Österreich

Kulturland Niederösterreich: Wutanfälle und Beruhigungspillen

Niederösterreich hat sich über Jahre als modernes und weltoffenes Kulturland etabliert. Was bleibt davon übrig, wenn die Freiheitlichen neben der ÖVP künftig das Sagen haben? Alles, versichert Landeshauptfrau Mikl-Leitner. Doch die Entfremdung zwischen Kunst und Politik ist schon jetzt groß.

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Die Allianz der ÖVP mit der FPÖ in Niederösterreich schlägt unter Kulturschaffenden heftige Wellen; das Spektrum der Reaktionen reicht von Besorgnis bis zu heftiger Entrüstung. Und die Wut richtet sich nicht allein gegen die Freiheitlichen, sondern auch gegen jene Frau, die weiterhin für die Kulturagenden verantwortlich zeichnen wird: ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Können jene, die in Niederösterreich Kunst machen, in einer Politikerin, die eine Allianz mit Udo Landbauer gewählt hat, noch eine Ansprechpartnerin sehen? Bei Landbauer denken sie an NS-Liederbücher, die in dessen Burschenschaft Germania gefunden wurden, und nicht an jemanden, dem sie bei einer Premiere die Hand reichen wollen.

In Niederösterreich weht nach der politischen Zweckehe zwischen ÖVP und FPÖ ein scharfer Wind von rechts. Und der wirbelt die Kunst- und Kulturszene im Bundesland ordentlich auf. Kunstschaffende fragen sich, was Niederösterreich künftig stärker prägen wird: der „Österreich zuerst“-Zeitgeist der FPÖ oder die zeitgenössische Kunst, die sich in den vergangenen Jahrzehnten frei von nationaler Enge ausbreiten konnte. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die neue Identität Niederösterreichs als Kulturland – und damit das Erbe des früheren Landeshauptmannes Erwin Pröll, der es wesentlich geprägt hat.
In einem veritablen „Wutanfall“, den Schriftstellerin Gertraud Klemm zu Papier gebracht hatte und am Donnerstag vergangener Woche bei der Protestkundgebung in St. Pölten rezitierte, stellte sie fest: „Das Übereinkommen liest sich wie ein klares Bekenntnis zur Vergangenheit. Zum kleinen Mann, der mit anderen kleinen Männern um die Wette poltern kann, gegen alle, die unerwünscht und minderwertig sind.“ Dass Mikl-Leitner da mitmache, sei „auch frauenpolitisch eine Unterwerfung, die ich nicht einmal der ÖVP zugetraut hätte“.

Vor nicht einmal anderthalb Jahren wurde auf Feminismus in der ÖVP noch Wert gelegt: „Die Abteilung Kunst und Kultur bekennt sich zur gendergerechten und diskriminierungsfreien Formulierung und setzt mit der Verwendung des Gendersternchens in der internen und externen Kommunikation ein sichtbares Zeichen.“ Das Statement stammt aus der „Strategie für Kunst und Kultur des Landes Niederösterreich“, die Johanna Mikl-Leitner im November 2021 vorstellte. Darin festgehalten ist ein Bekenntnis „zu Inklusion, Integration, Diversität und Gendergerechtigkeit“ – Sternchen inklusive. Unter dem Aspekt „Förderung von Integration“ wird die besondere Rolle betont, die Kunst für „Menschen mit Migrationsbiografie“ sowie die „Transkultur“ spiele. Mikl-Leitner selbst mögen diese Details nicht weiter beschäftigt haben. Ihr ging es ums große Ganze: um das Unterfangen, das Image Niederösterreichs als eine führende Kulturregion weiter zu stärken.

Die Kulturstrategie ist nach wie vor gültig, betont ein Sprecher der wiedergewählten Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Nach der Landtagswahl und ihrem Pakt mit der FPÖ wirkt sie jedoch wie aus der Zeit gefallen. Im Arbeitsübereinkommen zwischen ÖVP und FPÖ wird „bewusst“ auf Genderstern verzichtet und die Abkehr von „mehrgeschlechtlichen“ Satzzeichen als Akt der „Vernunft“ gepriesen. Menschen mit Migrationsbiografie spielen kulturell nur insofern noch eine Rolle, als sie „Respekt vor unserer Kultur und unseren Gesetzen“ zu zeigen hätten, wie es schon in der Überschrift des Integrationskapitels heißt. 

Die Kulturszene in Niederösterreich hat eine andere Tradition. Denn es entstanden über die Jahre nicht nur traditionsverpflichtete Musik- und Theaterfestspiele wie jene in Grafenegg und Reichenau, sondern auch Weltmusikfestivals wie „Glatt und verkehrt“ und interkulturelle Initiativen wie das Osterfestival Imago Dei.

