Lebende Mahnmale: Betteln auf der Wiener Mariahilfer Straße
Man findet sie vor Supermärkten, Kirchen und in Einkaufsstraßen. Die Erfahrung hat sie gelehrt, ihre Not still vorzuführen. Jeder kauert für sich allein, und viele Wiener fragen sich, ob nicht eine Organisation dahintersteht, ob den Euro, den man gibt, nicht eine Bettler-Mafia einstreift. Oder man erwägt, sich vorbeizudrücken, weil man schon 50 Meter weiter vorn etwas gegeben hat.
Auf der Höhe der neuen Baustelle auf der Wiener Mariahilfer Straße, die den Platz deutlich verengt, ragen streichholzdünne Beine auf den Gehsteig. Der Mann scheint zu schlafen. Die Filmemacherin Ulrike Gladik, die vor einigen Jahren eine behinderte bulgarische Bettlerin begleitete und von der Scham weiß, die diese Menschen überwinden müssen, um ihren Familien zu helfen, spricht den Mann auf Bulgarisch an. Apathisch hebt er den Blick. Romania, sagt er. Eine Krücke liegt neben ihm und ein Foto aus glücklicheren Tagen. Es zeigt ihn als stolzen Vater, der ein wohlgenährtes Baby im Arm hält, mit einem kleinen Jungen an seiner Seite. Aus seiner Trainingsjacke, der trostlosen Uniform der Bettler, holt er ein zerknülltes Organstrafmandat, auf dem jemand in kindlicher Schreibschrift aufdringliches Betteln eingetragen hat. Eine Stimme dröhnt: Ich schau mir das schon die längste Zeit an. Die Polizei gehört her, und der gehört weg! Beinahe stößt der feiste Mittvierziger mit seiner Schuhspitze an die Beine des Bettlers. Da lehnt sich auch noch ein schweißüberströmter Bauarbeiter über die Absperrung, macht eine Geste, die nichts Gutes bedeutet und sagt: Ich Leistenbruch, ich arbeiten.
Weiter oben steht ein Bulgare, der sich mit seinem Plastikbecher an eine Häuserwand gedrückt hat. Er ist schon älter und spricht fließend Englisch. In seinem früheren Leben hatte er mit Frau und Kindern in Los Angeles gelebt und als Chauffeur gearbeitet. Heute wohnt er im Keller eines Abbruchhauses, zusammen mit anderen Elenden: einem jungen Mann mit flinken Augen und schicken Sneakers, der jetzt per Telefon herbeigerufen wird. Ein 19-jähriges Mädchen kommt hinzu, das im Alter von 15 Jahren ihr erstes Kind zur Welt brachte, nie Lesen und Schreiben gelernt hat und ängstlich auf den Jungen, ihren Ehemann, schaut, dessen Mutter, so hören wir, ebenfalls hier irgendwo bettelt. Ist das die Organisation, von der alle sprechen? Eher eine Gemeinschaft aus Not ohne jede Zukunft.
In der Nähe des Café Westend liegt ein Mann auf dem Boden. Ein Rumpf mit verkrüppelten Händen, Finger wie Klauen; die Nägel sind gelb und zu Schaufeln gebogen. Der Kopf wirkt wie aus dunklem Holz geschnitzt: ein ehemals stolzes und schönes Gesicht. Entzündete Augen, in denen sich weder Schmerz noch Hoffnung spiegeln. Er strotzt vor Schmutz. Es riecht.
Eine junge Wienerin kauert neben ihm. Nein, sie kenne den Alten nicht, sagt sie. Vor einer Stunde sei sie an ihm vorübergegangen, und auf dem Rückweg habe sie gesehen, dass er die Flasche noch immer nicht angerührt hatte, und da habe sie sich gedacht, er sei wohl nicht in der Lage, sie zu öffnen.
Der Alte wird in der Früh abgeladen und Abend wieder geholt. Bei jedem Wetter sitze er hier, im Regen, im Schnee, in praller Sonne, berichten Leute aus der Umgebung. Einer will gesehen haben, dass der Alte von seinen Leuten einmal geschlagen wurde.
