Bundeskanzler Kreisky und der ungarische Ministerpräsident Janos Kadar

Kreisky und der Spion am Ballhausplatz

Jahrelang arbeitete ein hoher Beamter im Bundeskanzleramt für den ungarischen Geheimdienst. Und niemand merkte etwas. Erst heuer wurde er von einem ungarischen Historiker enttarnt.

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Er bespitzelte mehr als 15 Jahre lang gleich zwei österreichische Bundeskanzler - Josef Klaus und Bruno Kreisky - und hatte praktischerweise sein Büro im selben Gebäude am Ballhausplatz. Aber der biedere Beamte in der Sektion IV fiel niemandem auf. "Er war total low key", erinnert sich Wolfgang Petritsch, damals Sekretär Kreiskys. "Auf die Idee, dass er für einen östlichen Geheimdienst arbeitete, wäre niemand gekommen."

Auf die Existenz des Agenten stieß erst 2016 der ungarische Historiker Lajos Gecsényi im historischen Archiv des Nachrichtendienstes in Budapest. Nachdem er dort bereits einen Bibliothekar in der SPÖ-Zentrale in der Löwelstraße und im Renner-Institut als ungarischen Spion enttarnt hatte (profil 31/2016), fand er 18 Aktenordner mit Berichten und Dokumenten eines hohen Beamten im Bundeskanzleramt: Gerhard Zauner (Name von der Redaktion geändert) saß von 1962 bis zu seiner Pensionierung knapp vor 1980 in der Sektion IV des Bundeskanzleramtes, die für die Verstaatlichte Industrie zuständig war und damals als mächtigste Sektion am Ballhausplatz galt.

Das SPÖ-Mitglied hatte so direkten Zugang zu Akten über die Verstaatlichte Industrie, über die heimische Energiepolitik und Informationen über Außenhandel und die damalige EWG. Von 1965 bis 1982 arbeitete der bieder wirkende Österreicher, der 1913 in der Vojvodina geboren wurde und 1944 nach Österreich geflüchtet war, für den ungarischen Geheimdienst. Unter dem Decknamen "Livingstone" verfasste er Berichte über österreichische Innen- und Wirtschaftspolitik. Dazu verschickte er interne Telefonverzeichnisse und unzählige vertrauliche Akten nach Budapest.

"Lustige Baracke des Ostblocks"

"Die ungarischen Spione waren im Kalten Krieg gefährlich", erinnert sich der ehemalige Innenminister Karl Blecha. "Sie waren weniger auffällig als die Tschechen, Polen oder die DDR-Agenten, die sich meist schon mit ihrer Aussprache verdächtig machten. Von Moskau aus waren die Ungarn klar auf Österreich angesetzt. Sie standen uns näher, weil Ungarn als lustige Baracke des Ostblocks galt."

Dass der ungarische Nachrichtendienst Österreicher unerkannt als Spione anheuern konnte, verwundert den SPÖ-Politiker dann doch. "Offenbar haben die ungarischen Agentenprofis aus Bequemlichkeit fleißige einheimische Mitarbeiter angeworben. Sie mussten dann selbst weniger arbeiten." Falls sie enttarnt wurden, wurden sie abgeschoben. Inhaftiert wurde keiner, auch die österreichischen Spione blieben in der Regel unbehelligt.

Im Warschauer Pakt hatte Ungarns Geheimdienst im Auftrag Moskaus die Aufgabe übernommen, Informationen über sozialdemokratische Parteien im deutschsprachigen Raum zu sammeln. Auch Livingstone lieferte so Insider-Berichte aus der SPÖ und der Sozialistischen Internationale. Von einer Tagung der Sozialistischen Internationale in Genf 1975 meldete er einen heftigen Konflikt zwischen dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Bruno Kreisky über Rezepte gegen die damalige Wirtschaftskrise. Schmidt bezeichnete die Bekämpfung der Inflation als vorrangig, Kreisky war die Erhaltung der Arbeitsplätze wichtiger.