Ein an die Landeshauptfrau adressierter Protestbrief, unterzeichnet von in Niederösterreich lebenden oder arbeitenden Kunstschaffenden, darunter Robert Menasse, Christa & Kurt Schwertsik, Robert Schindel und Josef Hader, warnte dieser Tage vor „geschlossenen Grenzen und Verengung des Horizonts“, vor einem „eingeschränkten deutschen Heimatbegriff und der Ausschließung von Menschengruppen“. Das viel beschworene „Miteinander“ dürfe nicht nur „für Menschen mit Muttersprache ‚Niederösterreichisch‘ gelten“. 

Wer jungen Leuten mit Migrationshintergrund ihre „Daseinsberechtigung“ abspreche, antisemitisches Liedgut herumliegen habe, Asylwerber hinter Stacheldraht sperren wolle, Solidarität mit den EU-Sanktionen gegen Russland verweigere, Wissenschafter verhöhne, Verschwörungstheorien verbreite und politische Mitbewerber beflegle, „darf in Niederösterreich keine politische Macht ausüben“.

Man fühlt sich in vielen Kulturinstitutionen gegenwärtig dazu verpflichtet, sich deutlich zu deklarieren: im Namen des Donaufestivals beispielsweise, das alljährlich in Krems mit einem höchst diversen Lineup an Noise-Künstler:innen, angriffigen Installationen und Avantgarde-Performances punktet. Intendant Thomas Edlinger: „Deutschtümelei und Diskriminierung jeglicher Art haben keinen Platz bei uns und in unserem Programm.“ 

Kunst in Niederösterreich: Performance beim Donaufestival Krems

Ein neues Festival für Gegenwartskultur, genannt Tangente St. Pölten, wird ab 30. April 2024 gute fünf Monate lang laufen, übrigens punktgenau bis zum geplanten Termin der Nationalratswahl. Tangente-Chef Christoph Gurk hat den Eindruck, es gebe in Niederösterreich „sehr viele Menschen, die entsetzt sind über die Vorgänge um die Regierungsbildung, bis weit in konservative Kreise hinein. Ich lasse meinem Team und mir jedenfalls nicht das Gendern verbieten und werde auch nicht zur Normalisierung einer Politik beitragen, die will, dass auf Schulhöfen nur noch Deutsch gesprochen wird.“

Andernorts ist man um Zweckoptimismus bemüht. Paul Gessl, Geschäftsführer der Niederösterreich Kultur-Holding (NÖKU), unter deren Dach neben zahllosen weiteren Institutionen auch das Landestheater und das Festspielhaus in St. Pölten, die Kunsthalle Krems, das Arnulf-Rainer- und das Nitsch-Museum versammelt sind, richtete vergangene Woche einen Appell an die Leitungen der Kulturbetriebe, der sich wie eine Serie von Durchhalteparolen liest: „Niederösterreich wird sich daher auch in Zukunft zu einem weltoffenen, liberalen, modernen Kunst- und Kulturland entwickeln.“

Eine der treibenden Kräfte hinter der Image-Erweiterung vom Agrarland zur Kulturdestination war Mikl-Leitners Vorgänger Erwin Pröll. Er regierte Niederösterreich von 1992 bis 2017 ein Vierteljahrhundert lang. Der 76-jährige Pröll ist heute noch Aufsichtsratsvorsitzender der „Kultur-Region Niederösterreich“. Aus seinem Umfeld hört man, er sei äußerst besorgt um sein kulturelles Erbe. Als Mikl-Leitner ihre Zusammenarbeit mit der FPÖ in einer Pressekonferenz verteidigte, bemühte sie sich, diese Sorge zu nehmen, und es wirkte, als würde sie ihre Worte auch an Pröll richten. Kultur sei ein „Herzstück“ Niederösterreichs, man könne sich darauf verlassen, dass „diese Kulturpolitik fortgesetzt“ werde: „Für jeden wird etwas dabei, jedes Genre vertreten sein.“ Im Unterschied zur schwarz-blauen Allianz auf Bundesebene anno 2000 wurden dem niederösterreichischen Koalitionspakt nun keine Bekenntnisse zu Demokratie und Europa vorangestellt, dafür eine Beruhigungspille in Richtung Kunstszene – eine Kultur-Präambel, sozusagen.  

