Österreich

"Letzte Generation": Kleben fürs Klima

Sie nennen sich die "Letzte Generation" und kleben sich auf heimische Straßen. Sie sehen ihre Verkehrsblockaden als Notbremse vor dem Klimakollaps. profil begleitete die Aktivisten über Wochen.

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Montag, 3. Oktober, Wien, Schottentor, vor der Universität, 8.25 Uhr. "Ah!" stöhnt David Sonnenbaum mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ein Polizist der Spezialeinheit Wega stochert mit einer Spachtel unter Sonnenbaums Handfläche. Mithilfe von Lösungsmittel versucht er, die linke Hand des 34jährigen Klimaaktivisten vom Asphalt zu trennen. Seit fast 30 Minuten blockiert Sonnenbaum mit drei weiteren Aktivisten die dicht befahrene (vier Autospuren, zwei Straßenbahngeleise) Wiener Ringstraße. Alle Angeklebten tragen orange Warnwesten. Mit den freien Händen spannen sie Banner mit der Forderung nach "Tempo 100 auf allen Autobahnen" über die Fahrbahn. Der Stau wird länger und länger. Die Nerven der Autofahrer liegen blank. "Fester!", ruft einer dem Polizisten mit der Spachtel zu. Wütend stampft er auf und ab und deckt die Aktivisten mit derben Kraftausdrücken ein. Den Aktivisten leiden zu sehen, lindert die Wut des Wieners.

Die Klimakleber nennen sich die "Letzte Generation", weil sie überzeugt sind, dass nur jetzt die letzte Chance besteht, den drohenden Klimakollaps abzuwenden. Ihren Glauben an die sanfteren Methoden der schwedischen Klimaschutz-Ikone Greta Thunberg haben sie längst verloren: Die Schülerstreiks der Fridays-for-Future-Bewegung seien "lieb und nett", hätten aber wenig bewirkt, denn das Klimathema versande wieder. Deswegen kleben sich die Aktivisten im Frühverkehr auf die Straße. Oder bewerfen in Museen weltbekannte Gemälde mit Lebensmitteln-wie zuletzt einen Van Gogh mit Tomatensuppe. Die "Letzte Generation" ist überzeugt, die (mediale) Aufmerksamkeit nur noch mit extremen Manövern auf die Klimakrise lenken zu können. Wie wirkmächtig sind diese Klimakleber, die ihre Existenz den wöchentlichen Sitzblockaden unterordnen, die dafür Geldstrafen bis hin zur Haft in Kauf nehmen? Und wie gefährlich sind sie? Wie weit sind sie bereit, noch zu gehen? In Deutschland wird nach einer Straßenblockade hitzig diskutiert: Ein Einsatzwagen stand im Stau, kam verspätet zu einem Unfallort. Wenige Tage später starb eine Radfahrerin. Die Klimakleber wurden angezeigt.

Am anderen Ende des Zebrastreifens der Ringstraße sitzt die 31-jährige Martha Krumpeck. Ein Polizist schützt ihre angeklebte rechte Hand, Autos und Lkw weichen über die Straßenbahngleise aus, nur Zentimeter vorbei an Krumpecks Fingern. Die Aktivistin hat die größere Fünf-Gramm-Klebstofftube verwendet und sich beim Ankleben zusätzlich auf die Hand gesetzt. So verlängert sie den Prozess des Ablösens maximal, damit ihr mehr Zeit bleibt, ihre Botschaften anzubringen. "Wir machen das hier nicht zum Spaß. Uns bleiben nur noch zwei bis drei Jahre. Wie soll die Regierung unser Überleben sichern, wenn sie nicht einmal die einfachste Maßnahme wie Tempo 100 auf der Autobahn umsetzt?", sagt sie vom Boden aus in mehrere Handykameras. Nach einer Stunde ist der Ring wieder frei. Die vier Blockierer sitzen von Polizisten umringt am Straßenrand. Die Beamten nehmen ihre Daten auf. Es setzt eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht sowie Verbleibs bei Rot auf der Fahrbahn. Dann gehen alle ihres Weges. Ein 24-jähriger Student, der neben Sonnenbaum klebte, fährt weiter auf die Universität für Bodenkultur. Sonnenbaum geht nach Hause. Krumpeck zeigt beim Abgang noch ihre blutige Hand in die Kameras und sagt: "Whatever it takes"-was immer nötig ist.

