Krieg in der Ukraine: Stationen der großen Flucht
Sie steigen aus Zügen, die aus Budapest, Przemyśl oder Bratislava kommen. Viele Frauen, Kinder in jedem Alter, ein paar Großväter. Manche bleiben eine Viertelstunde lang unschlüssig am Bahnsteig stehen, umgeben von riesigen Koffern und vollgestopften Plastiksäcken mit ukrainischen Schriftzeichen und Logos, die wie Artefakte aus ihrem in Schutt und Asche liegenden Zuhause wirken. Andere blicken sich nur kurz um, als hätten sie keine Zeit zu verlieren. Sie haben Sätze mitgebracht, um in der Sprachlosigkeit nicht verloren zu gehen. „Wir möchten nach Paris.“ „Nach Amsterdam!“ „Bitte helfen Sie mir, den Anschlusszug nach Berlin zu erreichen“, steht da, ausgedruckt auf A4-Zetteln, in Klarsichtfolien aufbewahrt, zusammengefaltet in Reisepässe gelegt, mit der Hand in Notizbücher geschrieben, oder: „Wir sprechen nur Russisch!“
Vergangene Woche kamen am Wiener Hauptbahnhof täglich rund 2000 Vertriebene aus der Ukraine an. Viele von ihnen ließen sich wenigstens kurz bei den von der Caritas organisierten Helferinnen und Helfern blicken.
Die Freiwilligen zwischen Gleis 6 und 7
Dienstag, 15.30 Uhr. Es riecht nach stark gewürzter Suppe. Zwischen Stapeln von Gepäck schlafen Hunde und Katzen. Ich bin heute weniger Journalistin Lena Leibetseder, sondern Helferin Lena, eine von etwa 50 Freiwilligen am Wiener Hauptbahnhof. Die Schicht beginnt ruhig. Wir schmieren 800 Brote, schleppen Koffer, besorgen Tickets für Weiterfahrten, drücken Wasser oder Tee in Hände, leiten in die Ankunftszentren in der Engerthstraße oder in der Messe Wien weiter. Ich trage ein Namensschild. Weil „Lena“ russisch klingt, werde ich ständig angesprochen und kann nicht mehr tun, als mich mit Händen und Füßen verständlich zu machen oder auf die Dolmetscherinnen zu zeigen. Es gibt so viele Fragen. Nicht alle lassen sich auf die Schnelle beantworten. Wo gibt es Kindergärten? Wohnungen. Wie lange dauert die Registrierung? Mit Einbruch der Dämmerung steigt der Stresspegel, denn nun geht es vor allem darum, wo die Geflüchteten schlafen können. Spätabends kommt eine ältere, hagere Frau auf mich zu. Sie spricht kein Englisch. Kein Deutsch. Ich verstehe, dass ihr schwindelig ist, nehme ihre schwere Tasche und bringe sie zum Louise-Bus vor der Bahnhofshalle. Dort kümmert sich eine russischsprachige Ärztin um sie. Die Frau hat ein Ticket nach Venedig. Ich helfe ihr in den Zug. Sie umarmt mich und beginnt leise in meine Haare zu weinen. „Djakuju! Spasiba! Danke! Thank you!“, flüstert sie. Gegen Mitternacht gehe ich nach Hause. Ihr Flüstern klingt nach.
Es ist die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. So enorm sind die Zahlen, dass sie kaum zu fassen sind. Nach vier Wochen Krieg sind in Polen 2,1 Millionen Vertriebene gelandet, in Rumänien 500.000, in Ungarn mehr als 300.000, in der Slowakei mehr als 250.000, in Deutschland 240.000, in Moldawien 450.000 – und über 200.000 in Österreich. Von hier wollen acht von zehn in andere Länder weiter, nach Italien, Spanien oder Portugal, wo es größere ukrainische Communities gibt. 27.000 Vertriebene ließen sich bisher in Österreich registrieren; das Gros ist weiblich (70 Prozent); rund ein Drittel (35 Prozent) ist unter 18. Das sind die Fakten mit Stand 24. März, die Flüchtlingskoordinator Michael Takacs vorträgt. Mit jedem Tag steigt die Zahl der Vertriebenen – in den Nachbarregionen der Ukraine. Anderswo in Europa. Und in Österreich. Das Wichtigste sei nun, so Takacs, dass alle „ein Dach über dem Kopf haben, versorgt sind und ein Bett haben“.
