Kreutner-Kommission: Clamoroses Urteil über die Justiz
Von Elena Crisan und Max Miller
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Geschichte wiederholt sich, Kritik ebenso. Am 23. Jänner 1977 sprengte Udo Proksch den Frachter „Lucona“ nahe den Malediven mit einer Zeitbombe und tötete sechs Menschen. Doch Proksch wurde erst 1991 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Politiker von SPÖ und FPÖ hatten ihm den Rücken freigehalten und das Verfahren der Justiz verschleppt. Die Lucona-Affäre wurde zu einem der größten Politikskandale der Zweiten Republik.
Am 27. Juni 1989 langte der Bericht des Lucona-U-Ausschusses im Parlament ein. Eine seiner elf Empfehlungen: „Es ist darauf zu dringen, […] daß auch das gesetzlich zulässige Berichtswesen nicht exzessiv gehandhabt wird; insbesondere sollten Berichte der staatsanwaltschaftlichen Behörden über beabsichtigte Vorhaben radikal eingeschränkt werden.“
Diese Woche präsentierte die „Pilnacek-Kommission“ zur Aufklärung des Verdachts der politischen Einflussnahme in der Justiz ihre Ergebnisse. Eine ihrer Empfehlungen: die Reduktion der Berichte, die Staatsanwaltschaften an ihre Aufsicht schreiben müssen.
Manche Lücken bleiben auch ein halbes Jahrhundert später offen. Und führen dieser Tage zu harschen Urteilen über die Justiz.
Korrupte Instanzenzüge?
EU-Kommission, parlamentarische U-Ausschüsse, internationale Experten, NGOs, Untersuchungskommissionen, sogar die Staatsanwaltschaften, Gerichte und die grüne Justizministerin Alma Zadić selbst kommen immer wieder zu denselben Schlüssen: Österreichs Staatsanwaltschaften sollten gar nicht der Justizministerin unterstehen, sondern politisch unabhängig kontrolliert werden. Außerdem dürften die Ermittler nicht durch überbordende Berichtspflichten an die Oberbehörden gelähmt werden.
Das befindet jetzt auch wieder die im Dezember von Zadić eingesetzte Kommission rund um den Anti-Korruptionsexperten Martin Kreutner. Die Justizministerin hatte sie vergangenen November in Auftrag gegeben, nachdem ein Tonband des verstorbenen Justizbeamten Christian Pilnacek öffentlich geworden war.
Der einst höchste Beamte des Justizministeriums behauptet darauf, dass ÖVP-Politikerinnen und Politiker wie Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka oder Ex-Justizministerin Beatrix Karl von ihm Interventionen in Ermittlungsverfahren verlangt hätten, er habe aber nie Folge geleistet: „Ich kann mich nicht exponieren und irgendwelche Ermittlungen einstellen, die gerechtfertigt sind. Das geht einfach nicht.“ Sobotka wies die Interventionsversuche stets zurück, Karl wollte „illegal aufgenommene Aussagen eines Verstorbenen“ nicht kommentieren.
Wie schlimm ist es also um die Justiz bestellt? Wie groß ist die Einflussnahme der Politik? Der überwiegende Teil der österreichischen Justiz funktioniere sehr gut, urteilt nun die Kommission. Doch eine Reihe an Einzelfällen zeigt aus ihrer Sicht systematische Schwächen auf, die Kommission ortet gar eine „höchst problematische Zwei-Klassen-Justiz“. Warum ändert sich das nicht?
Pilnacek war als Beamter der Justiz jahrelang zumindest in der Lage – es war auch explizit seine Aufgabe –, in die heikelsten Ermittlungen der Republik einzugreifen. Das liegt am Aufbau der österreichischen Justiz. Jede Staatsanwaltschaft untersteht einer Oberstaatsanwaltschaft, die Handlungen überprüfen und Weisungen erteilen kann. Im Extremfall etwa: Diese Ermittlung führt zu nichts, stellt das Verfahren ein.