Kunst in Niederösterreich: Hermann-Nitsch-Orgienmysterium

Einfluss auf die Kulturpolitik könnte die FPÖ, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, über das Budget oder auch über mögliche Um- und Neubesetzungen nehmen. In den vergangenen Jahren lehnten die Freiheitlichen das Kulturbudget im Landtag stets ab. Sollte die FPÖ den Budgetvorschlägen künftig zustimmen – um welchen Preis wird sie das tun? Es ist schwer vorstellbar, dass die FPÖ kulturelle Fragen unkommentiert lassen wird, wenn zugleich die ÖVP darauf besteht, beim FPÖ-Ressort Verkehr intensiv mitzureden, wie im Streit um die Waldviertel-Autobahn bereits sichtbar ist. Ein Sprecher Mikl-Leitners stellt aber genau dies, das Stillhalten der Freiheitlichen in allen Kunstbelangen, in Aussicht: „Die Landeshauptfrau ist für das Kulturbudget und die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen verantwortlich. Eine inhaltliche Mitsprache der FPÖ ist nicht vorgesehen.“ Das jährlich mit rund 130 Millionen Euro zweithöchste Kulturbudget aller Bundesländer nach Wien werde zudem „sicher nicht gekürzt“. Die FPÖ wollte sich zu Mikl-Leitners Ansagen bislang nicht äußern.

Warum Kultur in Niederösterreich politisch eine größere Rolle spielt als etwa in Oberösterreich (ÖVP und FPÖ arbeiten dort seit 2015 zusammen), hängt mit der Geschichte des Agrarlandes Niederösterreich zusammen. Jahrzehntelang vom Eisernen Vorhang umgeben, blieb die Industrie unterentwickelt. Das im Zentrum gelegene Wien – bis 1986 Hauptstadt Niederösterreichs – zog Landsleute ab. Die Idee einer niederösterreichischen Identität blieb, zwischen Wiener Speckgürtlern und Waldviertlern, eine amorphe Angelegenheit.

Die Kulturoffensive, die Pröll startete, hatte mit seinem Kunstsinn wenig zu tun. Sie war seine Strategie, das Bundesland vor der Verödung zu bewahren. Die Kunst bot sich als identitärer Kitt und wirtschaftlicher Dünger für den ländlichen Raum an. Auf seiner Kultur-Tour nahm Pröll auch Kreative mit, die ideologisch aus einer anderen Welt stammten als er: den Aktionskünstler Hermann Nitsch etwa oder den Schriftsteller Peter Turrini. 2007 eröffnete unter Prölls Patronanz das Mistelbacher Nitsch-Museum. Gegen den für seine Echtblutbilder weltweit gefeierten Künstler führte die FPÖ längst einen offenen Kulturkampf. Gegen Proteste auch aus den eigenen Reihen musste Pröll seine Popularität in die Waagschale werfen. An anderen Orten des Bundeslandes etablierten sich ganz ohne Proteste avantgardistische Festivals, die einen krassen Kontrast zum konservativen Kern des Landes bildeten.  

„Die Distanz zwischen Künstlern und Landespolitik wird natürlich größer. Und wenn radikale Freiheitliche bei Premieren in der ersten Reihe die Landespolitik repräsentieren, wird so mancher lieber fernbleiben“, ist Herbert Lackner überzeugt. Der langjährige profil-Chefredakteur hat Prölls Entwicklung vom polternden Bauernbündler zum Kunstmäzen hautnah verfolgt. Zwischen Pröll und Turrini hat er 2019 ein Gespräch in Buchform moderiert („Zwei Lebenswege. Eine Debatte“). 

„Ich glaube nicht, dass sich Künstler zurückziehen werden“, sagt der Niederösterreicher Christian Konrad. Er war von 1994 bis 2012 oberster Raiffeisen-Manager, 21 Jahre Landesjägermeister und nicht zuletzt übers Sponsoring eng ins Kulturgeschehen involviert. Er sei angesichts des schwarz-blauen Paktes „sprachlos“, gesteht er. Mikl-Leitner traut er aber zu, das Pröll’sche Kultur-Erbe weiterzuführen: „Sie war ja lang genug an seiner Seite.“

Geht es nach Mikl-Leitner, wird selbst das Gendersternchen im Kulturbereich überleben. „Eine Überarbeitung ist kein Thema und wurde von der FPÖ nicht zur Diskussion gestellt“, sagt ihr Sprecher über das Strategiepapier aus 2021 mit der Ansage, bewusst ein Zeichen fürs Gendern zu setzen. Die Freiheit der Kunst tritt im Landesdienst künftig als Sternchen auf.

Mitarbeit: Karin Cerny, Wolfgang Paterno

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.