Livingstone wurde vom ungarischen Geheimdienst für seine Spitzeldienste gut bezahlt. Er erhielt in den 1970er-Jahren durchschnittlich 35.000 Schilling im Jahr (nach heutiger Kaufkraft rund 8000 Euro). Seine Leitoffiziere lobten den Agenten im Bundeskanzleramt häufig, forderten immer wieder Unterlagen aus dem Büro Bruno Kreisky.

Kreisky unbekümmert

Doch Livingstone war nicht mit dem DDR-Spion Günter Guillaume vergleichbar, der sich 1970 ins Kabinett des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt einschleichen konnte. Aber er schickte alles, was ihm unter die Finger kam, an seine Auftraggeber. Diese setzten damit die guten Beziehungen zwischen Ungarns KP-und Regierungschef János Kádár und Bruno Kreisky aufs Spiel. Doch Kreisky kümmerte sich wenig um die damals im Kalten Krieg so zahlreich in Wien tätigen Ost-Spione. Bei einem Besuch in Ost-Berlin wurde er vor den Abhöranlagen im Gästehaus gewarnt. "Sollen die nur hören, was wir von ihnen wollen", grummelte Kreisky unbeirrbar, wie Petritsch erzählt.

Doch vor dem Besuch Kádárs bei Kreisky Ende 1976 lieferte Livingstone interne Einschätzungen für die bilateralen Verhandlungen - der KP-Chef konnte sich damit taktisch gut vorbereiten und war Kreisky immer einen Schritt voraus.

Die Anwerbung von Livingstone fand bereits im Jahr 1965 statt. Historiker Gecsényi: "Wie die ungarischen Agenten meldeten, war er bereit, für Geld Informationen und jegliches 'Material' zu liefern. Der ungarische Nachrichtendienst - im direkten Kontakt mit dem KGB -hatte die Aufgabe, die österreichische Innenpolitik, die führenden Politiker, dazu noch die Emigranten im Visier zu halten. Also brauchte er viele Leute. Livingstone war eine graue Maus, ein Spion mit Doktor- und Hofrattitel, der neben politischen Berichten auch Telefonbücher, Personenregister und Akten über Flüchtlinge geliefert hat."

Seine Angst, aufzufliegen, war groß. Dennoch unterschrieb er dann 1969 -ein übliches Ritual, um abtrünnige Mitarbeiter erpressen zu können - die Verpflichtungserklärung zur Zusammenarbeit mit dem ungarischen Nachrichtendienst.

Der in den Laienstand versetzte ehemalige Priester und Doktor der Philosophie hatte den gut bezahlten und sicheren Posten im Bundeskanzleramt über Vermittlung des früheren Innenministers Josef Afritsch erhalten. Zuvor hatte er für die Volkshilfe gearbeitet und sich in der Flüchtlingshilfe engagiert. Nach 1956 kannte er so auch die ungarische Emigrantenszene.

Emsiger Spion

Livingstone entsprach dem Idealbild eines Spions: Er saß nahe beim Bundeskanzler, verfügte über gute Kontakte zu SPÖ-Politikern wie Franz Olah und Otto Probst und hatte keinen auffälligen Lebenswandel: Er fuhr keine teuren Autos, besaß ein kleines Haus in Wien-Hietzing und war biederer Familienvater.

Und er war ein besonders emsiger Spion. An einem einzigen Sommertag im Jahr 1977 schickte er ein ganzes Konvolut von Akten und Berichten nach Budapest, wie ein Dokument des Geheimdienstes belegt: Informationen für Kreisky zum Besuch des damaligen US-Vizepräsidenten Walter Mondale, einen Bericht des österreichischen Botschafters in Australien, Akten über die Kooperation zwischen Efta und EWG, interne Dokumente über die Exporte der verstaatlichten Industrie nach Ungarn und in die Sowjetunion, ein Protokoll der Sitzung der Wirtschaftskommission Österreich- Jugoslawien, einen Bericht über den Besuch eines Vize-Außenhandelsministers aus China und vieles mehr.