Vor zwei Monaten klebten sie schon einmal hier am Ring vor der Universität Wien. Die Abdrücke von zwei Klebehänden sind am Zebrastreifen noch zu sehen. Seit der ersten Straßenblockade am 8. Februar 2022 gab es laut Polizei 16 Einsätze, bei denen Personen von der Straße abgelöst werden mussten-bisher nur in Wien. In dieser Woche soll Graz folgen.

International sind Klimakleber in rund zehn Ländern aktiv. Besonders umtriebig sind sie in Großbritannien, bereits 2019 legten sie Teile des Londoner Stadtverkehrs lahm. Sie besprühen Gebäude von Banken oder Ministerien mit oranger Farbe. Vor zwei Wochen warfen Just-Stop-Oil-Aktivisten in der Londoner National Gallery Tomatensuppe auf das verglaste Van-Gogh-Gemälde "Sonnenblumen".

Auch heimische Museen sind längst alert. Im September hatten Krumpeck und Sonnenbaum versucht, sich im Naturhistorischen Museum an das Gerüst eines Dinosauriers zu kleben. Staatsschützer, die sie observiert hatten, verhinderten die Aktion in letzter Sekunde.

Die bekannteste Klimaaktivistin Österreichs, die 21-jährige Lena Schilling, hält nichts davon, Bilder anzuschütten oder Autofahrern "am Oarsch" zu gehen, wie sie sagt: "Diese Aktionsform ist taktisch nicht sinnvoll, weil sie Menschen trifft, die keine Entscheidungsmacht haben. Es wird nicht übers Klima, sondern nur über die Blockade diskutiert."Anstatt Menschen nachhaltig zu verärgern, müsste man sie für die eigenen Ziele gewinnen. Schilling sind gezielte Aktionen lieber. Unter dem Slogan "Lobau bleibt" hat sie die Besetzung der Stadtstraßen-Baustelle in Wien-Donaustadt mitorganisiert. Doch um das Lobau-Protestcamp ist es ruhig geworden, während die Klimakleber im Wochentakt für Schlagzeilen sorgen. Das liegt auch an deren akribischer Planung.

Gehe nicht von der Straße, bis unsere Forderungen wie Tempo 100 auf Autobahnen umgesetzt sind.

David Sonnenbaum

"Letzte Generation"

Der Einsatzplan

Die Dramaturgie ist immer gleich: Über den Nachrichtendienst Signal erhalten Interessierte ein Aviso. Üblicherweise steigen die Aktionen Montagfrüh. Erst kurz vor der Aktion wird ein genauer Zeitpunkt und ein U-Bahnsteig mitgeteilt. Beim Treffpunkt verteilen die Anführer Banner, Warnwesten, Superkleber. Dann klären sie ab, wer sich anklebt, wer "nur" sitzt, wer filmt. Mithilfe von Google Streetview werden die Fahrspuren zugeteilt. Mit der U-Bahn geht es zum Einsatzort und zu Fuß weiter zum Zebrastreifen. Die Ampel schaltet auf Rot. Die Aktivisten eilen auf ihre Spur, ziehen Warnwesten an, spannen die Banner. Die Ampel schaltet auf Grün. Die Aktivisten bleiben stehen. Nun beginnt die Chaosphase. Autos setzen sich in Bewegung. Manche stoppen erst, wenn Aktivisten ihre Hand auf die Motorhaube legen. Ein Hupkonzert ertönt. Kurze Entspannung bei der Rotphase. Bei der nächsten Grünphase wird das Hupkonzert ohrenbetäubend. Die ersten Autofahrer steigen aus. Rufen. Schimpfen. "Ich muss arbeiten, geht's wos hackeln, ihr Orschlöcher."Das kommt immer. Um zu deeskalieren, setzen sich die Blockierer im Schneidersitz auf den Boden, bis die ersten Polizeisirenen ertönen. Nun wird der Superkleber gezückt, der Inhalt auf einer Handfläche verteilt, die Hand auf den Asphalt gedrückt-damit die Polizei die Aktivisten nicht wegtragen kann. Mit dem Eintreffen der Beamten beginnt die ruhigere Phase. Die Polizei kanalisiert die Wut der Autofahrer, öffnet Ausweichrouten, ruft den Entklebedienst.

