Lehren ohne Lehramt: Vom Labor ins Klassenzimmer
Beim Betreten des Bildungscampus Berresgasse im 22. Wiener Bezirk ist leise eine Sirene zu hören. Lichter blinken. „Feueralarm ist‘, verlassen Sie bitte das Gebäude“, teilt eine vorbeieilende Dame in der Aula der Schule mit. Alarm im Schulgebäude – eine Metapher auf den Zustand des österreichischen Schulsystem?
Nicht ganz: „War nur ein Probealarm“, informiert Mittelschul-Lehrerin Sabine Lasinger, die mit ihrer Klasse vor dem Schulgebäude wartet.
Sabine Lasingers Bildungsweg würde sie eigentlich nicht für den Lehrberuf qualifizieren. Die Arbeit im Labor war auf Dauer nichts für die studierte Molekularbiologin, also bewarb sie sich vor gut zwei Jahren als Lehrerin.
Ihr Fall ist ein Vorbild für das Bildungsministerium, das derzeit mit der Initiative “Klasse Job” nach Quereinsteigern sucht, die ihren alten Job gegen das Klassenzimmer tauschen wollen. Die ersten Umsteiger werden im kommenden Schuljahr unterrichten. Menschen wie Lasinger werden dringend gebraucht. Denn der Lehrermangel spitzt sich immer weiter zu. Bis 2030 werden laut Angaben des Bildungsministeriums rund ein Viertel der Lehrpersonen in Pension gehen. Dazu kommt, dass immer mehr Lehrpersonen die Stundenzahl reduzieren oder dem Beruf nach dem Studium den Rücken kehren. Von Seiten der Lehrer-Gewerkschaft spricht man von einer “prekären Personalsituation”.
Expertin für alles
Lasinger selbst kam über eine private Initiative ins Bildungssystem, über die gemeinnützige Initiative “Teach for Austria”. Nur etwa zehn Prozent der Bewerber schaffen den Aufnahmeprozess, sie sollen in sozial benachteiligten Schulen wie im 22. Bezirk unterrichten. In nur drei Monaten wurden ihr die Grundlagen des Unterrichtens vermittelt. Danach folgte der Sprung ins kalte Wasser, die erste Stunde vor der Klasse. Begleitende Kurse und Vernetzungstreffen gehören neben dem Unterricht zum Programm. Nach ihrem zweiten Jahr an der Schule hat Lasinger nun die Wahl: Weiter lehren oder zurück in die Privatwirtschaft?
Die Luft ist rein, es war offiziell nur ein Probealarm. Langsam wandern alle Klassen wieder ins Schulgebäude. Sabine Lasinger führt durch die Räumlichkeiten. Im Konferenzzimmer Im dritten Stock des neuen, lichtdurchfluteten Schulgebäudes arbeitet sie praktisch nie, mit einem Arbeitsplatz in der Größe von einem Quadratmeter sei das Konferenzzimmer eher ein Ort zum Austausch als zur Vorbereitung. Den Physiksaal hingegen bezeichnet Lasinger als „ihr Reich“. Und das, obwohl sie in der Schule Physik ganz und gar nicht ausstehen konnte. Englisch, digitale Grundbildung, Chemie, Physik und auch ihr Studienfach Biologie unterrichtet sie. Am liebsten seien ihr mittlerweile die Fächer geworden, zu denen sie vor dem Lehrberuf kaum Zugang fand. Denn da lerne auch sie immer wieder etwas Neues. Ein Glücksfall für die Schule.
Zwar werde versucht, dass Lehrpersonen jene Fächer unterrichten, die Überschneidungen mit ihren Studienfächern haben, das sei aber nicht immer möglich, sagt der Direktor der Schule, Thomas Fitzko. In manchen Fächern gebe es schlicht nicht genug Lehrpersonen, die das Fach studiert haben. Schon seit Jahren hat sich niemand für das Fach Bildnerische Erziehung an der Schule beworben.
Ob der Lehrkräftemangel auch ein Grund für die Anstellung von Quereinsteigern ist? Ja, sagt der Direktor der Mittelschule Berresgasse. Gäbe es genug ausgebildete Lehrpersonen, die sich in der Schule bewerben, würden diese präferiert die Anstellung bekommen. Verglichen mit anderen Schulen in Wien sei es für die Mittelschule Berresgasse aufgrund des neuen, modernen Gebäudes leichter, Lehrpersonal zu finden. Derzeit gibt es dort keine unbesetzten Lehrstellen. Hört man sich in Wiens Mittelschulen um, ist das eher eine Ausnahme. Von vielen Überstunden, die die Lehrpersonen leisten müssten, um die fehlenden Lehrkräfte zu ersetzen, ist immer wieder die Rede.
Sabine Lasinger ist längst kein Sonderfall mehr. Rund 3300 Quereinsteiger unterrichteten im Schuljahr 2021/22 an Österreichs Pflichtschulen, wie eine parlamentarische Anfragebeantwortung des Bildungsministeriums an die SPÖ ergab. Sie machen also bereits rund sieben Prozent aller 50.700 Pflichtschullehrer aus. Wien gilt als “Hotspot” für Sonderverträge: Dort unterrichteten rund 1600 der insgesamt 4300 Quereinsteiger. Eine nicht unwesentliche Zahl der Quereinsteiger sind eigentlich Früheinsteiger: Lehramt-Studierende, die bereits vor ihrem Abschluss mit dem Unterricht beginnen. Mit vielen Quereinsteigern verbindet sie, dass sie allein einen Matura-Abschluss haben.
