Männer, Macht und Millionen: House of Ärztekammer
Von Moritz Ablinger und Max Miller
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Das Gebäude ist so groß, dass es zwei Hausnummern braucht. In der Weihburggasse 10–12, mitten in der Wiener Innenstadt, hat die Österreichische Ärztekammer ihren Sitz. Ausladende Sitzungsräumlichkeiten im ersten Stock, ein Blick über den 1. Bezirk im Obergeschoss und im ganzen Haus Monitore, die auf kommende Veranstaltungen hinweisen. Zu Fuß kann man in fünf Minuten zum Stephansdom spazieren.
Die Ärztekammer war immer eine der mächtigsten Interessenvertretungen des Landes. Doch jetzt legt sich Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) mit ihr an und will sie entmachten. Über den Finanzausgleich zurrte Rauch mit Ländern und Sozialversicherung eine Gesundheitsreform fest, die auch auf Kosten der Ärztekammer geht. Sie soll künftig etwa weniger mitreden können, wie viele Ärzte Kassenverträge bekommen. Die gesetzliche Vertretung der rund 48.000 Ärztinnen und Ärzte wirkt überrumpelt. Denn sie war in den letzten Monaten von der Eskalation interner Streitigkeiten wie gelähmt und hat die Vorankündigungen der Reform versäumt. Dabei begannen die Probleme der mächtigen Kammer nicht erst 2023, ihre gesamte Struktur scheint veraltet, sie ist als Bremsklotz verschrien. Und das viele Geld, das sie zur Verfügung hat, hilft auch nicht mehr.
Lähmende Ermittlungen
Die Missstände in der Kammer beginnen ganz oben. Die Spitze der Ärztekammer ist seit Monaten de facto handlungsunfähig. Grund ist eine frühere Tochterfirma der Kurie niedergelassener Ärzte der Wiener Kammer, die Equip4Ordi. Sie sollte Ordinationen mit Software und Medizingeräten ausstatten. Der Plan ging nicht auf. Equip4Ordi geriet in eine finanzielle Schieflage, die vertuscht wurde. Mit gravierenden Nebenwirkungen: Über Jahre soll es zu persönlicher Bereicherung und finanzieller Misswirtschaft in Millionenhöhe gekommen sein.
Erschwerte Aufklärung
Ein gekündigter Geschäftsführer der "Equip4Ordi" überließ seinen Nachfolgern einen Schrank voller leerer Aktenordner zu den Unternehmungen der Firma.
Drei Beschuldigte behaupten, im Auftrag des damaligen Kurienobmannes gehandelt zu haben – dem heutigen Präsidenten der Wiener und der Österreichischen Ärztekammer, Johannes Steinhart. „Ich kenne die Sachlage sehr genau und weiß, dass die mir vorgeworfenen Tatbestände falsch sind“, erklärt Steinhart gegenüber profil. Die Staatsanwaltschaft Wien ermittelt, für alle Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung.
Politisch führte die Affäre im Frühjahr zu einer überraschenden Allianz gegen den Präsidenten: Neben Vizepräsident Stefan Ferenci forderten auch Teile von Steinharts eigener Fraktion, der ÖVP-nahen „Vereinigung“, seinen Rückzug.
Dem kam Steinhart nicht nach, auch die für eine Absetzung benötigte Zweidrittelmehrheit kam nie zustande. Stattdessen legte Steinhart sein Amt aufgrund eines Krankenstandes von April bis September ruhend. Seine Vertretung war zwar offiziell geregelt, durch die aufgeheizte Situation innerhalb der Kammer war aber bald nicht mehr klar, wer wann für wen sprechen durfte.
Verlorenes Vertrauen
Die Kammer verpasste so wichtige Verhandlungstermine – und Steinhart selbst Mitte Juni auch jene Sitzung der Vollversammlung der Wiener Ärztekammer, in der sich seine „Vereinigung“ zweiteilte: Seitdem ist wieder die Liste von Ex-Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres größte Fraktion in der Vollversammlung. Ende August zeigte Ferenci als offizieller Stellvertreter des erkrankten Steinhart auch Szekeres im Rahmen der Equip4Ordi-Affäre wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs an. Szekeres betonte gegenüber profil, er habe sich nichts vorzuwerfen.
Die Affäre lähmt die Wiener Ärztekammer sowie gute Teile der Bundeskammer, die sich mit der Einordnung, Vorbereitung oder Unterdrückung von Vorwürfen beschäftigen. Hinzu kommt ein massiver Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit – und zwischen den Kammervertretern selbst.
Männerbünde
„Das Bild, das wir derzeit bieten, hilft nicht, junge Leute für die Standesvertretung zu begeistern“, sagt Petra Preiss, die von 2017 bis 2022 in Kärnten als bisher einzige Frau einer Landesärztekammer vorsaß und heute Vizepräsidentin ist. Die Vertretung der Ärzteschaft müsse sich personell verändern, findet auch Johanna Zechmeister, Kurienobmann-Stellvertreterin in Niederösterreich: „Die Kammer bildet die Lebensrealität nicht ab.“ Sie gehört als 33-Jährige zu den jüngsten Funktionsträgerinnen und -trägern.