In der Ebene darüber, an der Spitze der Weisungskette, steht die Justizministerin – oder, in Pilnaceks Fall, ein Beamter, der für die Ministerin agiert. Theoretisch kann die politische Führung des Ministeriums also in jedes Verfahren eingreifen. Praktisch passiert das kaum. Österreichs Staatsanwältinnen und Staatsanwälte haben in den vergangenen Jahrzehnten ein großes Selbstbewusstsein entwickelt, politischer Einfluss einen ebenso schlechten Geruch. Die Justiz funktioniere überwiegend sehr gut, erkannte die Pilnacek-Kommission daher. Das deckt sich mit dem Eindruck der Bevölkerung: Die Unabhängigkeit der Gerichte sei „sehr gut“ oder „ziemlich gut“, gaben
82 Prozent der österreichischen Befragten in der Umfrage Eurobarometer im Februar an.
Doch bevor ein Verfahren vor Gericht landet, muss die Staatsanwaltschaft ermitteln. Eine Reihe an Einzelfällen zeige hier systematische Schwächen auf, befinden nun Kreutner und Co. So beschreibt die Kommission eine „Zwei-Klassen-Justiz“: In den allermeisten Fällen erfährt das Justizministerium keine Details über einzelne Ermittlungsverfahren. Der Großteil der staatsanwaltschaftlichen Arbeit wird nur von den Oberstaatsanwaltschaften kontrolliert. Nur in diffizilen Causen soll die Politik beschäftigt werden.
Aus Sicht der Kreutner-Kommission ein Einfallstor für unsaubere Interventionen. Ist eine Rechtsfrage unklar oder hat das Verfahren aufgrund der Tat oder der beschuldigten Personen weitreichendere Konsequenzen, müssen Staatsanwaltschaften genauer Bericht erstatten – und mitunter das Justizministerium einbeziehen. Vor Gericht sind alle Menschen gleich, egal ob einfacher Wähler oder Kanzler. Doch während Betrugsermittlungen gegen einen Kleinunternehmer für den Großteil des Landes irrelevant sind, können Verfahren gegen das Spitzenpersonal der Republik Staatskrisen auslösen.
Clamorose Gefahr
Die Justiz will sich daher absichern – das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: In „clamorosen Causen“, also jenen besonders brisanten Fällen, wandern Informationen bis zur Justizministerin. Gibt sie eine Weisung oder bittet die Oberstaatsanwaltschaft um eine solche, wird zusätzlich der Weisungsrat mit der Sache befasst. Die Kreutner-Kommission spricht von einem „Dreißig-Augen-Prinzip“.
Effizient ist das nicht – und risikoreich zudem: In der untersuchten Amtszeit von Christian Pilnacek (2010–2023) sei es in dieser Kette immer wieder zu Beeinflussungen, Informationsabfluss und Verzögerungen gekommen, urteilt die Kommission nach dem Studium Tausender Aktenseiten und (teils anonymen) Gesprächen mit mehr als 60 Personen. Interventionen von ÖVP, SPÖ und FPÖ seien feststellbar, erklärte Vorsitzender Kreutner durch die Blume. Und es habe konkrete Pläne gegeben, die etwa bei der ÖVP unbeliebte Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) zu zerschlagen.
Aufgrund der „höchst problematischen Zwei-Klassen-Justiz“ könnte Österreich heute nicht einmal mehr in die EU aufgenommen werden, erklärte Kreutner in der „ZIB 2“. Im Gespräch mit profil bekräftigt er: „Wenn der staatsanwaltschaftliche Instanzenzug bei einem Organ der Politik landet und durch gesetzliche Bestimmungen das Gleichheitsprinzip verletzt werden könnte, entspricht das nicht den europäischen Standards.“
Europarechtsexperte Walter Obwexer sah das gegenüber der „Kleinen Zeitung“ anders: „Mängel in Einzelfällen reichen nicht aus, um festzustellen, dass die Unabhängigkeit der Justiz nicht mehr gegeben ist.“ Zwar seien die Kriterien der EU seit Österreichs Beitritt strenger geworden, dass bei Personen und Fällen des öffentlichen Interesses aber andere Berichtspflichten greifen, verstoße nicht zwingend gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Innerhalb der Justiz sorgt zudem die Arbeitsweise des Gremiums für Kopfschütteln: ie Amtszeit der Grünen stand etwa nicht im Vordergrund der Kommission. Mit wem die Kommission welche Themen besprochen hat, bleibt zum Schutz dieser Personen ein Geheimnis. Da die Kommission ihre Arbeitsweise nicht detailliert offenlegt, fürchten Mitglieder der Justiz anonyme Vernaderungen. Kreutner stellt in Aussicht, dass die Erhebungsmethoden, Quellen und einzelne Fälle im Abschlussbericht „eingehend“ vorkommen würden. Öffentlich verbreitete Beispiele waren bereits Thema in Untersuchungsausschüssen und Medienberichten. Darüber hinaus habe man „fünf bis zehn“ Anzeigen eingebracht, erklärte Kreutner in der „ZIB 2“.