Sein Radius ist klein. Trinken kann er nur mit Strohhalm und wenn die Flasche direkt vor ihm steht. Verpackte Essensgaben vermag er nicht allein aufzureißen. Sein linker Arm gleicht einem verkrüppelten Ast, auf den anderen stützt er sich, um nicht nach vorn zu kippen. Meist sitzt er unter gurrenden Tauben und Essensresten. Wenige Passanten werfen eine Münze in seinen Becher. In fünf Stunden sind nicht einmal zehn Leute stehen geblieben. Zu abstoßend ist sein Anblick.
Ivan H. stammt aus Bulgarien. Er ist 75 Jahre alt. Seine Beine hat er vor zwei Jahren nach einer Entzündung verloren. Er werde nicht zum Betteln gezwungen, aber er wolle zurück nach Bulgarien. Das gibt er uns verstehen. Er spricht abgehackt, stößt einzelne Wörter hervor.
Weit nach 22 Uhr, es ist schon dunkel, kommen zwei Männer, um den alten Mann abzuholen: ein 19-jähriger Junge, der sagt, er sei der Enkel, und ein Älterer, sein Quartiergeber. Aggression liegt in der Luft, als wir die beiden zur Rede stellen und Fotos gemacht werden. Der Junge wechselt mit seinem Großvater ein paar Worte in Romanes. Aber sonst wird bulgarisch gesprochen, und Ulrike Gladik übersetzt.
Der Junge schiebt trotzig die Unterlippe vor. Er lebe vom erbettelten Geld seines Großvaters, aber er kümmere sich auch um den Alten, sagt er. Der Quartiergeber jammert, dass die beiden oft die Miete schuldig blieben und er sie ihnen stunden müsse. Und wer behaupte, der Alte werde geschlagen, der solle sich vorsehen.
Am Tag danach erscheint der Junge allein an der besagten Stelle auf der Einkaufsstraße. Er hat eine Vollmacht mitgebracht, laut welcher er über den Großvater verfügen darf. Der Alte ist Analphabet und hat mit dem Abdruck seines rechten Daumens unterschrieben. Der Junge stammt aus ärmsten Verhältnissen. Er ist in Zeiten groß geworden, als in Bulgarien alles zusammenbrach und die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellte. Im Vorjahr hatte noch seine Tante den Großvater auf die Mariahilfer Straße begleitet, denn von 70 Euro Behindertengeld könne man in Bulgarien nicht überleben, sagt er. Doch die Tante sei jetzt selbst todkrank und wieder daheim und er der Einzige, der diese Aufgabe übernehmen konnte obwohl ihn der Großvater nicht mochte, als er noch ganz klein war. Der Großvater hatte ein Pferd gehabt, in den Wäldern Holz gesammelt und verkauft. Und der Enkel durfte nie mit diesem Pferd reiten, obwohl er Pferde liebt.
Auch mehrere Strafverfügungen hält uns der Junge vor die Nase. Am 26.3. 2013 hatte Ivan H. nach Ansicht der Polizei durch das auf den (sic) Boden sitzen und einen Pappbecher in Richtung der Passanten halten den Fußgängerverkehr behindert. (150 Euro oder drei Tage Arrest.) Am 3.4. 2014 war der alte Mann angezeigt worden, weil er in aggressiver und gewerbsmäßiger Weise gebettelt habe. (140 Euro oder zweieinhalb Tage Arrest.) Im Februar hätte er ins Gefängnis müssen, doch für einen solchen Pflegefall ist der Strafvollzug nicht gerüstet.
Ivan H. ist amtsbekannt. Streifenpolizisten erzählen, dass sich immer wieder Passanten über diesen Anblick bei ihnen beschweren. Ivan H. ist auch schon öfter von der Rettung abgeholt, ins Spital gebracht und im selben devastierten Zustand wieder entlassen und abgeholt worden. Niemand ist zuständig. Und das ist eine Schande.