Oberösterreichs SPÖ-Chef: „Man muss jeden Stein in der SPÖ umdrehen“
Von Iris Bonavida
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Ich möchte Ihnen einen offenen Brief aus der SPÖ vorlesen. „Die Wahl eines neuen Vorsitzenden ist nur ein kleiner Schritt: Die Herausforderung besteht darin, die SPÖ zu einer demokratischen Mitmachpartei umzubauen, die politische Visionen hat und der die WählerInnen auch zutrauen, dass sie es kann.“ Würden Sie ihn heute unterschreiben?
Lindner
Diese politischen Ziele teile ich, aber so eine Entwicklung ist ein langfristiger Prozess. Man kann ihn auch nicht an Einzelpersonen festmachen, sondern muss in einer gründlichen Analyse jeden Stein in der SPÖ umdrehen.
Den offenen Brief haben Sie schon unterschrieben – 2016, als Christian Kern die SPÖ übernommen hat. Heute ist der Brief immer noch aktuell. Was sagt das über die SPÖ aus?
Lindner
Was die Mitmachpartei betrifft, habe ich die Inhalte für mich mitgenommen. Ich habe mich unter anderem als Landesvorsitzender der SPÖ einer Direktwahl gestellt. Das fehlende Vertrauen ist aber offenbar geblieben. Bei der vergangenen Nationalratswahl blieb die SPÖ bei ihrem historisch schlechtesten Ergebnis von 21 Prozent. Das Wahlergebnis war eine herbe Enttäuschung, das muss man offen sagen. Wenn die Bundesregierung Vertrauen verliert, Bierpartei und KPÖ nicht reüssieren und die Sozialdemokratie nichts dazugewinnt, haben wir große politische Probleme.
Was ist der Ursprung dieser Probleme?
Lindner
Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie mit ihren tagtäglichen Problemen von der etablierten Politik wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Wir als Sozialdemokratie müssen weg von diesem Eindruck einer moralischen Überheblichkeit.
Was war moralisch überheblich im Wahlkampf?
Lindner
Wir müssen die Ängste der Menschen, also Teuerung und Klimawende, aber vor allem Schutz, Sicherheit und Asyl ernster nehmen und nicht moralisierend wegwischen. Viele glauben, dass wir hier Scheuklappen aufhaben. Aber so ist es ja nicht. Es braucht Signale der Sozialdemokratie, dass wir Ordnung und Grenzschutz wollen. Das ist kein Gegensatz zu Menschlichkeit.
Die SPÖ hat im Juni das sogenannte Kaiser-Doskozil-Asylpapier neu präsentiert. Hätte man es im Wahlkampf stärker propagieren sollen?
Lindner
Wenn ein Thema die Menschen tagtäglich bewegt und wahlentscheidend ist, können wir uns nicht darüber hinwegschwindeln. Mein Bestreben ist, dass die Sozialdemokratie pragmatischer wird. Die inhaltliche Klarheit ist mit dem Kaiser-Doskozil-Papier ja gegeben: Wir wollen einen funktionierenden Außengrenzschutz und Asylanträge an den EU-Außengrenzen. Ich bin auch für ein verpflichtendes Integrationsjahr.
Dass man die Sorgen ernst nehmen muss, hört man seit Jahren. Kann es sein, dass die SPÖ schlicht keine klare Linie hat?
Lindner
Wir hatten in den letzten Jahren viel eher nicht den Mut, mit der notwendigen Klarheit zu sprechen. Auch wegen der Schmied-Schmiedl-Debatte. Das Thema muss Teil eines Dreiecks sein: eine fortschrittliche Sozialpolitik, klare Aussagen zu Schutz und Sicherheit und eine pragmatische Wirtschafts- und Industriepolitik. Dann würden uns die Menschen wieder stärker abnehmen, dass wir ein Land auch führen können.
Die FPÖ hat in ländlichen Gebieten aufgeholt, die SPÖ liegt dort unter dem bundesweiten Ergebnis. Begründen Sie das auch mit dem Asylthema?
Lindner
Viele im ländlichen Raum haben das Gefühl, dass sie zurückgelassen werden. Ein Beispiel aus meiner 2000-Einwohner-Gemeinde Kefermarkt im Mühlviertel: Pendlerinnen und Pendler hören aus dem Bund von der CO2-Bepreisung, sind aber auf das Auto angewiesen. Wenn der Staat dann nicht die öffentlichen Verkehrsmittel vor Ort attraktiviert, wird das als Bevormundung wahrgenommen. Man muss die Infrastruktur stärken. Ich habe in der Bundespartei Forderungen für den ländlichen Raum mitausgearbeitet.
Unter anderem mit Öffis im Halbstundentakt. Das heißt, dass die ländliche Bevölkerung der SPÖ nicht vertraut, diese Probleme zu lösen, sonst hätte sie sie ja gewählt.
Lindner
Weil sie in der Vergangenheit wahrgenommen hat, dass wir in vielen Bundesregierungen diese Probleme nicht so stark wie nötig angegangen sind. Da haben wir, wie die ÖVP, als ehemalige Große Koalition sicherlich manches Vertrauen verspielt.
Der Weg in Richtung Regierungsverhandlungen wird der Reality-Check für Andreas Babler sein.
Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil sagt, Stimmen von den Grünen zu bekommen, ist für die SPÖ keine nachhaltige Strategie.
Lindner
Wenn wir uns nur mit Leihstimmen der Grünen stabil auf dem Niveau des schlechtesten Wahlergebnisses von 2019 halten konnten, können wir mit diesem Wähleraustausch nicht zufrieden sein. Dann werden wir sukzessive schlechter oder vom taktischen Wählen abhängig. Deswegen müssen wir wieder viel mehr um die politische Mitte kämpfen.
