"Man soll den Menschen nicht die Illusion ermöglichen, dass die Pandemie vorbei sei"
profil: Frau Lueger-Schuster, am 5. März kommt es in Österreich zu umfangreichen Lockerungen der Corona-Maßnahmen: Eintrittskontrollen und Sperrstunden sollen wegfallen, ebenso fast überall die Maskenpflicht. Wird das die psychische Situation in der Bevölkerung entlasten?
Lueger-Schuster: Es wäre schön, wenn es so einfach ginge. Für einen erheblichen Teil der Bevölkerung lautet die Antwort aber leider: nein. Wir haben zwei Jahre mit vielen Restriktionen und enormen Belastungen hinter uns. Die Psyche von belasteten Menschen kann sich nicht von einem Tag auf den anderen einfach umschalten und so tun, als wäre nie etwas gewesen. Die Erinnerungen an die schwierigen Phasen der Pandemie werden bleiben.
profil: Verspricht die Regierung den Leuten mit dem sogenannten "Frühlingserwachen" zu viel?
Lueger-Schuster: Möglicherweise ja. Man soll den Menschen nicht die Illusion ermöglichen, dass die Pandemie vorbei sei. Denn sie ist es nicht: Wir haben nach wie vor eine zu niedrige Impfquote, sehr hohe Infektionszahlen. Wir wissen nicht, zu welchen Virusmutationen es noch kommen wird und mit welchen Einschränkungen wir im Herbst wieder konfrontiert sein könnten. Mit dem plötzlichen Wegfall fast aller Limitationen sendet man durchaus auch falsche Signale aus. Ich bin nicht ganz glücklich damit, wie das gerade abläuft.
profil: Wien fährt einen vorsichtigeren Kurs, halten Sie das für vernünftiger?
Lueger-Schuster: Ich würde sagen, dass sich Wien da durchaus mehr an der pandemischen Realität bewegt, ja.
profil: Aber sind weniger Maßnahmen, weniger Beschränkungen nicht per se gut für die psychische Gesundheit aller?
Lueger-Schuster: Wie gesagt: Wenn die Pandemie wirklich zu Ende wäre, könnte man das so sagen. Wir sehen in der Ausarbeitung von ganz aktuellen Forschungsergebnissen aber, dass gerade ein politischer Zickzackkurs - das Schwanken von einem Extrem ins andere - die Menschen massiv verunsichert. Wir wissen nicht, was kommt. Deshalb ist es aus meiner Sicht besser, die Schritte behutsam zu setzen und vor allem konsistent zu kommunizieren.
profil: Mit aktuellen Forschungsergebnissen sprechen Sie eine Studie an, die Sie gemeinsam mit Partnern in anderen europäischen Ländern bis Ende vergangenen Jahres durchgeführt haben. Um was ging es da genau?
Lueger-Schuster: Es handelt sich um eine quantitative Langzeitstudie, die wir im April 2020 begonnen haben. Wir wollten in Befragungen herausfinden, wie sich die Belastungen der Pandemie bei den Menschen niederschlagen - welche Symptome für psychische Störungen erkennbar sind. Das Projekt lief über die Europäische Traumaforschungsgesellschaft in insgesamt elf Ländern. Das Besondere: Wir haben zu vier Zeitpunkten abgefragt, die im Verlauf der Pandemie sicher wesentlich waren. Zunächst war das im Juni 2020, als die erste Welle abgeflacht war; dann im November 2020, als es wieder zum Lockdown kam und die Zahlen enorm hochgingen; bei der dritten Welle im Juni 2021, als die Impfung breit ausgerollt wurde, und zuletzt noch einmal im November 2021.
profil: Wer wurde befragt?
Lueger-Schuster: In jedem Land wurden standardisierte Fragen an zunächst zumindest 1000 Personen adressiert. Das waren Fragen etwa zu möglichem Einkommensverlust, zur Arbeitssituation, zur Krisenperformance der Regierung, zur Angst vor dem Virus. Rund 234 Personen im Alter von 21 bis 80 Jahren aus allen Gesellschaftsschichten haben uns bis zur letzten Welle im Winter 2021 kontinuierlich geantwortet. Die Studie ist damit nicht repräsentativ, aber es ist bislang die einzige, die über einen so langen Zeitraum so viele Menschen begleitet hat.
profil: Die Ergebnisse wurden bislang noch nicht veröffentlicht. Was können Sie vorab darüber erzählen?