Man merkt in der Kammer jahrzehntealte Männerbünde.
Denn: Junge Köpfe sind Mangelware, keine einzige Länderkammer wird aktuell von einer Frau angeführt, mehr als ein weibliches Präsidiumsmitglied gibt es nirgends. In Salzburg, Tirol und der Steiermark liegt die Männerquote in den vier- und fünfköpfigen Gremien sogar bei 100 Prozent. Mit dem Berufsalltag hat das nichts zu tun: Im Vorjahr waren unter den angestellten Medizinerinnen und Medizinern beinahe zwei Drittel weiblich, unter den niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzten waren es 42 Prozent.
„Man merkt jahrzehntealte Männerbünde“, sagt Preiss. Grund für den Männerüberhang seien aber auch die Belastungen in der Kammer. Sitzungen, die bis spät in die Nacht dauern, Versammlungen, die mehrere Tage in Anspruch nehmen, viele Termine in Wien: „Der anspruchsvolle Beruf ist mit Familienarbeit schwer genug zu vereinbaren. Zusätzlich eine zeitaufwendige Spitzenfunktion in der Kammer – da verzichten viele“, sagt Preiss. Außer Lippenbekenntnissen zur Frauenförderung sieht sie wenig Veränderung: Bei den letzten Koalitionsverhandlungen in der Bundesärztekammer war klar, dass nicht zwei Spitzenpositionen an dasselbe Bundesland gehen könnten. Aber „null Frauen, das war okay“, grollt Preiss.
Verhandlungsmasse
Hinzu komme, dass man in der komplexen Gremienlandschaft der Ärztekammer nur langsam aufsteigt, wie Preiss sagt: „Wer in der Kammer Karriere machen will, muss langfristig planen.“ Wer es schafft, wird auch finanziell belohnt: In der Ärztekammer hat sich ein System herausgebildet, in dem die bezahlten Posten zur Mehrheitsbeschaffung beitragen. Wenn in der Vollversammlung zu Beginn der Legislaturperiode eine Koalition gebildet wird, wird einer Vielzahl an Mandataren der beteiligten Wahlbündnisse ein Referat zugewiesen. Diese sind eine Art Servicestelle, die Zuständigkeiten reichen von Schulärzten bis zu Medizinern in Pension. Für die Leitung des Referats gibt es zwischen 3200 und 800 Euro monatlich. 51 dieser Referate gibt es laut deren Website aktuell in der Wiener Ärztekammer.
Wie sich damit Politik machen lässt, zeigt die jüngste Koalitionsumbildung in Wien, die bei der Vorstandssitzung am Dienstag beschlossen wurde. Steinhart, nach den Querelen der letzten Monate auf der Suche nach einer stabilen Mehrheit, ging eine Koalition mit seinem Vorgänger und einstigen Rivalen Szekeres ein. „Die konstruktiven Kräfte sind in der Mehrheit“, sagt Steinhart. Um die Angelegenheit zu erleichtern, wurden laut profil-Informationen 15 neue Referate geschaffen und mit Vertrauensleuten der neuen Koalition besetzt. Aus welchem Budget deren Personalkosten gedeckt werden sollen, ist offen. Die Kosten wird die Kammer jedenfalls auch in den nächsten Jahren tragen müssen.
Zum Streiken zu wenig, zum Werben zu viel
An Geld mangelt es der Kammer nicht. Österreichs Ärztinnen und Ärzte statten ihre gesetzliche Interessensvertretung großzügig aus. Genaue Zahlen über den Reichtum der einzelnen Länderkammern sind rar, nur die Wiener und die Bundesärztekammer legen ihre Rechnungsabschlüsse offen. Ohnehin gibt die Wiener Kammer, in der fast ein Drittel aller österreichischen Ärzte Mitglieder sind, den Ton an – auch nach außen: 2020 gab die Ärztekammer Wien laut Daten des NEOS-Abgeordneten Gerald Loacker 1,7 Millionen Euro für Inserate aus, die Bundesärztekammer nur rund 400.000 Euro – zusätzlich zu den monatlichen Magazinen, die die einzelnen Kammern an die Ärzteschaft versenden. Zum Vergleich: Die Arbeiterkammer (AK) soll rund 100 Mal so viele Menschen vertreten wie die Ärtztekammer. 2020 gab die AK mit fünf Millionen Euro aber nur etwa doppelt so viel für Inserate aus.