Die SPÖ muss also als Partei mittiger werden?
Lindner
Aus meiner Sicht ja. Es ist wichtig, idealistische Vorstellungen und langfristige Ziele zu haben.
Wie die Arbeitszeitverkürzung?
Lindner
Das ist ein Beispiel dafür, dass man diese Visionen braucht. Aber wir brauchen dazu eben auch einen Reality-Check, damit die Menschen darauf vertrauen, dass wir Dinge umsetzen können. Sie haben ein Gefühl dafür, was realistische oder unrealistische Versprechen sind. Wir müssen konkreter, pragmatischer und wieder vertrauenerweckender werden.
Ist die Arbeitszeitverkürzung unrealistisch?
Lindner
Sehr viele Menschen sehen die Schere zwischen der Forderung nach einer 32-Stunden-Woche und dem massiven Arbeitskräftemangel. Und ich kann das nachvollziehen.
Die SPÖ will keine Obmanndebatte. Andreas Babler steht für einen pointierten linken Kurs. Ist das, wofür Andreas Babler steht, derzeit nicht das Richtige für die SPÖ?
Lindner
Der Weg in Richtung Regierungsverhandlungen wird der Reality-Check für Andreas Babler sein. Wir haben es mit einem progressiven Anti-Establishment-Kurs im Habitus und in der Wahlkampfführung versucht. Gewonnen hat dann allerdings der rechte Anti-Establishment-Kurs. Das müssen wir nüchtern zur Kenntnis nehmen und uns im Team neu dazu ausrichten.
Mit wem?
Lindner
Es braucht idealistische und kämpferische Menschen wie Andreas Babler an der Spitze der SPÖ, aber das Team rund um ihn muss auch Signale Richtung Wirtschafts- und Industriepolitik, Schutz und Sicherheit abgeben. Nach dem alten Motto: Leistung, Aufstieg, Sicherheit. Ich traue Andreas Babler diese inhaltliche Breite zu. Personen für so ein Team gibt es genug, ich werde aber keine Namen nennen.
Die SPÖ erhielt unter der Arbeiterschaft 20 Prozent, die FPÖ 50 Prozent. Hat die Sozialdemokratie kollektiv versagt?
Lindner
So ein Ergebnis macht mich betroffen. Es zeigt, dass wir zwar auf der einen Seite bei Personalvertretungswahlen mit den sozialdemokratischen Gewerkschafter:innen sehr gut reüssieren können, was konkrete Themen wie Arbeitsrecht und Entlohnung betrifft. Aber offensichtlich nehmen uns Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr ab, diese Probleme für sie lösen zu können. Wir müssen in den Betrieben stärker präsent sein, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Ich nehme mir das zumindest für Oberösterreich gut vor.
Hans Peter Doskozil sagt, sein Zugang wäre, sich in einer Oppositionsrolle komplett neu zu hinterfragen. Sie sind aber eher für eine Koalition?
Lindner
Das mit dem Erneuern in der Opposition haben wir uns schon oft vorgenommen, es hat nicht immer funktioniert. Ich bin offen für Sondierungsgespräche, aber wir können keine Politik mit einem sozialen Kahlschlag akzeptieren. Alle werden viel Beweglichkeit brauchen.
Sind Vermögenssteuern für Sie eine rote Linie?
Lindner
Ich bin kein Fan davon, am Anfang von Verhandlungen Red Flags zu positionieren.
Andreas Babler hat das gemacht.
Lindner
Es ist klar, dass wir die erwerbstätige Bevölkerung finanziell entlasten müssen. Aber zuerst muss die ÖVP erklären, wie sie mit einem Milliarden-Budgetloch ihre Versprechen halten will, ohne über neue Besteuerungen zu reden.
Wie sehr schmerzt es Sie, dass SPÖ und ÖVP auch die NEOS brauchen werden, weil es sich zu zweit nicht ausgeht in einer Regierung?
Lindner
Es fordert uns als Sozialdemokratie, politisch beweglicher zu werden. Für mich sind auch die Grünen weiterhin eine Möglichkeit, die würde ich auch konkret mit ins Spiel nehmen.
PR-Berater Rudi Fußi sammelt Unterschriften, um als SPÖ-Chef zu kandidieren. Dafür will er alle Landesparteichefs treffen. Werden Sie ihn empfangen?
Lindner
Ich habe Rudi Fußi schon in der Sozialistischen Jugend kennengelernt und schätze an ihm, dass er sich wichtige Gedanken zur Sozialdemokratie macht. Ich sehe aber keine Veranlassung, eine Kandidatur von ihm zu unterstützen oder sonderlich viel Zeit und Energie reinzustecken.
Wieso passiert es der SPÖ so leicht, dass jemand, der plötzlich kandidieren möchte, Unruhe hineinbringt?
Lindner
Ich schätze ja unsere offene Diskussionskultur. Aber wir haben noch nicht die Frage beantwortet, was eine moderne Sozialdemokratie nach diesen Krisenjahren und tektonischen Wahlverschiebungen ist und was es für die nächsten 20 Jahre braucht. Unser Ziel muss eine sozial-ökologische Fortschrittspartei sein. Das Zukunftsbild ist noch nicht klar genug, um es gemeinsam zu sehen. Deswegen haben manche Einzelakteure zu viel Boden, um sichtbar zu werden.
Michael Lindner
Der 41-Jährige ist seit Oktober 2022 SPÖ-Chef in Oberösterreich und Landesrat für Tierschutz und Jugendhilfe in der von ÖVP und FPÖ geführten Proporz-Regierung.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.