Noch geht es um das Nötigste. Schon bald wird es um Deutschkurse, Kinderbetreuung, Schulplätze, leistbaren Wohnraum und Jobs gehen. Und darum, welche Bildungsabschlüsse, Sprachkenntnisse und Berufserfahrungen die Geflüchteten mitbringen, ob Lehrerinnen und Ärztinnen unter ihnen sind, die man schnell einsetzen kann. All das wird derzeit erhoben. Eine der Lehren aus der Fluchtbewegung 2015 und 2016 ist, dass es „die Flüchtlinge“ nicht gibt und es wenig bringt, Köpfe zu zählen und alle mit der Gießkanne zu fördern, sagt Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Wir wissen noch nicht viel über die Menschen, die jetzt kommen, aber so viel wissen wir: Sie kommen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen.“
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung lehrt, dass zunächst die städtische Bildungsschicht aufbricht, jene, die Geld haben, mobil sind, vielleicht im Ausland studiert oder gearbeitet haben. Die Ärmeren und Verletzlicheren harren aus. Erst wenn es gar nicht mehr geht, machen auch sie sich auf den Weg. Zu beobachten war das auch am Wiener Hauptbahnhof, einem Hauptknotenpunkt auf dem Weg der Vertriebenen durch Österreich. „Anfangs waren es Frauen und Kinder mit Rollkoffern. Jetzt steigen sie mit Plastiksäcken und Kartontaschen aus dem Zug. In Jogginghosen. Wenn man das sieht, muss man einfach weinen“, sagt die Polin Anna Kapla, die mit mehreren Jobs selbst gerade so halbwegs über die Runden kommt und trotzdem in jeder freien Minute am Hauptbahnhof steht.
Arme helfen Armen
Die Polen waren die Ersten am Wiener Hauptbahnhof, die aus eigenem Antrieb den ukrainischen Flüchtlingen halfen. Sie haben allesamt keine gut bezahlten Jobs, arbeiten am Bau oder in der Reinigung. Sie kennen einander, koordinieren sich über Facebook, schnorren einen Bäcker um übrig gebliebenes Brot, um Semmeln und Golatschen an, kaufen Butter, Käse, Schinken, Gurken für Sandwiches. An manchen Tagen umwickeln sie bis zu 100 Stück mit Zellophan. Sie kaufen Katzen- und Hundefutter, Tampons für die Frauen, Schokoriegel für die Kinder. In der dritten Woche des Krieges stehen sie noch immer täglich am Bahnsteig, wo am späteren Abend unter anderem die Züge aus Przemyśl ankommen. Ihr Stand befindet sich gegenüber der Caritas. Und es sieht so aus, als fiele es den armen Ukrainern leichter, das erste Sandwich aus den Kisten der armen Polen zu fischen.
Der Wiener Hauptbahnhof ist ein Ort des Ankommens und des Weiterziehens. Wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier landen und kurz verweilen, sich danach in alle Richtungen zerstreuen – nach Amsterdam, Paris oder Madrid weiterfahren, in ein Notquartier in Wien, Oberösterreich oder Kärnten gebracht werden, bei ukrainischen Verwandten unterkommen –, beginnt für alle ein neues Kapitel als Vertriebene.
Anfang März setzte die EU für diese Personengruppe die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie in Kraft. Das Regelwerk war unter dem Eindruck der Flüchtlingswellen in den Kriegswirren am Balkan entstanden und danach in der Schublade gelegen. Kurz flammte 2015 die Debatte auf, dass man sie aktivieren könnte. Doch der Vorschlag fand keine Mehrheit. Heute,
sieben Jahre später, ermöglicht die Richtlinie Vertriebenen – in Österreich nur jenen, mit einem ukrainischen Reisepass –, sich für ein Jahr im Land aufzuhalten und sich
innerhalb der EU frei zu bewegen. Der Aufenthalt kann auf bis zu drei Jahre verlängert werden. Sich hinziehende Asylverfahren, die Geflüchtete nicht selten in jahrelanges, untätiges Warten zwingen und auf diese Weise viel kulturelles, soziales und volkswirtschaftliches Kapital vernichten, entfallen.