Um die eigene Entmachtung aufzuhalten, hat die Österreichische Ärztekammer nun bis zu zehn Millionen Euro für Protestmaßnahmen bereitgestellt, aus dem Wiener Kampf- und Aktionsfonds sind fünf Millionen Euro genehmigt. Zum Vergleich: Bei der kommenden Nationalratswahl im Herbst darf keine Partei mehr als 8,6 Millionen Euro ausgeben. Für eine groß angelegte Informationskampagne könnte es dennoch zu spät sein. Die Regierung könnte die Gesundheitsreform beschließen, bevor sich die Sorgen der Kammer auch in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt haben. Die Alternative sind Streiks. Doch die Kampf- und Aktionsfonds bilden auch die Streikkassen der Landeskammern – und gerade im für die Ärzteschaft wichtigsten Bundesland Wien ist der Fonds in den letzten Jahren rapide geschrumpft: Noch 2017 hatte er ein Volumen von 24 Millionen Euro, aktuell dürfte er bei rund 14 Millionen stehen. Lange wird man wegen Streiks geschlossene Ordinationen damit nicht finanzieren können.
Einbetoniertes Image
„Außenpolitische Themen sind jetzt wichtiger als internes Hickhack“, erklärte der Wiener Vizepräsident Ferenci letzte Woche bei einer Pressekonferenz zur Unzufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte in Wiens Spitälern. Tatsächlich steht für die Ärztekammer nun viel auf dem Spiel: Lernen Bund, Länder und Sozialversicherungen, dass Reformen ohne Ärztevertreter leichter umsetzbar sind, könnte die Kammer ihren Sitz am Verhandlungstisch dauerhaft verlieren.
Selbst harte Kritiker der Kammer sehen darin eine Gefahr, denn speziell in der klassischen Standesvertretung hat die Ärzteschaft ganz andere Möglichkeiten als Mitglieder anderer Gesundheitsberufe: Streiks in weißen Kitteln wirken eindrucksvoller, Plakate und Aufrufe in den Ordinationen erreichen Millionen Menschen, die Ärzteschaft ist medial präsenter. Und zeigt im Spitalsbereich auch die Probleme in der Pflege und anderen Gesundheitsberufen auf. In der Corona-Pandemie ließ sich die Ärztekammer nicht durch Drohungen der Maßnahmen-Gegner einschüchtern. Sie unterstützte Impfungen und erklärte der Bevölkerung die Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen.
Im Kampf um den eigenen Einfluss steht die Ärztekammer dennoch allein da: Zu oft stand sie ihren Partnern im Gesundheitssystem im Weg. Betonierer und Blockierer, dieses Image haftet der Ärztekammer an. Sie würde notwendige Reformen im Gesundheitsbereich aufhalten und das Wohl der Patienten vorschieben, dabei aber beinharte Klientelpolitik machen und nur auf sich selbst schauen, so die Kritik.
Bei der Einführung der eCard 2005 und der elektronischen Krankenakte ELGA 2013 sei das beispielsweise so gewesen, auch die Verbreitung der Primärversorgungszentren würde die Kammer bremsen, sagte die Ärztin und ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky (ÖVP) im ORF-„Report“. Schlechte Erfahrungen mit Vetos der Landesärztekammern bei Stellenbesetzungen haben Länder und Krankenkassen so häufig gemacht, dass Letztere mit der Veröffentlichung einer Liste an Negativbeispielen droht. Und 2000 eigens ausgebildete Apotheker warten nur auf die Zustimmung der Ärztekammer, um in Apotheken zu impfen. „Die Ärzte fehlen im System als konstruktiver Partner mit Wille zur Veränderung“, heißt es auch deswegen etwa aus der Apothekerkammer.
Durchhalteparolen
„Wir haben ein Problem in der Außendarstellung“, sagt der Tiroler Arzt Artur Wechselberger, der von 2012 bis 2017 Präsident der Bundesärztekammer war. Denn für ihn stellen sich diese Dinge anders dar, die Einwände gegen die mangelhafte Umsetzung von eCard und ELGA seien durchaus berechtigt gewesen. Und eine Klage der Tiroler Landeskammer vor dem Verfassungsgerichtshof habe 1996 überhaupt erst dazu geführt, dass sich Ärzte in Gruppenpraxen zusammenschließen dürfen. Davor war das gesetzlich verboten. „Wir sind eine Standesvertretung“, sagt Wechselberger. „Dass wir nicht jede Reform vorbehaltlos begrüßen, ist Teil unseres Auftrags.“
Die Gesundheitspolitiker werden langfristig nicht auf uns verzichten können.
Die Zeichen stehen auf Konflikt: Die Ärztekammer droht mit der Aufkündigung des Gesamtvertrages mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Ein Szenario, dem diese gelassen entgegenblickt, da die Ärztekammer dies schon häufig angekündigt hat und eine Kündigung außerdem frühestens Ende 2024 schlagend werden würde – also ein Jahr nach den geplanten Gesetzesbeschlüssen. Einen vertragslosen Zustand fürchtet die ÖGK auch dann nicht, sie würde allen Ärzten Einzelverträge anbieten. Auch das ist ein Zustand, den die Ärztekammer mit allen Mitteln verhindern will. „Selbstverständlich sind wir in der Lage, uns zur Wehr zu setzen“, sagt Präsident Steinhart. „Die Gesundheitspolitiker werden langfristig nicht auf uns verzichten können.“
Auf die Ärzte nicht. Auf diese Kammer womöglich schon.
Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.