Josef Anton Baldermann: eine Arbeitergeschichte im Roten Wien
Es gibt ein einziges Foto von Josef und Hermine Baldermann, und dabei handelt es sich um eine Montage. Durch das Ehepaar geht ein Spalt, der auf der Rückseite mit Klebestreifen zusammengehalten wird. Der Mann, ein kleiner Arbeiter, war am 29. Juli 1941 von Gestapo-Männern aus einer Werkzeugfabrik in Wien-Brigittenau geholt worden. Wenige Monate erst war er mit seiner "Hermi“, einer Miedernäherin, verheiratet; für eine gemeinsame Aufnahme hatte es bis zu diesem Zeitpunkt nicht gereicht. Und danach gab es für die Eheleute weder Gegenwart noch Zukunft. Dafür steht das geflickte Bild.
profil-Journalistin Marianne Enigl hat ein Buch geschrieben, das die Geschichte einer Auflehnung erzählt: die Biografie eines namenlosen Proletariers, der sich dem NS-Terror nicht beugte. Sie nannte es schlicht "Baldermann“, als wollte sie einen Vergessenen stellvertretend für viele andere in die Erinnerung an den NS-Widerstand einschreiben. Das drückt auch der Untertitel aus: "Eine Arbeitergeschichte im Roten Wien“.
Den Duktus gibt ein Zitat des Publizisten Martin Pollack vor: "Es geht immer darum, dass man die Geschichten der Menschen erzählt, nicht nur das schreckliche Ende.“ Die NS-Verfolger hatten mit den Widerständigen kein Erbarmen: Josef Baldermann wurde vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und im März 1943 durch die Guillotine hingerichtet, gemeinsam mit sieben anderen Arbeitern aus Wien-Brigittenau. Nur einer der Mitangeklagten kam mit seinem Gnadengesuch durch; er durfte als Einziger weiterleben.
Enigl kann erzählen, was vor dem entsetzlichen Ende war, weil Baldermanns Familie die greifbaren Zeugnisse seiner 40 Jahre dauernden Existenz aufbewahrte: sein Tagebuch mit dem schwarzen Leinenrücken, das er als junger Mann zu führen begann; die bis zum Rand mit seiner charakteristischen, gestochen schönen Schrift vollgeschriebenen Postkarten aus der Haft in Wien; die zensurierten Briefe aus dem Konzentrationslager im schlesischen Groß-Rosen und aus den Berliner Gefängnissen Alt-Moabit und Plötzensee; die Antworten seiner Frau; die Schreiben der Schwägerin Mina und des Bruders. Dazu kommen Gerichtsakten, Fotos, Trophäen sportlicher Erfolge, Alltagsgegenstände.
„Es wird noch alles gut werden.”
Diese Fügung nützte Enigl, um das Schicksal eines Einzelnen in die ökonomischen, sozialen und politischen Umstände seiner Zeit einzubetten. Josef Anton Baldermann, Sohn einer Köchin und eines Gießereiarbeiters, wurde 1903 im habsburgischen Wien geboren. Als Bub warf ihn eine Lungen- und Bauchfellentzündung ins Krankenbett; früh musste er ums Überleben kämpfen. Der Erste Weltkrieg traf die Familie schwer. Sie war eben dabei, sich aus ärmsten Verhältnissen emporzuarbeiten, als der Vater an die Front gerufen wurde. Man erfährt von elenden Wohnverhältnissen, drückender Not, vom Leben in der Proletariervorstadt Brigittenau, einem von Zuwanderung geprägten Industrieviertel - und vom heraufziehenden nationalsozialistischen Terror.
Baldermanns Tagebucheinträge reißen 1924 ab. Oft geht es darin um vergebliche Arbeitssuche, Geldmangel und Politisches, etwa die Auseinandersetzungen mit den Rechten, die sich auf der Straße gewaltsam entladen, oder den großen Metallarbeiterstreik im Sommer 1924. Enigl stellt sie den Berichten der sozialistischen "Arbeiter-Zeitung“ und der bürgerlichen "Neuen Freie Presse“ gegenüber. 1924 ist auch das Jahr, in dem das Rote Wien den Winarskyhof errichtet, einen Gemeindebau mit 760 Kleinwohnungen.
Baldermanns Eltern bekommen hier eine der begehrten Hausbesorgerstellen nebst Zimmer, Küche, Kabinett vis-à-vis vom Männerheim in der Meldemannstraße, wo 1910 der junge, arbeitslose Adolf Hitler untergeschlüpft war. Wenige Monate nach dem "Anschluss“ im März 1938 beginnt die Vertreibung der jüdischen Mieter aus den 70.000 Gemeindewohnungen Wiens.
Leben wischen Fabrik, Sozialdemokratie, Arbeiter-Atlethenclub und Naturfreunden
Diese Verschränkungen machen das Buch packend und aufschlussreich zugleich. Mit 15 schließt sich Baldermann der sozialistischen Arbeiterjugend an. Er jagt Gelegenheitsjobs nach, muss um Almosen betteln und lebt manchmal auch auf der Straße. 1924 findet er Arbeit in den Siemens-Werken. Baldermann ist in seinen Zwanzigern, als sich seine Existenz ein wenig festigt. Er richtet sich zwischen Maschinenarbeit und Skitouren ein, zwischen Fabrik, Sozialdemokratie, Arbeiter-Atlethenclub und Naturfreunden. Er liest, lernt Esperanto, trägt Sakko und weißes Hemd. Sieben Jahre kann er seine Stelle halten, 1931 verliert er sie wieder. Im autoritären Ständestaat kommt ihm die politische Heimat abhanden. Die Sozialdemokratie wird 1934 verboten. 1938, kurz vor dem Einmarsch Hitlers im März, stirbt sein Vater.