Gute Flüchtlinge, schlechte
Ukrainische Flüchtlinge werden anders gesehen als andere Kriegsflüchtlinge. Man hat ein größeres Herz für sie, redet höflich mit ihnen. Als vergangenen Donnerstag das neue Aufnahmezentrum in der Arena Nova in Wiener Neustadt vorgestellt wurde, sprachen die Organisatoren von den „Damen und Herren“, die hier „in Ruhe ankommen“ sollen. FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl, der vor drei Jahren jugendliche Asylwerber noch hinter Stacheldraht sperren ließ und von einer „Sonderbehandlung“ sprach, führte höchstpersönlich durch die Hallen. Einer der Polizisten erschien mit einem riesigen Müllsack voll Stofftieren, Spielzeug und Schokolade zum Dienst: Man könnte weinen, wenn man diesen Krieg sieht. Diese Menschen seien halt doch von anderer Mentalität. „So einer Lieber“ sagt Waldhäusl zu einem Kind und kniet vor ihm nieder. Nur das österreichweit einzigartige, verpflichtende Lungenröntgen für ukrainische Flüchtlinge – TBC! – erinnert an alte Bedenken.
In der Praxis läuft längst nicht alles glatt. Ukrainer und Ukrainerinnen, die ein Bett für eine Nacht brauchen, kommen in ein Notquartier. Zum Beispiel in Wien, wo es mittlerweile drei größere Anlaufstellen gibt: Im Ankunftszentrum im Happel-Stadion werden Neuankommende versorgt und Schlafstellen vermittelt. In der Messe Wien stehen Betten für bis zu 300 Menschen, nötigenfalls kann man auf mehrere Tausend aufstocken. Wer in Österreich bleiben will, kommt in Grundversorgung – entweder in einem der für ukrainische Geflüchtete freigeräumten „Nachbarschaftsquartiere“ des Bundes, einer Unterkunft der Länder oder bei einem privaten Quartiergeber – und muss sich registrieren lassen. Noch spießt es sich bei der Erfassung. An mehreren Registrierungsstellen – 42 waren es Ende vergangener Woche österreichweit – kam es zu längeren Schlangen. Es mangelte an den nötigen biometrischen Gerätschaften. Inzwischen schaffe man 3200 Personen pro Tag, so Flüchtlingskoordinator Takacs. Ohne Registrierung kein Vertriebenen-Ausweis, ohne Vertriebenen-Ausweis kein Zugang zum Arbeitsmarkt. Medizinische Versorgung, Verköstigung und Unterbringung gibt es auch so.
Als Quartier-Drehscheibe fungiert die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU). Wer Platz für Geflüchtete hat, kann dies bei der eigens eingerichteten BBU-Hotline melden. Stand Ende vergangener Woche zählte man hier 43.000 Plätze. Allerdings müssen die Anbieter noch durchgerufen werden, dabei scheidet ein erheblicher Teil aus, sei es, weil die Unterkunft nicht den Standards entspricht, sei es, weil bereits Flüchtlinge eingezogen sind. Einrichtungen ab 100 Plätzen betreibt die BBU selbst, alle darunter gehen an die Länder weiter, die teilweise mit Hilfsorganisationen zusammenarbeiten. Wirklich gut klappe die Verteilung derzeit nur in Wien und Oberösterreich, ist zu hören; einige Bundesländer seien säumig. In Wien hatten vergangene Woche fast 500 Geflüchtete aus der Ukraine über die Diakonie ein Dach über dem Kopf gefunden; mehrere Hundert Wohnungen habe man noch in petto, sagt Diakonie-Sprecherin Roberta Rastl. Und: „Der Bedarf steigt mit jedem Tag.“ Wer privat unterkommt, erhält 215 Euro monatlich, für jedes Kind gibt es 100 Euro. Wohngeld in der Höhe von 300 Euro gibt es drauf, wenn man nachweist, dass man um diesen Preis zur Miete wohnt.
