Last Brexmas
Phase eins des EU-Austritts passiert nun tatsächlich: Großbritannien tritt (mit hoher Wahrscheinlichkeit) am 31. Jänner 2020 aus der EU aus. Dann beginnt eine Übergangsphase, in der alles bleibt, wie es ist. Gleichzeitig wird über die weiteren Beziehungen mit der EU verhandelt. Und so wie es aussieht, steuert Großbritannien Weihnachten 2020 dann endgültig auf einen harten Brexit zu.
Zumindest gebietet das die Logik, wenn man Boris Johnson beim Wort nimmt. Das ist nicht ganz einfach, denn sein politischer Erfolg baut darauf auf, dass er alles Mögliche verspricht und dann nicht hält. Er hatte ja auch schon versprochen, am 31. Oktober auszutreten und lieber zu sterben, als um Verlängerung anzusuchen. Geschehen ist damals weder das eine noch das andere.
Was, wenn Johnson es jetzt wirklich ernst meint?
Johnsons Brexitkurs wurde trotzdem am 12. Dezember bestätigt. Was, wenn er es jetzt wirklich ernst meint und durchzieht, was er noch kurz vor Weihnachten angekündigt hat?
In die „Withdrawal Act Bill“, das Austrittsgesetz, ließ er hineinschreiben, dass eine weitere Verlängerung der Übergangsphase über Dezember 2020 hinaus per Gesetz verboten ist. Es ist schwer vorstellbar, dass die komplizierten Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen innerhalb von wenigen Monaten erfolgreich abgeschlossen werden können. Wenn Johnson bis Juni 2020 nicht um Verlängerung um zwei Jahre angesucht hat, dann hat er zwei Optionen: einen einfachen Handelsvertrag mit Zöllen.
Oder das Vereinigte Königreich tritt ganz ohne Freihandelsvertrag Ende 2020 aus der EU aus.
Für den britischen Export, der heute als Teil des EU-Binnenmarkts eng an die EU angebunden ist, wäre dieser harte Brexit ohne Abkommen arg teuer. Eine regierungsinterne Studie stellt fest, dass es die britische Wirtschaft sechs Prozent des BIP kosten würde. Doch Johnsons Kernwähler in der konservativen Partei streben ein Großbritannien an, das sich von EU-Standards verabschiedet. Am Rande Europas soll eine ultraneoliberale, mit der EU konkurrierende Steueroase entstehen.
„Die Regierung des Volkes“
Deshalb ließ Johnson noch einen zweiten Punkt im Austrittsgesetz umschreiben: Die Rechte von Arbeitern und der Konsumentenschutz, wie sie in der EU festgeschrieben sind, müssen im Vereinigten Königreich post Brexit nicht mehr unbedingt geschützt werden.
Damit all das nicht allzu harsch klingt und die gerade zu den Torys übergelaufenen Labour-Wähler in Nordengland trotzdem bei der Stange bleiben, verkündet Boris Johnson außerdem Finanzspritzen in die öffentliche Gesundheitsversorgung und nennt sich jetzt „die Regierung des Volkes“.
Johnsons dritte juristische Maßnahme noch knapp vor der Weihnachtspause verrät allerdings die wahre Richtung seiner Regierung: Amtsvorgängerin Theresa May hatte noch mit der EU vereinbart, dass nur das Höchste Gericht im Vereinigten Königreich Gesetze kippen kann, die vom Europäischen Gerichtshof abgesegnet und in britisches Recht umgewandelt wurden. Ab jetzt wird dies nun allen Gerichten erlaubt.
Wo will Großbritannien stehen?
Die britische Wirtschaft kann sich damit schneller losreißen – und sich den weitaus unternehmerfreundlicheren amerikanischen Regelungen zu Arbeitsrecht, Umweltverträglichkeit und Nahrungsmittelstandards annähern. All das passiert im Hinblick auf Donald Trumps Wiederwahl – der US-Präsident hat Boris Johnson bereits versprochen, dass er mit ihm bald ein Freihandelsabkommen schließen möchte.
Die Entfremdung von der EU und die Hinwendung zu Amerika haben gravierende politische Konsequenzen, die weit über die wirtschaftlichen Beziehungen hinausgehen. Wo will Großbritannien stehen, wenn es um Russland oder China, um den Schutz von Menschenrechten, Klima und Arbeitenden geht? Ein konservativer Spitzenpolitiker, den Boris Johnson im Herbst aus der Partei geworfen hat, weil er gegen seinen harten Brexit-Vertrag stimmte, schüttelt bedauernd den Kopf:
„In meiner ehemaligen Partei regieren jetzt jene, die das Vereinigte Königreich in einen Staat des amerikanischen Mittelwestens verwandeln wollen.“