter dem eisernen Asylvorhang verschanzen und die Obergrenze bei null einziehen.
Wäre die Kanzlerpartei SPÖ außerdem so oft nach rechts gerückt, wie es ihr seit dem Aufstieg Jörg Haiders 1986 attestiert wurde, würden Ausländer und Flüchtlinge heute einen ähnlich großen Bogen um Österreich machen wie um Ungarn oder Tschechien. Der mit 13 Prozent höchste Ausländeranteil Österreichs unter den mittelgroßen und großen EU-Staaten (Frankreich sieben Prozent) spricht dagegen; ein Migrantenanteil in Wien von 50 Prozent spricht dagegen; die weiterhin führende Rolle bei der Aufnahme syrischer und afghanischer und davor bosnischer und tschetschenischer Flüchtlinge spricht dagegen, die vergleichsweise hohe Sozialleistung für Ausländer mit einer automatischen Mindestsicherung für anerkannte Flüchtlinge spricht dagegen.
Wie der linke Flügel der SPÖ heute noch einfache Leute ein Stück des Weges mitnehmen möchte, bleibt ein Rätsel.
Der "Rechtsruck" hängt immer davon ab, wo links ist. Unter Kreisky war links nahe der Mitte, und die Mitte rückte "ein Stück des Weges" mit. Wie der linke Flügel der SPÖ heute noch einfache Leute ein Stück des Weges mitnehmen möchte, die sich die grenzenlose Willkommenskultur wegen ihrer Lebensrealität nur bedingt leisten können und wollen, bleibt ein Rätsel. Die lautesten Kritiker der Obergrenze sitzen in der SPÖ Wien. Verständlich, die Stadt zeigte Herz und nahm die meisten Flüchtlinge auf. Was aber unverständlich ist für die Stadtpartei, die im Gemeindebau daheim ist oder war: Wie leise dieselbe Partei die Probleme anspricht, die sich aus dem massenhaften Zuzug von Menschen aus konservativ-islamischen Ländern mit patriarchalischen Strukturen und teils haarsträubenden Frauenbildern ergeben. "Die Zugewanderten sollen heimisch werden im fremden Land. Und die Einheimischen sollen nicht fremd werden im eigenen Land." Diesen Schlüsselsatz für das Europa des 21. Jahrhunderts sagte der Deutsche Bundespräsident Joachim Gauck vergangene Woche.
Die SPÖ mit ihrer säkularen, feministischen und aufklärerischen Tradition hätte zum zweiten Teil des Ausspruchs einiges zu sagen. Doch man ist schon lange verstummt - aus Angst, "das Geschäft der FPÖ zu machen". Das verschaffte der FPÖ ein Monopol auf das Schlüsselthema Zuwanderung. Für die ÖVP schaffte es Sebastian Kurz, das blaue Monopol aufzubrechen. Nur der SPÖ verschlägt es weiterhin die Sprache. Ein Kreisky hätte auch darüber Tacheles geredet.