Zwischenstopp Hotel
„Good afternoon“, mailt Alex V. (voller Name der Redaktion bekannt) am 9. März aus Kiew, der umkämpften Hauptstadt der Ukraine. Und weiter: Er werde „mit der Waffe in der Hand sein Mutterland verteidigen“, wolle aber seine Frau (38 Jahre alt) und Töchter (10 und 17) in Sicherheit und gut untergebracht wissen. Ob die Initiative „1hotel1family“ ihm helfen könne? Zwei Stunden später hat er die Antwort im Mail: Ja, der Initiator von „1hotel1family“ und Hotelier Sepp Schellhorn habe eine Wohnung für die Familie im Salzburger Pongau, einer der Hotelangestellten spreche Ukrainisch. Einige Tage später kommen Frau und Kinder an. Sie logieren nun in den Wohnungen in Schellhorns „Seehof“, die in „normalen“ Zeiten als Künstlerwohnungen fungieren. Vor zwei Wochen konnte Schellhorn, Unternehmer, Ex-Politiker bei den NEOS, ein Mann, der gewohnt ist, effizient anzupacken, der Flüchtlingswelle nicht mehr tatenlos zusehen. Und startete „1hotel1family“, mit dem Ziel, dass möglichst viele Hotels Flüchtlinge aufnehmen. Über 60 Flüchtlinge seien schon vermittelt. Aber: „Wir könnten wesentlich mehr Geflüchteten zu eigenen vier Wänden verhelfen – wenn die Vernetzung zwischen den Behörden und Hilfsorganisationen besser funktionieren würde.“ Schellhorns leicht zornige Zwischenbilanz: „Ich bin überrascht, wie schwerfällig der Behördenapparat agiert. Und dass man nichts aus dem Jahr 2015 gelernt hat.“
In den nächsten Wochen könnten laut Schätzungen 200.000 Menschen in Österreich Zuflucht suchen. Leistbares Wohnen, so viel ist abzusehen, wird zum vordringlichen Problem. Aber auch die Schule für die Kinder. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass jene, die gekommen sind, länger bleiben“, sagt der Wiener Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat, Christoph Wiederkehr. Täglich macht sich Wiederkehr ein Bild von der Lage. Stand Donnerstag vergangener Woche: Über 800 ukrainische Kinder im Unterricht; 1500 gemeldet, aber noch nicht in der Schule angekommen; viele weitere bereits hier, aber noch nicht gemeldet. Zuerst wurden bestehende Deutschförderklassen aufgefüllt. Die Stadt nennt das „Eskalationsstufe 1“. Man sei am Übergang zur „Eskalationsstufe 2“: eigene Klassen für Ukrainer. Zehn gibt es bereits, mit je 25 ukrainischen Schülern. Wie viele eigene Klassen sich ausgehen, lässt Wiederkehr offen. Die Räumlichkeiten sind das geringere Problem. So gebe es ganz neue Schulen, in denen Räume für höhere Jahrgänge noch leer stünden. Oder Volkshochschulen. Die große Engstelle sind Lehrpersonen. Zehn ukrainische Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen wurden bereits über Sonderverträge angestellt. Doch es braucht auch eine heimische Lehrperson pro Klasse, seien es Studierende oder pensionierte Lehrkräfte. Bisher wurden erst fünf aus dem Ruhestand zurückgewonnen. „Eskalationsstufe 3“: Kommen Tausende weitere Ukrainer, werden sie in Regelschulen am Nachmittag unterrichtet. Je mehr Schüler, desto weniger Lehrstoff werde sich ausgehen, sagt Wiederkehr. Abweisen darf er kein Kind. Es herrscht Schulpflicht.
In der Bundeshauptstadt dockt der Großteil der Vertriebenen an; doch nicht immer lassen sich die Routen von langer Hand planen.