Die Mitarbeiter des ungarischen Geheimdienstes in der für Deutschland und Österreich zuständigen Abteilung "Hauptgruppe 3/Gruppe 1/Abteilung 3" kamen kaum mit der Sortierung und Übersetzung nach. Die wichtigsten Akten wurden sofort in Kopie an das KGB-Büro in Budapest und an "befreundete Dienste" in Ost-Berlin, Prag, Warschau und weitere Ost-Hauptstädte weitergeleitet.

Interne Berichte über SPÖ-Personalien waren in Budapest besonders gefragt. 1976 lieferte der Spion im Bundeskanzleramt eine Erklärung, warum Bruno Kreisky den eher farblosen Sektionschef Willibald Pahr zum neuen Außenminister berief und nicht den ausgewiesenen Experten Peter Jankowitsch, der noch dazu SPÖ-Parteimitglied war. Kreisky beharrte auf Pahr, weil dieser seine Weisungen williger befolgen sollte. Im Bericht wird der Unmut vieler Genossen über die Personalpolitik Kreiskys betont. Kreisky setze "fähige Köpfe der eigenen Partei herab" und gebe "Karrieristen und Überläufern den Vorzug".

Ein internes Schreiben Kreiskys an alle Ressortchefs, worin er den hohen Energieverbrauch von Bundesgebäuden kritisierte, wurde von ungarischen ND-Offizieren dankbar entgegengenommen. Selbst banale Empfehlungen, dass man Kontakte zwischen der SPÖ und der Ungarischen KP über verstärkte Kontakte von Gewerkschaftsfunktionären intensivieren möge, finden sich in den Akten.

"Östliche Nachrichtendienste haben in Wien ein dichtes Spinnennetz von Informanten und Zuträgern ausgebreitet", erklärt der Grazer Historiker Stefan Karner. "Dazu wurden Mitarbeiter der zweiten und dritten Garnitur in Ministerien angeworben, oft und absichtlich unscheinbar wirkende Beamte."

Freier Zugang zu Archiv des Nachrichtendienstes

Im vergangenen Herbst unterzeichnete Karner eine Vereinbarung mit dem ungarischen Innenministerium, wonach österreichische Historiker für die Suche nach österreichischen Spionen freien Zugang zum Archiv des Nachrichtendienstes in Budapest erhalten. Karner rechnet mit jahrelanger Arbeit. Im Archiv des CSSR-Geheimdienstes sei man auf 12.000 Namen von Mitarbeitern und Informanten aus Österreich gestoßen, darunter seien allerdings auch "abgeschöpfte" Personen, die - wie etwa Geschäftsleute - im Rahmen eines Visumantrags ausgehorcht wurden. Prominente Fälle wie jene des späteren Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk, der als junger Journalist für den Geheimdienst in Prag gearbeitet hatte, seien sehr selten.

Karner rechnet mit einer ähnlichen Anzahl von freiwilligen und unfreiwilligen Mitarbeitern beim ungarischen Geheimdienst. "Man kannte einander eben gut wegen der gemeinsamen Geschichte, der langen Grenze im Burgenland und der Flüchtlingskrise 1956", so Karner.

Der Fall "Livingstone" ist Modell dafür, wie Spione ihre Tätigkeit erfolgreich vor ihrer Familie versteckten. "Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass mein Vater ein Spion war", erzählt der Sohn von Livingstone merkbar geschockt. "Mein Vater hat keine Hobbys gehabt, ist wenig gereist und fuhr einen alten VW-Käfer." Neben seinem Job und seiner Familie habe sich der Vater aufopfernd um Flüchtlinge aus der alten Heimat, der Batschka, gekümmert. "Vielleicht hat er dafür auch einen Teil des Geldes verwendet", vermutet der Sohn. Denn nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1987 gab es in der Hinterlassenschaft keine hohen Geldbeträge.

Nach seiner Pensionierung war Livingstone noch im Beirat des Innenministeriums für Flüchtlinge tätig. Er erhielt den Hofrat-Titel und mehrere hohe Orden der Republik. 1982 wurde seine Arbeit für den ungarischen Geheimdienst beendet, mit einem Dankschreiben und einer Abfertigung in der Höhe von 10.000 Schilling (nach heutiger Kaufkraft rund 1600 Euro) für "langjährige und wertvolle Agententätigkeit".