So gut können Aktionen gar nicht geplant sein-in der Praxis entgleisen sie regelmäßig. So weichen entnervte Autofahrer in der Chaosphase immer wieder über Gleisspuren aus und kommen der einfahrenden Straßenbahn in die Quere. Das gefährdet auch Fußgänger. Für lückenlosere Sperren fehlt das Personal. Anders als Medienberichte über die "Bewegung" suggerieren, besteht die "Letzte Generation" im Beobachtungszeitraum gerade einmal aus rund zehn Personen, die sich auf Straßen kleben, nur setzen oder filmen.

Die Rädelsführer

Im Zentrum stehen Krumpeck, Sonnenbaum und die 52-jährige Caroline Thurner, eine Arbeitskollegin Krumpecks. Diese drei "Königsbienen", wie es im internen Jargon heißt, leiten die Straßenblockaden und rekrutieren weitere "Klebebienen".

Die 31-jährige Krumpeck ist Mikrobiologin. Ihr Handwerk als Umweltaktivistin lernte sie bei Straßenblockaden in Berlin. Von dort brachte sie die "Letzte Generation" nach Österreich mit. Ihre kompromisslose Haltung stellte Krumpeck mit einem fünfwöchigen Hungerstreik vor der Wiener SPÖ-Zentrale zur Schau. Sie wollte dem SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig ein Gespräch über den Bau der Stadtstraße in Wien-Donaustadt abpressen. Ludwig blieb hart. Krumpeck verlor elf Kilo. Sie verlagerte ihren Sitzstreik auf die Straße.

Die 52-jährige Caroline Thurner ist Chemikerin und arbeitet mit Krumpeck in einem Labor in Niederösterreich. Die beiden sequenzieren Luftproben auf Schimmelspuren für eine private Forschungseinrichtung. Der Arbeitgeber weiß von den Straßenaktionen.

Der 34-jährige Sonnenbaum war Freizeitpädagoge in Wiener Volksschulen und engagiert sich schon lange für die Rettung weggeworfener Lebensmittel. Mittlerweile hat er sich Vollzeit dem Klimaaktivismus verschrieben. Wovon lebt er? Sein Essen holt er aus den Müllräumen der Supermärkte, seine Kleidung aus dem "Kostnix"-Laden, die Miete zahle er aus Erspartem.

Plakate, Flyer, Banner und Superkleber finanzieren die Aktivisten über einen sogenannten Climate Emergency Fund. In diesen Fonds zahlen laut Thurner "reiche Leute ein, die ein schlechtes Gewissen haben". Wer diese Gönner genau sind, wisse sie nicht. Thurner gibt an, demnächst über den Fonds ein freiberufliches, versteuertes Nebeneinkommen über 20 Wochenstunden Aktivismus zu beziehen-über eine Kontaktadresse in Deutschland. Mehr verrät sie nicht.

Die Aktivist:innen haben sich an Klebereste und Wunden auf ihren Händen gewöhnt. 

