Lockdown-Verlängerung: Warum die Politik dafür kaum belastbare Fakten hat
(Anmerkung: Dieser Artikel ist in profil 5/2021 vom 31.Jänner erschienen. Am Montag Abend hat die Regierung verkündet, dass es vorerst leichte Öffnungen in erster Linie für den Handel und bei den Schulen geben wird.)
Die Corona-Ampel bleibt rot, und zwar überall in Österreich. Das entschied die Expertenkommission in ihrer Sitzung am vergangenen Donnerstag. Zwar müsste man eigentlich 19 Bezirke und das Bundesland Wien umgehend auf orange schalten, hieß es in der Stellungnahme. Aber leider gebe es nach wie vor "keine belastbare Evidenz zum Ausmaß und zur Verbreitung der neuen Virus-Mutante(n)". Es sei wahrscheinlich, dass diese "eine erhöhte Dynamik im Infektionsgeschehen entfalten".
Auch schon egal, könnte man sagen. Schließlich herrscht Lockdown. Wenn Schulen, Geschäfte, Restaurants und Hotels sowieso zu sind, hilft es den Bewohnern der orangen Bezirke auch nichts, dass Indoor-Veranstaltungen theoretisch mit 250 Gästen stattfinden dürften. Aber dass die Corona-Ampel ausgerechnet jetzt quasi den Dienst einstellt, ist doch bemerkenswert. Möchte wirklich niemand mehr wissen, wo die Corona-Hotspots liegen und wo es schon besser läuft? Auf Basis welcher Fakten will die Regierung entscheiden, wie es weitergeht? Wird das Stochern im Nebel jetzt zum System gemacht?
Am 7. Februar müsste Lockdown Nummer drei eigentlich enden. Am Montag will Türkis-Grün entscheiden, was danach kommt. Nimmt man die Stellungnahmen der vergangenen Tage als Maßstab, sind wohl keine großen Lockerungen zu erwarten. Gesundheitsminister Rudolf Anschober gab als Ziel wieder einmal eine Sieben-Tage-Inzidenz (Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner) von weniger als 50 an. "Das bedeutet 800,700 Neuinfektionen pro Tag, so in dieser Größenordnung",erklärte er. Derzeit liegt die Inzidenz bundesweit etwa doppelt so hoch. Wie dieser Wert halbiert werden soll, verriet der Minister nicht.
Lockdown und Kollateralschäden
Es ist sehr fraglich, ob weitere Wochen im Lockdown viel bringen würden - außer noch schlimmere Kollateralschäden. Die Zahl der Neuinfektionen ging zuletzt zwar zurück, aber nur langsam. In diesem Tempo wird es Ostern, bis Anschober Vollzug melden kann. Weitere Verschärfungen wären natürlich auch denkbar. Aber schon jetzt lässt die Bereitschaft der Bürger deutlich nach, sich dem Pandemieregime ohne Murren zu unterwerfen. "Die Stimmung kippt", diagnostizierte jüngst der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter. Außerdem kommt Rudolf Anschober langsam mit dem Epidemiegesetz aus dem eigenen Haus in Konflikt: Die derzeit geltenden drastischen Maßnahmen sind an die Bedingung geknüpft, dass andernfalls ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems drohen würde. Davon kann derzeit keine Rede sein.
Die Ampel war im Sommer unter großen Mühen aufgebaut worden, um weitere Lockdowns zu verhindern. Richtig funktioniert hat sie nie, weil die Politik von Anfang an zu stark hineinregierte. Nicht einmal zwei Wochen nach dem Start am 4. September sah sich Bundeskanzler Sebastian Kurz veranlasst, aus dem ehrgeizigen und an sich sinnvollen Projekt einen reinen Debattierklub zu machen: "Das eine sind Ampelschaltungen, das andere sind Entscheidungen", erklärte er. Und Entscheidungen treffe ausschließlich die Bundesregierung.