Kreutners Kommission schrumpfte früh. Die einzige Oberstaatsanwältin hatte das Gremium bereits im Februar verlassen müssen – wegen angeblicher institutioneller Anscheinsbefangenheit. Dies habe jedoch weniger mit ihr als Person zu tun gehabt, sondern vielmehr mit ihrem Arbeitgeber: die Linzer Oberstaatsanwaltschaft, in deren Verantwortungsbereich laut Kreutner „einzelne Erhebungen stattfanden“. Österreich ist klein, die heimische Justiz noch kleiner. Fast überall finden sich persönliche Verflechtungen – nicht immer sind diese positiv.
Die WKStA war etwa in eine Reihe an Konflikten verwickelt. Der wohl lauteste wurde mit ihrem ehemaligen Aufseher Pilnacek ausgefochten, durchaus öffentlich: Im April 2019 sprach der Generalsekretär und Sektionschef in einer internen Dienstbesprechung vom Erschlagen von Teilen des Eurofighter-Verfahrens („Setzts eich zsamm und daschlogts es“). Die WKStA zeichnete das Gesagte geheim auf – und zeigte ihren Vorgesetzten an. Mangels Anfangsverdachts wurde die Anzeige allerdings bald von der Staatsanwaltschaft Linz zurückgelegt.
Der damalige Interims-Justizminister Clemens Jabloner wollte Ende 2019 dennoch für Klarheit sorgen: Eingriffe in Ermittlungen müssten als ausdrückliche Weisungen erfolgen. Eine spürbare Kritik an Pilnaceks Führungsstil. Im ÖVP-U-Ausschuss ortete Verfahrensrichter Wolfgang Pöschl weniger politische Differenzen als „persönliche Versäumnisse im Führungsverhalten“ als Ursprung des justizinternen Konflikts: Die desaströse Razzia im Verfassungsschutz hatte 2018 zu scharfer Kritik an der WKStA geführt, die Behörde den Rückhalt ihrer Vorgesetzten vermisst. Eine besonders strenge Berichtspflicht der WKStA Anfang 2019 habe dieses Gefühl wohl weiter verstärkt.
Stillstand um die neue Spitze
Umso wichtiger wäre eine funktionierende Aufsicht von oben, die zwischen Streitparteien schlichten kann. Derzeit wäre auch das Aufgabe der Justizministerin. Künftig, so sind sich viele Expertinnen und Experten und sogar die Politik einig, soll das anders sein.
Eine politisch unabhängige Weisungsspitze der Staatsanwaltschaften wäre die wichtigste Reform, befindet Kreutner – wie zahlreiche Expertinnen und Experten vor ihm. Eine andere, eigens von Zadić eingesetzte Kommission kam 2022 zum selben Schluss, die EU-Kommission und die Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (Greco) fordern dies seit Jahren. Und selbst die ÖVP ist seit 2021 für die Einführung einer Bundesstaatsanwaltschaft. Nur nicht so, wie es die meisten Expertinnen und Experten empfehlen und es die Grünen wollen.
Die Volkspartei fürchtet einen „demokratiefreien Raum“, sollte die neue Spitze der Staatsanwaltschaften nicht vom Parlament eingesetzt und kontrolliert werden – und will eine einzelne Person, die am Ende verantwortlich ist. Die Sorge der Grünen: Wird diese einsame Spitze der Staatsanwaltschaften durch das Parlament bestellt, könnte erst recht politische Gunst bestimmen. Also will man lieber einen gleichberechtigten Dreiersenat. Beim Versuch, die Justiz zu entpolitisieren, wird sich die Politik nicht einig.
Selbst wenn Zadić mit dem Bericht der Kreutner-Kommission Rückenwind erhält: Vor der Nationalratswahl am 29. September ist eine derart umfassende Reform der Strafprozessordnung kaum noch möglich. Immerhin bräuchte sie neben der unwahrscheinlichen Einigung zwischen ÖVP und Grünen noch die Zustimmung von SPÖ oder FPÖ für eine Verfassungsmehrheit.
Dann fehlt nur noch die grundsätzliche Reform der Berichtspflichten, wie sie der Lucona-U-Ausschuss vor 35 Jahren empfahl.
Elena Crisan
war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.