Die Rekrutierung

Sonntag, 2. Oktober, Wien, Donaukanal, 18 Uhr. Unter der befahrenen Friedensbrücke schult Krumpeck angehende Aktivisten rechtlich, praktisch und ideologisch für ihren Einsatz am nächsten Tag. Gekommen ist die 21-jährige Mirjam, die in Wien Umweltressourcenmanagement studiert. Sie war regelmäßig im Lobaubleibt-Camp und stieß dort auf die "Letzte Generation". Sie registrierte sich in der Signal-Gruppe und wurde von dort aus angerufen und eingeladen. Mirjams Studienkollege, der 24-jährige Lorenz Trattner, ist zum Training gekommen, weil "ich schon länger vorhabe, mich anzukleben". Der 23-jährige Volkswirtschaftsstudent Leon aus Graz hat in Schweden Erfahrungen mit Klimaaktivismus gesammelt. Alle drei nennen ihre echten Namen und lassen sich freimütig fotografieren. Das gehört zur Strategie und soll die Entschlossenheit der "Letzten Generation" untermauern.

"Wenn sich 1000 Menschen täglich ankleben, kann der Staat unsere Anliegen nicht mehr ignorieren. Und die Richter werden uns nicht mehr einsperren, weil sie begreifen, dass wir recht haben", sagt Krumpeck. Mit ihrem Versprechen will sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen und Ängste vor Strafen nehmen. Im Unterschied zu Deutschland greife in Österreich nicht das Strafrecht, sondern das Verwaltungsstrafrecht, beruhigt sie-"wie beim Falschparken oder bei Rot über die Ampel gehen".

Tatsächlich fassen die Aktivisten nach ihren Aktionen "nur" Verwaltungsstrafen in der Höhe von rund 150 Euro aus. Krumpeck hält den Rekord, bezahlt die Strafen aber aus Prinzip nicht. Deswegen muss sie wenige Tage nach dem Einsatztraining eine Ersatzfreiheitsstrafe über 42 Tage antreten. Wie beim Hungerstreik will sie auch im Gefängnis Vorreiterin sein. "Der Weg der Veränderung findet über die Gefängnisse statt", sagt sie gerne.

Beim Einsatztraining will Krumpeck wissen, wie weit die Schulungsteilnehmer bereit wären, zu gehen. "Geldstrafe ja, Gefängnis muss ich noch überlegen", sagt Leon. "Bei mir wäre bei einem halben Jahr die Grenze", sagt Sonnenbaum. "Ich nehme Gefängnis fast in Kauf", sagt Mirjam. Krumpeck lächelt zufrieden.

Und zu welchen Aktionen sind die Teilnehmer bereit? Wie weit würden sie gehen? Das loten Krumpeck und Sonnenbaum am Donaukanal mit einer Gruppenaufstellung aus, entlang von vier Quadranten. Der Quadrant "legal und legitim" wäre ein Schülerstreik. Im Quadranten "illegal, aber legitim" siedelt Krumpeck das Ankleben auf der Straße an-illegal nach dem Verwaltungsstrafrecht, legitim, weil es einem höheren Ziel diene. Frage: In welchem Bereich siedeln die Teilnehmer Sachbeschädigung an? Nur Mirjam wechselt in den Quadranten, der für illegal und illegitim steht. Die anderen bleiben bei "illegal, legitim" stehen. Nächste Frage: Wie wäre die Entführung des Sohnes eines Ölmagnaten zu werten? Alle wechseln in den Quadranten illegal und illegitim. Das sei auch gut so, betont Krumpeck die Gewaltfreiheit der Aktionen.

Nach dem Praxistraining folgt die entscheidende Frage. Wer ist morgen dabei? Und wer klebt sich an? "Muss man sich ankleben?",fragt Leon. "Nein. Aber das Ankleben zeugt von Entschlossenheit", sagt Krumpeck. Unerschrocken meldet sich Lorenz an die Klebefront. Mirjam ist bei diesem Einsatz nicht dabei, wird aber drei Wochen später für Schlagzeilen sorgen. Angeklebt am Wiener Praterstern schlägt ihr ein wütender Autofahrer ins Gesicht. Ein Radfahrer filmt, das Video geht viral.

