Am Bahnhofplatz empfängt sie die niederösterreichische Landessprecherin Helga Krismer. Auf eine Umarmung folgt ein herzliches: „Freut mich, dass du da bist.“ Schilling ist Krismers Spitzenkandidatin. Das schreibt sie auf „X“ noch am selben Tag, als „Der Standard“ mehrere Vorwürfe gegen sie veröffentlicht. An diesem Morgen in Korneuburg bleibt Krismer dabei: „Wir haben eine brillante, junge Spitzenkandidatin. Gleichzeitig sprechen wir von einer jungen Frau, die 23 Jahre alt ist und bisher Aktivistin war. Ich weiß, wie die Jugend in Chats kommuniziert, wie dort ein Schmäh rennt, den ich in meinem Alter nicht mehr nachvollziehen kann. Da gehört auch die Verwendung des Wortes „hassen“ dazu.“
„Ist sie die Richtige?“
Schilling lächelt und greift in die Tasche mit den Gummibärli. Ein Startzeichen für den Wahlkampf. Denn vor ihr liegt ein langer Tag mit vielen Fragen, die sich mehr um Privates und ihren Charakter als um Europa und den Klimaschutz drehen könnten. Entschlossen geht sie auf die Leute zu: „Hey ich bin Lena Schilling, ich bin…“, und wird von einem älteren Herrn sofort abgewunken, noch bevor sie den Satz zu Ende bringt. Die Menschen sind geschäftig, kaum jemand bleibt stehen. Bis auf einen jungen Mann, der Schilling fürs Erste eine Schonfrist von der Causa gewährt. Er ist im selben Alter wie die 23-Jährige. Auf die Gummibärli verzichtet er, ebenso auf Fragen nach den Chats, stattdessen will er über den CO₂-Ausstoß der Voestalpine sprechen, darüber, ob die Klimatickets die ÖBB überlasten und was ein möglicher Ausbau der Kernkraftwerke in Schweden für Österreich bedeuten würde. Die beiden unterhalten sich. Minutenlang. Schilling mache einen „freundlichen“ Eindruck auf ihn, sagt der Niederösterreicher danach. Wählen will er sie trotzdem nicht. „Wenn man jünger ist, probiert man sich häufig noch aus, aber das EU-Parlament ist eine Verpflichtung. Ich weiß nicht, ob sie die Richtige dafür ist.“
Nach Korneuburg und einem kurzen Zwischenstopp in Klagenfurt geht es für Schilling weiter nach Graz – der vorerst letzte Ort, den sie besucht. Mit dem Intercitybus kommt sie in der Steiermark an. Ihr Ziel: der Bauernmarkt am Kaiser-Josef-Platz. Dort kommt ein junger Mann mit ihr ins Gespräch: „Was ist dran an den Chats?“, will er wissen. Schonfrist zu Ende. Außerdem fragt er Schilling, ob sie den Grünen „den Rücken kehren wird“, wenn sie ins Parlament einzieht. Die veröffentlichten Chats und Vorwürfe haben ihn stutzig gemacht. Schilling erklärt und dementiert. Schnell kriegt sie zu spüren, es geht längst nicht mehr um Europa. Auch nicht um den Klimaschutz. Sie wirkt gefasst, kommt bei ihren Antworten nie ins Stottern: „Ich habe einer Freundin helfen wollen“, wiederholt die 23-Jährige, wie schon zuvor bei etlichen Medienauftritten. „Medien haben das in die Öffentlichkeit getragen.“ Der junge Wiener nimmt den Erklärungsversuch hin, ob er sie wählen wird, weiß er noch nicht. Jetzt müsse er erst einmal Erdbeeren kaufen, „dafür bin ich eigentlich hergekommen“.
„Bin schon sehr enttäuscht“
Im kommunistisch regierten Graz, wo die Grünen seit 2021 die Vizebürgermeisterin stellen, hat Schillings Karriere in der Politik offiziell begonnen. Beim Bundeskongress im Februar wählten 96 Prozent der Delegierten sie auf Listenplatz eins und damit zur Spitzenkandidatin für die Europawahl. Doch auch in der steirischen Hauptstadt hat das Vertrauen in die 23-Jährige gelitten: „Bis jetzt stand es fest, wen ich wählen wollte. Doch nach den Vorwürfen bin ich schon sehr enttäuscht“, sagt eine Frau, die Schilling bei einer Verteilaktion unweit vom Markt im Grazer Stadtpark abfängt. Sie wolle zwar kein Pauschalurteil fällen, doch weder Flyer, Pfingstrose noch vegane Gummibärli, die sie zuvor in die Hand gedrückt bekam, können ihre Meinung ändern: „Das wird der gesamten Partei schaden.“
Beides lässt sich anhand von Zahlen belegen: Im APA-OGM-Vertrauensindex stürzte Schilling um 33 Punkte auf einen Vertrauenswert von minus 50 ab und belegt nun den vorletzten Platz. Eine aktuelle Umfrage zur EU-Wahl von Meinungsforscher Peter Hajek zeigt, dass die Grünen momentan bei zehn Prozent der Wählerstimmen liegen. Damit haben sie um zwei Prozentpunkte gegenüber einer früheren Umfrage vom November verloren. Allerdings sei die Datenlage seit Veröffentlichung der Vorwürfe „sehr volatil und noch schwerer einzuschätzen“, heißt es.
Entschlossen weiterzumachen
Als Politikerin sei ihr bewusst, dass ihr mehr Ablehnung als Zustimmung entgegenschlägt, sagt Schilling in einer ruhigen Minute, während sie langsam zwischen den zahlreichen Obst- und Gemüseständen am Bauernmarkt schlendert. Schließlich hängt an ihrem Abschneiden die Frage, ob junge Leute verstärkt in die Politik gehen sollten. Darüber denke sie nicht nach. Noch weniger ans Aufgeben, sagt Schilling, die den Markt mittlerweile nach dem Ausgang absucht. Dabei erblickt sie einen jungen Landwirt, der einen Käsestand mitten auf dem Platz betreibt.
Ihm will sie einen Flyer und Gummibärli in die Hand drücken: „Nein, danke. Das wäre eine Vergeudung bei mir“, lehnt er entschlossen ab. Immerhin hat er die Chats nicht erwähnt.