Der junge Baldermann wird zur Arbeit in der Werkzeugfabrik Blau & Co verpflichtet. Das Unternehmen war kurz zuvor von einem Vertrauten des späteren NS-Rüstungsministers Albert Speer "arisiert“ worden. Er ist 37, als er die um ein Jahr jüngere Hermine Konschitzky kennenlernt. Sie näht Mieder im Akkord. Für jeden Büstenhalter gibt es zwei Groschen. 60 Stück müssen die Frauen am Tag schaffen, um ihren Grundlohn aufzubessern. Der gemeinsame Sohn Josef Richard ist keine zwei Wochen alt, als Baldermann am 29. Juli 1941 wegen "Betätigung für die Kommunistische Partei“ an der Werkbank festgenommen wird. 1507 kommunistische Widerstandskämpfer fasst die Gestapoleitstelle Wien in diesem Jahr. Unter ihnen finden sich bekannte Persönlichkeiten wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (sie ist eine der Planerinnen des Winarskyhofs) neben Namenlosen wie Baldermann. 13 Mitglieder rechnet die Gestapo seiner Zelle zu. Laut Akt 200/41-II A I hat ein "Abwehrbeauftragter“ eines Industriebetriebs zwei Arbeiter denunziert. Es dauert nicht lange, bis ein für seine Brutalität berüchtigter Gestapo-Spezialist für die Zerschlagung des linken Widerstands auf Baldermann kommt.
"Ich bin nun bereit, ein Geständnis abzulegen."
Dieser bestreitet zunächst. Am 30. Juli 1941 unterfertigt er schließlich ein Protokoll, das mit dem Satz beginnt: "Ich bin nun bereit, ein Geständnis abzulegen.“ Es bleiben ihm noch 19 Monate bis zu seiner Hinrichtung. Die Postkarten und Briefe, die zwischen dem Gefangenen und der Familie in Wien in dieser Zeit wechseln, müssen mit den Zensurvorschriften im Kopf geschrieben werden. Sie sind voller Fehler und Brüche und lassen erahnen, welche menschliche Katastrophe sich ereignet und nicht in Worte gefasst werden kann. Alles Politische ist verboten. Krankheiten, Hunger und Ungewissheit quälen. Vier Tage vor dem ersten Weihnachtsfest im Gefängnis ersucht Baldermann seine "liebste Hermi, Mutter meines einzigen Kindes“ um Lebertran, einen Laib Brot, und mehr als alles andere wünscht er sich ein Bild vom Sohn, "da ich Burli gar nicht kenne, laß Ihm photographieren“. Er klammert sich an die Hoffnung, ihn wiederzusehen, will wissen, wie viel er wiegt, und trägt seiner Frau auf, einen Rest Schafwolle zu einem Janker für das Kind zu verstricken. Flehentlich bittet er um Schilderungen des Alltäglichen, Gemüsepreise oder den Abstand zwischen dem Marillenbaum und der Weichsel im Garten: "Schreib mir, wie deine Tage aussehen, damit ich euch in Gedanken begleiten kann.“
Die Mutter, die Ehefrau und Schwägerin Mina müssen draußen alleine zurechtkommen. Hermine Baldermann borgt Geld aus, um es ihrem Mann in die Haft zu schicken. Immer wieder muntert er die Frauen auf. "Aber gelt, liebe Hermi, nicht viel traurig sein, es wird noch alles gut werden.“ Er erkundigt sich nach dem Bruder, der zu den Gebirgsjägern nach Finnland abkommandiert wurde. Er wisse, es sei viel zu bewältigen, "aber laßt Euch nicht trotzdem unterkriegen“. Seine Mutter schafft es nicht, auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen. Im Jänner 1942 wird Baldermann ins KZ Groß-Rosen in Schlesien gebracht - vermutlich, weil die Hafträume in Wien überfüllt waren. Es ist eine Zwischenstation. Seine Frau weiß nicht, dass die Männer dort in Verschlägen ohne Decken schlafen und ihre Haare am Pfosten festfrieren. Das Paket mit den Wollsachen, um die ihr Mann gebeten hatte, kommt zurück. Sie seien "überflüssig“, vermerkt die Lagerleitung. Baldermann schreibt: "Helfts nur einstweilen Alle zusammen!“ Und: "Sonst bin ich gesund.“
Von den Arbeitern, welche die Gestapo zwischen April und August 1941 in Wien-Brigittenau abgeführt hat, bleiben nur drei in Wien zur Verhandlung. Baldermann kommt mit sieben weiteren Angeklagten im Oktober 1942 vor den Volksgerichtshof in Berlin. Es ist ein Tribunal des Führers; die Richter wurden von Hitler ernannt. Am 2. März 1943 setzt sich Baldermann im Kellertrakt der Todeskandidaten in Berlin-Plötzensee vor ein Blatt liniertes Anstaltspapier und formuliert eine letzte Bitte: Seine Frau möge dem Sohn "Liebe für alles Schöne, für die Natur, für die Tiere, und auch für die Menschen“ bringen. Der widerständige Arbeiter aus dem Roten Wien ist gerade einmal 40 Jahre alt. Als er in den Hinrichtungsschuppen geführt wird, hat er die Idee einer "neu geordneten Welt“ nicht aufgegeben. Sein Abschiedsbrief endet mit den Worten: "Liebste Hermi, liebster Sohn, das letzte Busserl Pepi“.
Marianne Enigl. Baldermann. Wien 1903 - Berlin Plötzensee 1943. Eine Arbeitergeschichte im Roten Wien. Mandelbaum Verlag. Wien 2017. 231 Seiten.