 

Die Ideologie

Um sich in der Klimaszene zu radikalisieren, muss man nicht wie Rechtsextreme an eine Rasse oder wie Islamisten an ultrareligiöse Vorschriften glauben. Es genügt, wissenschaftliche Prognosen über den Klimawandel als extrem wichtig zu sehen. Oder das Erderwärmungsziel von 1,5 Grad, wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart. "Wir sind mit nichts bewaffnet als mit streng überprüfter Wissenschaft", akklamierten britische Klimaaktivisten bereits 2007. Um ihre Untergangsszenarien zu untermauern, zitiert die "Letzte Generation" am liebsten den früheren britischen Regierungsberater und Klimaexperten Sir David King, der sagt: "Was wir in den nächsten fünf Jahren tun, wird das Schicksal der Menschheit entscheiden." Oder UNO-Generalsekretär António Guterres: "Wir haben die Wahl: Gemeinsames Handeln oder gemeinsamer Selbstmord."

Der Bezug zur Wissenschaft mache sie "vielleicht gerade für Studenten anziehend", meint Extremismusforscher Peter Neumann über die "Letzte Generation". Nichtsdestotrotz sei "die Bewegung extrem, weil sie ihr Anliegen über das Recht und demokratische Prozesse stellt" (siehe Interview). Er sieht im Denken der Gruppe alle Kriterien einer klassischen Ideologie erfüllt und kann sich in Zukunft auch gewaltbereite Splittergruppen vorstellen. "Die Zeit läuft uns davon. Alle werden sterben. Wenn man dieser Auffassung ist, dann sind natürlich praktisch alle Mittel legitim, um die Krise abzuwenden."

Krumpeck drückt es so aus: "Wir erleben das größte Massenvernichtungsprogramm aller Zeiten, das die halbe Menschheit auslöscht, sollten wir die Klimakippunkte überschreiten."

Bisher blieben die Aktionen der "Letzten Generation" gewaltfrei. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz hat die Szene und ihre Protagonisten dennoch im Visier. Warum kann die Polizei das wöchentliche Klebechaos im Frühverkehr dann nicht verhindern?

Im Oktober wurde in Wien im Wochentakt "geklebt."

Die Verfolger

Ein Sprecher der Wiener Polizei selbst sagt: "Ort und Zeit solcher Aktionen sind in der Regel nicht bekannt. Eine rechtliche oder faktische Möglichkeit, solche Aktionen im Vorfeld zu unterbinden, ist aus polizeilicher Sicht nicht möglich." In der Praxis beweisen einzelne Beamte das Gegenteil.

Mittwoch, 12. Oktober, Wien, Nussdorfer Straße, 8.31 Uhr: "Bienenkönigin" Thurner leitet die Blockade des vierspurigen Gürtels. Krumpeck sitzt im Gefängnis, Sonnenbaum muss zur polizeilichen Einvernahme wegen der Aktion im Naturhistorischen Museum. Dafür ist Lorenz Trattner wieder dabei. Auf seiner Klebehand sind keine Spuren von der letzten Aktion zu sehen. Mirjam will sich heute zum ersten Mal ankleben. Noch stehen sie aufrecht und halten ihre Banner in die Höhe. Die Stimmung bei den Autofahrern ist explosiv, eine Frau berührt mit ihrem SUV bereits das Knie einer Aktivistin. Die ersten Polizeisirenen ertönen. Die "Klebebienen" zücken ihre Tuben. Doch die Polizei ist schneller. Bevor die Hände den Boden berühren, stürmen Beamte auf die Kreuzung, schnappen die Aktivisten unter den Armen und ziehen sie weg. Rasch löst sich der Stau auf.

Verinnerlicht hat die Polizei ihre Blitztaktik noch nicht. Bei einer größeren Blockade drei Wochen später werden Polizisten den Aktivisten beim Ankleben zusehen.