Irre Zufälle, unfassbares Glück
Auf der Ruster Bundesstraße Richtung Mörbisch winkt linker Hand die Freiheit. Wolkenloser Himmel, klare Sicht zum Neusiedler See. Verloren steht die tonnenschwere Nachbildung der Freiheitsstatue auf jener Plattform im See, die den Seefestspielen im vergangenen Jahr als Kulisse für das Musical „West Side Story“ diente. In Mörbisch sind inzwischen viele Vertriebene gestrandet, niemand weiß, wie viele es gerade sind. Da sind Kirill, 28, und Alina, 23: Das Paar steht im Innenhof mit der Inschrift „Mörbischer Gemeindekeller“ und erzählt von irren Zufällen und unfassbarem Glück. Die beiden lebten bis vor ein paar Wochen in Kiew und verdienten ihr Geld in der IT-Branche. Als die Ukraine mit Bomben überzogen wurde, waren sie auf Urlaub im ägyptischen Marsa Alam, dem Ferienort am Roten Meer. „Wir haben keine Verwandten und Freunde in Europa. Nach Hause konnten wir nicht mehr, aus Ägypten mussten wir weg.“ Ein Evakuierungsflieger brachte sie nach Deutschland. Am 8. März landeten sie im kalten, nassgrauen Frankfurt, um zwei Uhr nachts, in T-Shirts und Shorts, wie Urlauber. „Alle Hotels waren geschlossen, wir flüchteten uns in eine Bar“, sagt Alina. An einem der Nebentische hörten sie Ukrainisch. Und: „Marcel und Daria kümmerten sich sofort um uns“. Wie sich herausstellte, stammt der Mann aus Mörbisch, seine Freundin aus der Ukraine. So fanden sich Kirill und Alina bald in einer Gemeinde am Neusiedler See wieder, von der sie zuvor keinen Schimmer hatten, dass es sie gibt. Mit ihren zurückgebliebenen Verwandten in Kiew und in der Westukraine sind sie ständig in Kontakt. Die steten Fragen nach der verbliebenen Freiheit. Grassierende Angst. Und ihre eigene Geschichte? „Ein kleines Licht im Leid“, sagt Alina.
Vergangenen Donnerstag, einen Monat nach Beginn der Invasion in der Ukraine, trafen sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Das Besondere daran: Erstmals war mit Joe Biden ein US-Präsident bei einem regulären EU-Gipfel dabei. Der Westen lehnt ein Eingreifen der NATO und eine Flugverbotszone weiterhin ab. Auseinander gehen die Ansichten bei der Abhängigkeit von russischem Gas. Während osteuropäische Mitgliedstaaten ein Embargo fordern, heißt es aus Berlin und Wien, dass dies von einem Tag auf den anderen nicht möglich sei. Immerhin wollen die USA nun große Mengen an LNG-Flüssiggas nach Europa liefern. Mit jeder Woche, die der Krieg andauert, steigt die Zahl der Vertriebenen. Spricht man mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern, erfährt man, dass sie nichts mehr wollen, als möglichst bald nach Hause. Spricht man mit Migrationsforschern, heißt es, das sei bei jeder Fluchtbewegung anfangs so gewesen, tatsächlich zurückgekehrt sei immer nur ein kleiner Teil, zehn bis 15 Prozent. Die aktuelle Sorge Nummer eins der Vertriebenen ist, wie es den Angehörigen und Freunden geht, die in der Heimat geblieben sind. Seit der Generalmobilmachung dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht außer Landes. Ausnahmen gibt es nur für Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen und Väter von mindestens drei Kindern. Viele Geflüchtete sind deshalb zwar schon irgendwo in Europa angekommen, aber mit ihren Gedanken und Herzen in der kriegsgebeutelten Heimat.
Hier wie dort
Sie sitzen um den Tisch in einer winzig kleinen Küche im 9. Wiener Gemeindebezirk wie in einer sicheren Höhle. Das Ehepaar Igor und Elena, die Cousine des Mannes, Natalia, die Kinder Mischa, 4, Ewa, 10, und Slata, 6, zwei Familien aus einem Vorort im Norden von Kiew, eine mit, eine ohne Mann. Hin und wieder gibt eines der Smartphones einen unangenehmen Sirenenton von sich. Dann wissen sie, es geht wieder los. Fliegeralarm in Kiew. Das Auto mit dem ukrainischen Kennzeichen parkt vor dem Haus. Igor K., der als einziger Mann Verantwortung für seine und die Familie seiner Cousine trägt und deshalb ausreisen durfte, hat einen gefalteten Zettel an der Windschutzscheibe gefunden. Kein Strafmandat, sondern der handgeschriebene Brief einer Ukrainerin, die ihre Hilfe anbot.