Nutzlose Ampel
Jetzt gibt es nicht einmal mehr Ampelschaltungen. Mit der Ankündigung, die regionale Risikobewertung bis auf Weiteres auszusetzen, hatte sich die Expertenkommission vor zwei Wochen faktisch selbst aus dem Spiel genommen. Die Idee dazu war bei der Sitzung am 14. Jänner von Herwig Ostermann, Geschäftsführer der staatlichen Gesundheit Österreich GmbH (GÖG),gekommen und mit dem Gesundheitsministerium akkordiert. Nicht alle in der Kommission sind damit einverstanden: "Es ist ein bisschen billig, alles auf die Virusmutationen zu schieben", meint ein Mitglied. "Im Moment wissen wir nicht einmal, ob dieses veränderte Virus nicht schon seit Monaten in Österreich kursiert und der Höhepunkt der Verbreitung vielleicht schon vorbei ist." Die Protokolle der Sitzungen am 14. und am 21. Jänner liegen profil vor. Sie zeigen, dass die Meinungen im Gremium oft weit auseinander gehen. Weil von 20 Mitgliedern elf von der Regierung entsandt wurden, setzt sich die türkisgrüne Linie aber bei jedem Disput durch.
Gerade jetzt wäre es wichtig, einen differenzierten Blick auf das Land zu werfen. Die Corona-Zahlen unterscheiden sich regional nämlich gewaltig:
Der aktuell beste Bezirk, Steyr in Oberösterreich, weist eine Sieben-Tage-Inzidenz von nur 26,3 auf. Auf dem zweiten Platz liegt Landeck in Tirol mit einem Wert von 36. Es ist für die Bürger dieser Regionen wohl schwer einzusehen, dass sie nach wie vor nicht zum Friseur, ins Kaffeehaus oder ins Fitnesscenter gehen können. Auf der anderen Seite des Rankings befindet sich der Bezirk Lungau in Salzburg mit einer Inzidenz von mehr als 500. Dort lassen sich Einschränkungen leichter begründen.
Auf Ebene der Bundesländer müsste Wien längst orange leuchten. Die Voraussetzungen dafür wären schon seit mehreren Wochen gegeben. Seit 19. Jänner liegt etwa die Inzidenz unter 100, aktuell bei 90. Ebenfalls gut im Rennen ist Oberösterreich mit derzeit 91. Nimmt man als Maßstab die sogenannte "risikoadjustierte Inzidenz", bei der neben den reinen Fallzahlen unter anderem auch die Anzahl der Tests, das Alter der Infizierten und die Aufklärungsrate beim Contact-Tracing bewertet werden, sieht es für die Bundeshauptstadt noch besser aus: Der Wert für Wien liegt derzeit bei nur 65,9. Eben die Gewichtung dieser Faktoren will die Ampel-Kommission aber jetzt überarbeiten. Im Wiener Rathaus hält man das für eine Bosheit von Türkis-Grün: Es sei schon ein bisschen seltsam, dass die Kriterien just zu dem Zeitpunkt geändert würden, an dem das rot-pinke Wien davon profitiert hätte, heißt es. Sowohl der Bürgermeister als auch sein Gesundheitsstadtrat sprachen sich zuletzt für Lockerungen nach dem 7. Februar aus. "Wir brauchen eine Öffnung mit Hirn", erklärte etwa Peter Hacker im ORF-Radio. Und damit sei auch die Gastronomie gemeint, präzisierte er auf Nachfrage.
Simples Zusperren bringt keine Gewissheit
Dass simples Zusperren nicht immer die gewünschten Erfolge bringt, zeigt sich am Beispiel Salzburg. Ende September des Vorjahres hatte der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer für sein Bundesland als einer der Ersten strengere Maßnahmen inklusive einer auf 22 Uhr vorverlegten Sperrstunde verfügt. Seit Mitte November ist Salzburg - mit Ausnahme weniger Tage - durchgehend Spitzenreiter bei den Neuinfektionen. Woran liegt das? "Unsere Fachleute haben auch keine Erklärung für die Zahlen", sagt der Salzburger Gesundheitslandesrat und Landeshauptmannstellvertreter Christian Stöckl. "Wir werden jetzt aus allen Kläranlagen Proben ziehen und hoffen, dass das Erklärungen bringt. Aber noch rätseln wir." Auch die Salzburger Landessanitätsdirektorin Petra Juhasz ist ratlos: "Eine belegbare Ursache kennen wir nicht. Aufgrund der starken Verbreitung in Österreich ist es schwierig, den Infektionsweg nachzuzeichnen."