Montag, 17. Oktober, Wien, Rossauer Lände, 7.50 Uhr. Krumpeck kommt mit einem Rollkoffer aus dem Polizeianhaltezentrum. Sonnenbaum, Thurner und zwei weitere Aktivisten empfangen sie. Spender haben ihre Ersatzfreiheitsstrafe von 42 auf 12 Tage verkürzt. "Ich bin zurück aus dem Urlaub", kokettiert Krumpeck. "Genug ausgeschlafen. Die Arbeit ruft. Ich bin gespannt, welche Aktion meine Freunde sich ausgedacht haben." Sie haben eine Blockade der Ringstraße vor der Staatsoper geplant. Die Gruppe geht zur U-Bahn. Krumpeck schaut sich um. Sie geht davon aus, verfolgt zu werden. Immerhin ist Montagfrüh.

Wien, Karlsplatz, 8.27 Uhr. Sonnenbaum verteilt auf einem Grünstreifen Banner und Schutzwesten aus seinem Lastenrad. Plötzlich sagt er: "Wir haben einen Beschatter." Kurze Pause. Hektisches Umsehen, fragende Blicke. Sonnenbaum sagt: "Ziehen wir es durch, egal, was passiert. Folgt mir." Sie gehen die Treppen hinunter zur Linie U4. Nun ist sich auch Thurner sicher: "Es sind zwei Personen." Um die Verfolger abzuschütteln, warten sie vor einem Lift und steigen in letzter Sekunde ein. Danach teilen sie sich auf, fahren Rolltreppen auf und ab, finden auf einem anderen Bahnsteig wieder zusammen. Das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei hat offenbar geklappt. Nur die "Elterntaxis" erwischen sie wegen der Verzögerung nun nicht mehr, beklagt ein Teilnehmer. Um 8.40 Uhr betreten sie bei Rot die Ringstraße, ziehen die Westen an und blockieren den Frühverkehr. Aus der gescheiterten Aktion am Gürtel haben sie gelernt. Dieses Mal setzt sich die Gruppe schon in der ersten Rotphase auf den Boden und klebt sich an, bevor Polizeisirenen zu hören sind. Der Verkehr steht für 40 Minuten.

Die Zukunft

Donnerstag, 3. November, Café Prückel, 10 Uhr. Nach einer großen Blockade der linken und rechten Wienzeile sowie des Getreidemarktes am Montag ziehen Sonnenbaum und Krumpeck bei einer Pressekonferenz Bilanz. Und sie kündigen die Verlagerung des Protests in andere Bundesländer an. "In Graz, Linz und Innsbruck stehen die Aktivisten schon in den Startlöchern, andere Länder wie Salzburg und Kärnten werden folgen", sagt Krumpeck. In Wien werde es ab 9. Jänner wieder losgehen-"mit noch mehr Menschen, mit noch mehr Mut, mit noch mehr Engagement". Der große Traum: eine Autobahnblockade.

Krumpeck und Sonnenbaum tun so, als würde ihre "Bewegung" stetig wachsen. In Wahrheit hängt sie an einem seidenen Faden. Das zeigt ein Vorfall am vergangenen Montag in Berlin, für den sich nun auch die österreichischen Aktivisten rechtfertigen müssen. In Berlin war eine 44-jährige Radfahrerin unter einen Betonmischer geraten und hatte sich lebensgefährlich verletzt. Einsatzkräfte der Berliner Feuerwehr waren wegen Klimademonstranten, die die Stadtautobahn A 100 blockierten, verspätet am Unfallort eingetroffen. Die Aktivisten sehen die Schuld bei den Berliner Autofahrern, die keine Rettungsgasse gebildet hätten: "Wir halten prinzipiell eine Rettungsgasse frei, mindestens eine Spur steht immer zur Verfügung, wo niemand angeklebt ist", sagt Krumpeck. Kurz nach Ende der Pressekonferenz kommt die Meldung: Die Berliner Radfahrerin wurde für hirntot erklärt. Aktualisierung: Nach Einschätzung der behandelnden Notärztin hatte es keine Auswirkungen auf die Rettung der verletzten Frau, dass der Wagen nicht zur Verfügung stand.
 