Vor zehn Tagen hofften sie, zu Ostern wieder daheim zu sein. Jetzt sprechen sie von Ende Mai. „Wenn es länger dauert, ist alles kaputt“, sagt Igor. Natalia, 37, Psychologin im größten Lebensmittelkonzern in der Ukraine, berät die Angestellten von Wien aus über MS-Teams weiter. Das Thema: Wie schützen vor uns vor Einschlägen, herabstürzenden Trümmern, Männergewalt, Häuserkampf; sollen wir gehen oder bleiben? Was tun, wenn der Feind biochemische oder Nuklearwaffen einsetzt? „Ich glaubte es zuerst nicht, aber ich bin ein Anker“, sagt sie. Auch Igor ist online weiter für ein ukrainisches Transportunternehmen tätig. Die Häfen sind zu. Er versucht, Getreide über den Landweg in die EU zu bringen. Sichere Routen gibt es nicht, nur weniger gefährliche. Geld wurde zuletzt keines mehr überwiesen. Alle zwei, drei Stunden telefonieren die Erwachsenen mit ihren Eltern, Brüdern, Freunden in der Ukraine. Es herrscht panische Angst, dass das Handy ins Leere läutet.
Viele der Syrer, Iraker, Afghanen und Somalier, die in den Jahren 2015 und 2016 ins Land kamen, waren Jahre unterwegs gewesen. Nicht selten mussten sie den Schlepperlohn für die nächste Etappe erst verdienen, säumten Gewalt und Ausbeutung ihren Weg. Die Fahrt über das Mittelmeer in klapprigen Schlauchbooten war lebensgefährlich; die Strapazen der Fußmärsche entlang der Balkanroute waren enorm. Deshalb gingen die jungen, starken Männer voran; zurück blieben die Frauen und Kinder, die Kranken, Gebrechlichen, Behinderten und Alten. Ganz anders 2022: Die Vertriebenen aus der Ukraine reisen visafrei ein. Das ermöglicht auch vulnerablen Gruppen die Flucht.
Der Junge im Rollstuhl
Als vor vier Wochen Russlands Angriff auf die Ukraine anfing, war es für Götz Schrage, Ex-Keyboarder der Band Blümchen Blau, Fotograf und SPÖ-Bezirksrat, wieder einmal so weit. In den 1990er-Jahren hat der 61-Jährige Vertriebene aus Bosnien nach Österreich geholt, 2015 waren es hauptsächlich Syrer. Jetzt verlassen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land – und Schrages Verein „Volkshilfe Neubau“ springt erneut für die Schwächsten ein. Zwölf Familien mit besonderen Bedürfnissen brachte er – gemeinsam mit Partnerorganisationen – in zwei Kleinbussen nach Österreich. Unter ihnen befand sich Inna aus Kiew mit ihren Kindern Sofia, 12, und Vanya, 18. Vanya ist mehrfach behindert und auf den Rollstuhl angewiesen. Eine Reise in überfüllten Zügen war keine Option. Schrage las sie mitsamt ihrem Hund in Polen auf und brachte sie zu einer Familie in die Nähe von Klosterneuburg. Ein Glücksfall in zweifacher Hinsicht: Im Haus gibt es eine Hebebühne für Rollstühle; und Inna und ihre Kinder dürfen bleiben, so lange sie wollen.