Solange keiner weiß, welche Maßnahmen etwas bringen und welche nicht, ist die Pandemiebekämpfung ein Blindflug. Elf Monate Ausnahmezustand wurden leider nicht genützt, um ein paar wissenschaftliche Defizite zu beheben. Vor jedem Lockdown gab es etwa die Zusicherung, das Contact-Tracing jetzt aber wirklich zu verbessern. Gelungen ist das nicht. Die Aufklärungsquote ist bundesweit-trotz rückläufiger Fallzahlen-sogar leicht gesunken: In Kalenderwoche 50 des Vorjahres betrug sie 56,1 Prozent, in Kalenderwoche zwei des heurigen Jahres (dem letzten verfügbaren Wert) lag sie bei 55 Prozent. Wenigstens in einzelnen Bundesländern sind die Werte besser: Wien kommt auf über 70 Prozent geklärte Ansteckungsketten, das Burgenland auf 68 Prozent. Dafür schaffen die Steirer nur 36 und die Kärntner nur 35 Prozent.
Ein geklärter Fall bedeutet allerdings nicht unbedingt einen großen Erkenntnisgewinn. Laut AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) waren zuletzt über 60 Prozent der Corona-Cluster dem Bereich Haushalt zuzuordnen. Mit diesem Wissen lässt sich wenig anfangen; wichtiger wäre es, zu ergründen, wie das Virus in die Haushalte hineinkam. Sind es wirklich verbotene Garagenpartys, über die in Medien so gerne berichtet wird? Oder stecken sich die Menschen auch bei weniger unterhaltsamen Aktivitäten an? Im Protokoll der Ampel-Sitzung vom 21. Jänner ist von einigen Firmenclustern in Niederösterreich die Rede. Ob es sich um Einzelfälle handelt oder dahinter ein Systemrisiko stecken könnte, wurde laut Protokoll nicht erörtert-weil es schlicht niemand weiß: "Wir können in Österreich nicht einmal verknüpfen, welche Berufsgruppen besonders betroffen sind. Weiß man darüber Bescheid, kann man viel schneller und gezielter Schutzmaßnahmen setzen", kritisierte Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien (IHS), jüngst.
Streifall Skifahren
Die dürftige Faktenlage befördert giftige Debatten wie jene um das Skifahren. Laut aktueller profil-Umfrage sind 64 Prozent der Österreicher dafür, die Skigebiete zu schließen. Es dürfte sich um jenen Anteil der Bevölkerung handeln, der den Sport selbst nicht betreibt. Die Missgunst macht im Lockdown bekanntlich nicht Pause. Epidemiologische Gründe für ein Verbot gibt es indes kaum: "Die Clusteranalysen zeigen so gut wie keine Fälle, wo die Ansteckung während der Aktivität des Skifahrens passiert ist", erklärte AGES-Expertin Daniela Schmid vor ein paar Tagen in der Tageszeitung "Standard". Diverse Häufungen in Skigebieten seien wohl eher auf gemeinsame Unterkünfte und Treffen nach dem Sport zurückzuführen.
Der gemeinsame Feind aller Pandemiebekämpfer ist derzeit die Virus-Mutation. Zwar gibt es eine Reihe von Experten, die keinen Grund zur Panik sehen. Viren verändern sich, das sei nicht neu. Laut sagt das derzeit aber niemand. Immerhin einigte sich die Ampel-Kommission darauf, dass die britische Mutante wohl nicht um 70 Prozent ansteckender ist als das herkömmliche Virus, sondern eher um 30 Prozent.
Dennoch wird fieberhaft nach Anzeichen für die britische oder südafrikanische Mutation gesucht. Österreich hat es bei dieser Fahndung besonders schwer, weil die Genom-Sequenzierung (also die Untersuchung des Erbguts) der Viren bisher nicht Standard war. Die EU-Kommission veröffentlichte jüngst ein Ranking der Mitgliedsländer nach der Zahl der durchgeführten und publizierten Sequenzierungen zwischen September 2020 und Jänner des heurigen Jahres. Ergebnis: Dänemark ist Erster, Österreich liegt auf dem letzten Platz.
Am Montag werden der Kanzler und einige Minister wieder einmal vor die Medien treten und mitteilen, wie es weitergehen soll. Vielleicht erklären die Herren ausnahmsweise, auf Basis welcher Fakten sie entschieden haben.