Lueger-Schuster: Leider ist der Befund tatsächlich alarmierend. Wir haben gemessen, zu welchen Symptomen verschiedener psychischer Störungen es bei den Befragten über die Zeit hinweg gekommen ist. Identifiziert wurden dabei zum einen die Anpassungsstörung, die bedeutet, dass Menschen mit den Veränderungen im Alltag so überfordert sind, dass sie eigentlich professionelle Hilfe benötigen. Des Weiteren erhoben wir Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, der Depressivität und der Ängstlichkeit. Abgesehen von der posttraumatischen Belastungsstörung zeigten sich im Verlauf bei allen Symptomen erhebliche Zuwächse: Bei der Anpassungsstörung wuchs der Anteil von 13,1 Prozent im Juni 2020 auf 18,6 Prozent Ende 2021. Bei der Depressivität war es eine Zunahme von 13,6 Prozent auf 22,7 Prozent; bei der allgemeinen Ängstlichkeit ein Anstieg von 12,7 Prozent auf 20,9 Prozent.
profil: Das heißt, etwa ein Fünftel der Studienteilnehmer hatte zuletzt offenbar mit einer psychischen Störung zu kämpfen. Wie erklären Sie sich den Anstieg?
Lueger-Schuster: Wir beobachteten eindeutige saisonale Effekte. Im Sommer, wenn auch die Infektionszahlen niedrig sind, geht es den Menschen wesentlich besser. Im Herbst und Winter, wenn die Zahlen steigen und es zu verschärften Maßnahmen und Lockdowns kommt, gehen die Werte der Symptome psychischer Störungen stark hinauf. Wirklich massiv war der Anstieg im vergangenen November und Dezember, als es wieder zu einem Lockdown kam. Das hat den Leuten wirklich noch einmal einen Schubser gegeben. Ich kann mir deshalb auch gut vorstellen, dass es auch im nächsten Winter zu einem Anstieg von Symptomen kommt, wenn es wieder Restriktionen geben sollte. Vor allem, wenn die Leute nun so gar nicht mehr drauf eingestellt sind.
profil: Haben Sie Vergleichswerte zu anderen Ländern?
Lueger-Schuster: Wir sind hier noch in der Auswertung. Was ich nur sagen kann, ist, dass Österreich in der ersten Befragungswelle - also ab Juni 2020 - noch nicht sonderlich auffällig war. Alles Weitere wäre zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation. Was aber feststeht, ist, dass wir Ende 2021 von allen Ländern als einziges den Lockdown hatten. Die Reaktion war bei uns sicher eine unter verschärften Bedingungen.
profil: Wie soll die Politik auf die von Ihnen erhobenen Zahlen reagieren?
Lueger-Schuster: Mit breiten Mental-Health-Kampagnen. Man muss aktiv auf die Bevölkerung zugehen - in die Betriebe, die Krankenhäuser, die Schulen. Hinweise dafür sollten an die Menschen - vor allem jene Personengruppen, die besonders exponiert waren - herangetragen werden, sie sollten nicht selbst danach suchen und sich informieren müssen. So eine Kampagne sehe ich derzeit leider nicht.
profil: Die Pandemie in Österreich jährt sich in diesen Tagen zum zweiten Mal. Können Sie sich an konkrete Momente erinnern, an denen Sie sich als Psychologin gedacht haben: Das wird vermutlich problematische Auswirkungen haben?
Lueger-Schuster: Es gab da von der Politik relativ zu Beginn der Pandemie den bekannten Satz: Jeder wird jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. Da dachte ich mir schon: Das ist eine riesengroße Aussage, die man nicht so einfach sagen kann. Der Satz hat auf jeden Fall viel Angst verbreitet. Und dann gab es noch die Behauptung, die Pandemie sei vorbei. Das war falsch und hat auch falsche Hoffnungen gemacht - sie war nicht vorbei, sondern ging seither ordentlich weiter. Problematisch war auch die Debatte um die Impfpflicht. Man hat sie leider lange kategorisch ausgeschlossen - noch so ein Beispiel für falsche Hoffnung. Der Zeitpunkt, zu dem sie dann plötzlich verkündet wurde, war sicher alles andere als ideal.
profil: Sie haben jetzt zumindest zwei Sätze erwähnt, die aus dem Mund von Sebastian Kurz stammten. Ist das Zufall oder dezente Kritik am Pandemie-Management des Ex-Kanzlers?
Lueger-Schuster: Ich kritisiere hier keine politische Person, sondern Aussagen, die aus meiner Sicht etwas überschießend waren.
profil: Haben Sie abschließend auch Beispiele für besser geglückte Pandemie-Statements von Politikern?
Lueger-Schuster: Am besten gefallen hat mit ein Satz von Angela Merkel: Die Pandemie ist eine demokratische Zumutung. Eine Zumutung, das trifft es sehr gut. Und das wird sie wohl noch eine Zeit lang bleiben.
Zur Person:
Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin für Psychotraumatologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Sie forschte in der Vergangenheit etwa zur Traumatisierung durch Gewalterfahrungen in Österreichs Kinderheimen der 1960er-und 1970er-Jahre. Seit April 2020 war sie seitens der Universität Wien an einer länderübergreifenden Langzeitstudie zu psychosozialen Auswirkungen durch die Pandemie beteiligt. Befragt wurden zu Beginn rund 15.000 Personen. Vertreten waren neben Österreich auch Deutschland, Italien, Schweden, Kroatien, Niederlande, Griechenland, Litauen, Georgien, Polen und Portugal. Die abschließenden Ergebnisse der quantitativen Studie werden im Frühjahr erwartet.