Lehrkraft ohne Studienabschluss
Einer von ihnen ist Martin H. “Als herausforderndsten Job, den er je hatte”, bezeichnet er seine Tätigkeit als Lehrer in der Berresgasse. Der HTL-Ingenieur und langjährige Chemielaborant in der Pharmaindustrie entfloh nach fünf Jahren Schichtdienst den Arbeitsbedingungen der Privatwirtschaft. Früher gab er Nachhilfe, einen guten Draht zu Kindern hatte immer. Als Jungvater schätzt er die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst.
Einziger Nachteil für Quereinsteiger wie ihn: Mit einem Sondervertrag verdient er weniger als Lehramtsabsolventen.
Beim neuen Programm “Klasse Job” des Bildungsministeriums wird dieses Manko wegfallen: Neulehrer bekommen denselben Vertrag wie Lehramtsabsolventen. Voraussetzung dafür sind allerdings ein abgeschlossenes Studium und mindestens drei Jahre Berufserfahrung. Das Prozedere: Die angehenden Lehrer müssen eine Eignungsfeststellung absolvieren und den Hochschullehrgang „Quereinstieg“ an einer Pädagogischen Hochschule berufsbegleitend innerhalb von fünf Jahren positiv abschließen. Das Interesse ist groß: 2500 Interessierte haben sich für den Quereinstieg mit „Klasse Job" beworben. 900 davon seien bereits laut Bildungsministerium „fast zertifiziert“. 480 Bewerber haben die Eignung nicht geschafft. Lehren kann eben nicht jeder sein.
Aller Anfang ist schwer
Direktor Thomas Fitzko hat gute Erfahrungen mit Quereinsteigern in seiner Schule gemacht. Der Anfang sei zwar für alle herausfordernd. Gerade Lehramt-Studierende, die nicht wie früher an der Pädagogischen Hochschule studiert haben, sondern die Universität absolviert haben, hätten auch nicht viel mehr Praxiserfahrung als Quereinsteiger. Diese würden Lebenserfahrung aus der Privatwirtschaft mitbringen, “angelernt” müssten alle werden. Sind Quereinsteiger vielleicht sogar die besseren Lehrer?
Für Direktor Thomas Fitzko ergänzen sich studierte Lehrpersonen und Quereinsteiger gut. Die einen hätten mehr Erfahrung, die anderen mehr fachliches Wissen. “Der Mix macht’s aus”, sagt er. Paul Kimberger, Chef der Lehrergewerkschaft, betont, dass er in einer derartigen Personalnot jede Initiative begrüße, um mehr pädagogisches Personal an die Schulen zu holen. Dass das mit Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden sei, sei aber auch klar: “Es gibt wie in jeder Berufsgruppe auch unter diesen jungen Menschen Personen, die perfekt geeignet sind, und irrsinnig gut mit Kindern umgehen." Andere seien für den Beruf nicht so gut geeignet.
Einige Lehrervertreter befürchten, dass viele Quereinsteiger die Schule bald wieder verlassen. Dafür gibt es auch Indizien: Etwa die Hälfte der Teilnehmer von “Teach for Austria” wechselt nach zwei Jahren wieder in die Privatwirtschaft. Und: Quereinsteiger sind unzufriedener als ausgebildete Lehrer - das besagt eine internationale Studie der Universitäten Tübingen, Kaiserslautern und Stuttgart mit 125.000 Teilnehmern aus 13 Ländern. Das ist deshalb relevant, weil glückliche Lehrer, auch länger im Lehrberuf bleiben. Entscheidend ist, dass sich die Neo-Lehrkräfte ausreichend unterstützt fühlen.
Bei Sabine Lasinger sind diese Sorgen unbegründet. Stolz präsentiert sie “ihren” Physiksaal, sie schwärmt begeistert über die nächsten Experimente im Chemieunterricht. Die Schulglocke läutet den Beginn der nächsten Stunde ein. Mit breitem Stand und selbstbewusstem Blick wartet sie, bis es ruhig ist, die Schüler ihre Aufmerksamkeit auf sie richten, erst dann beginnt sie den Unterricht.
So selbstsicher wie heute stand Lasinger nicht immer vor der Klasse. Der Anfang sei “herausfordernd” gewesen, da habe es auch Stunden gegeben, wo die Klasse schon einmal aus dem Ruder gelaufen sei. Mit der Zeit habe sie gelernt, wie man mit solchen Situationen umgeht. Im nächsten Semester möchte sie nebenberuflich ein Quereinstieg-Studium an der Pädagogischen Hochschule beginnen - über die Initiative “Klasse Job”.
Eine schöne Geschichte, die nicht über die Probleme hinwegtäuschen kann, die auf das Bildungssystem zukommen. Selbst das Ministerium gibt zu, dass die Anwerbung von Quereinsteigern den Lehrermangel nicht lösen kann: “Mit dem Quereinstieg können wir vor allem kurzfristig einen Teil des Lehrkräftebedarfs decken”, sagt Ressortchef Martin Polaschek. Um auch langfristig und nachhaltig genügend Pädagogen im Bildungssystem zu haben, müssten auch mehr junge Menschen überzeugt werden, dass das Lehramtsstudium zu einem klassen Job führt.