Geduld ist in der Integration ein unterschätzter Faktor. Das kann sich rächen. Drängt man geflüchtete Menschen zu schnell in Jobs, leistet man Überqualifizierung Vorschub. Bevor man Abschlüsse richtig einsetzen kann, muss man erst einmal Deutsch können. Das ist ein langer Weg. Selten, aber doch gibt es Abkürzungen. Die Website jobs-for-ukraine.at brummt. Vor rund einer Woche ging sie mit 20 Jobs online, mittlerweile stehen über 750 Jobangebote von 400 Unternehmen auf der Website, von Eisverkäufer:innen (m/w/d, Gehalt: 1100 Euro) über Java-Designer:innen bis zu Developer:innen (Gehalt: 8500 Euro). „Wir sind von der großen Resonanz selber überrascht“, strahlen die Initiatoren, Franz Hillebrand, Alexander Kucera und Eric-Jan Kaak. Die IT-Spezialisten, alle im lässig-dynamischen Tech-Look, arbeiten eigentlich bei Signa, Agencylife und Spar. Unter dem Eindruck der Horrornachrichten aus der Ukraine war rasch klar: „Wir müssen helfen.“ Es folgte der konkrete Plan: In der Ukraine gibt es viele gut ausgebildete IT-Kräfte, in der IT-Branche ist die Arbeitssprache oft Englisch, seit 11. März dürfen Flüchtlinge aus der Ukraine in Österreich arbeiten. „Wir wollen Unternehmen direkt mit Flüchtlingen vernetzen“, erzählt Hillebrand. Das Trio will „keinen Cent“ verdienen, auch Anwälte und Werbeagentur halfen gratis. Ex-NEOS-Chef Matthias Strolz teilte ihre Initiative auf Instagram und half, sie bekannt zu machen.
Die Plattform ist für Jobsuchende und Unternehmen kostenlos. Nicht alle Nutzer verfolgen hehre Motive: „Leute, die eine Masseurin suchen oder Häuslbauer, die billige Arbeitskräfte für ihre Baustelle wollen, weisen wir sofort ab“, berichtet Kucera. Wie viele Jobs bereits vermittelt wurden, können sie nicht sagen, die Unternehmen reden direkt mit Geflüchteten. Aber, so Kucera: „Wenn wir nur einem einzigen Flüchtling zu einem Job verhelfen können, hat sich unsere Initiative gelohnt.“ Andere Jobplattformen für Ukrainer sind ebenfalls online – etwa karriere.at oder jobs.at. Auch das Arbeitsmarktservice AMS vermittelt. AMS-Chef Johannes Kopf rechnet damit, dass nur etwa die Hälfte der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt kommt – die andere Hälfte sind Kinder, Menschen im Pensionsalter und Frauen mit Kleinstkindern. Laut Kopf wollen sie arbeiten, im Unterschied etwa zu Frauen aus Syrien, dafür brauche es aber Kinderbetreuung. An sich ist die Situation günstig, viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Für eine Zwischenbilanz über Vermittlungserfolge ist es auch für Kopf zu früh. Nur so viel: Aus 2015 weiß man, dass von den damals in Österreich Aufgenommenen heute 60 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen arbeiten.
Zukunft im Kopf
Den Krieg gewinnen, erstens. Dann eine große Party feiern, Urlaub auf der Krim machen. Und drittens: der Wiederaufbau der Ukraine. Das ist die Zukunft, die Lina Barinova und Daria Dalichuk sich ausdenken: „Wir haben uns entschieden, und egal was es uns kostet, kämpfen wir für unser Land.“
YOUkraine heißt die von ihnen mitbegründete Initiative. Man organisiert humanitäre Hilfe, betreibt Lager für Hilfsgüter und ein Callcenter, vermittelt Schlafplätze. Psychologische Hilfe für Geflüchtete ist ebenfalls geplant. Lina und Daria suchen nach Kooperationen, auch für die Zeit nach dem Krieg: „Die Städte, die bis auf die Grundmauer zerstört worden sind, müssen dann wieder aufgebaut werden. Dafür sind wir da.“ Manchmal treibt die Sehnsucht sie an und manchmal die Wut: „Es geht nicht nur um unsere Familie. Unsere Familie ist jetzt die ganze Bevölkerung.“
Der Zusammenhalt in der Community spendet ihnen Kraft. Schlechte Nachrichten ertragen sich leichter gemeinsam. Die guten werden umso mehr gefeiert. Wenn Lina und Daria von früher erzählen, hört es sich an, als erzählten sie aus einem anderen Leben. Sie hatten viel zu verlieren, aber nicht so viel, dass es ihren Widerstand brechen würde: „Unser Leben ist die Ukraine“, sagen sie. Und: „Wir sind die Generation, die für die Zukunft zuständig sind.“