Solche Vorfälle erhöhen den Druck auf den Gesetzgeber, Klimakleber härter zu bestrafen. Laut der aktuellen profil-Umfrage lehnen 55 Prozent der Österreicher die Aktionen der "Letzten Generation" rundum ab und fordern strengere Strafen. 27 Prozent verstehen ihre Ziele, finden die Methoden aber zu extrem. Neun Prozent befürworten die Straßenblockaden, weil alles andere gegen die Klimakrise nichts gebracht hätte. Gegner und Sympathisanten der Aktionen kommen sich bei den Klebeaktionen immer wieder in die Quere. "Es sind schon Leute gestorben wegen diesen Trotteln"-"Haben Sie Beweise? Wegen des Klimawandels sterben Millionen", so eine Diskussion auf der rechten Wienzeile vergangenen Montag.

Vorfälle wie jener in Berlin erhöhen auch den Druck auf die Aktivisten. Diese leben schon jetzt im permanenten Ausnahmezustand. Wie lange halten sie ihre extreme Protestform durch? Sonnenbaum sagt: "Ich gehe nicht von der Straße, bis unsere Forderungen umgesetzt sind oder die Todesstrafe für Klimaproteste eingeführt wird." Auch Krumpeck hat ihr Leben dem Aktivismus verschrieben und wird nicht so schnell weichen.

Caroline Thurner ist seit vier Jahren kämpferische Klimaaktivistin. Bei ihrer letzten Klebeaktion auf der rechten Wienzeile wurde sie von einer Autofahrerin mit Wasser übergossen. Im Sommer hat sie erstmals für sechs Wochen pausiert. "Ich lebe in einer Realität, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Alle leben vor sich hin, obwohl der Hut brennt. Das ist extrem belastend." Privat hat sich Thurner von allen Menschen getrennt, die sie nicht unterstützen. Ihre 23jährige Tochter arbeitet bei einem Rechtsanwalt, der die Klimaaktivisten juristisch unterstützt. "Es interessiert mich nicht mehr, über Kleinigkeiten Small Talk zu führen, ob eine Hose zu kurz oder zu lang ist, wenn unser Klimaproblem so groß ist",sagt Thurner. Diesen Zustand, an nichts mehr anderes denken zu können, nennen die Aktivsten "Klimadepression".

Wie lange wird sich die 52-Jährige noch ankleben? "Wir werden uns nie fügen. In zwei bis drei Jahren hat es aber ohnedies keinen Sinn mehr, dann sind die Kipppunkte überschritten."

Montag, 31. Oktober, Wienzeile, 8.30 Uhr. Thurner blockiert die rechte, Student Trattner die linke Wienzeile, Sonnenbaum und Studentin Mirjam die Zufahrt vom Getreidemarkt. Die Beine der 21-jährigen Studentin ragen unter die Motorhaube eines Taxis, so nahe ist es ihr gekommen. Die Scheinwerfer sind auf ihren Hals gerichtet. Sie strahlt erhobenen Hauptes zurück, scheint angekommen in ihrer "Ideologie", wie sie es bezeichnet. Der Faustschlag am Praterstern hat sie nicht entmutigt. Im Gegenteil, sie freut sich, dass Radfahrer dagegen protestierten. Um ihre berufliche Zukunft macht sie sich keine Sorgen. Sie will sich nach dem Studium selbstständig machen, in einem Umfeld, das ihren Aktivismus goutiert. Und ihre Eltern? "Die finden meinen Einsatz fürs Klima gut, machen sich aber Sorgen, wenn sie mich schutzlos auf der Straße sitzen sehen. "Sie sage ihnen dann: "Vor der Klimakrise habe ich mehr Angst."

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.