Martin Kocher: Der verhaltensunauffällige „Superminister“
Von Gernot Bauer und Max Miller
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Martin Kocher hat ein buntes Betätigungsfeld. Er ist für das Schönbrunner Elefantenhaus zuständig und das Corona-Krisenmanagement; für Touristen aus dem Ausland und Arbeitslose im Land; für die Konservierung alter Möbel und die Sicherheit am Arbeitsplatz. Und wenn der Bundespräsident in seinem Büro in der Hofburg trotz Rauchverbots zur Zigarette greifen darf, liegt dies auch in Kochers Verantwortungsbereich.
Kocher ist Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft. Zu ihm ressortieren aber auch die Burghauptmannschaft, Schloss und Tiergarten Schönbrunn, die Marchfeldschlösser und das Hofmobiliendepot; natürlich die Standort- und Beschäftigungspolitik, Freihandelsverträge sowie die Arbeitsinspektorate und das Arbeitsmarktservice; das Eich- und Vermessungswesen und vor allem der Tourismus, der Kocher auch persönlich betrifft: Der 50-Jährige stammt aus dem Salzburger Wintersportort Altenmarkt im Pongau, seine Eltern waren Skilehrer.
Als Wirtschafts- und Arbeitsminister ist Kocher für den Wohlstand des Landes verantwortlich. Ob es den Unternehmen gut geht, ob die Menschen Jobs haben – an Kocher liegt’s. Seit Februar 2021 ist er für das Arbeitsressort zuständig, seit Mai 2022 auch für die Wirtschaftsagenden. Der nächsten Regierung wird er nicht mehr angehören, da er mit September 2025 voraussichtlich zum Gouverneur der Nationalbank aufsteigt. Wird er fehlen? Wie erfolgreich war Kocher, der zu Beginn als „Superminister“ tituliert wurde?
Sein aktuelles Zeugnis, Ende Juni ausgestellt von den Wirtschaftsforschungsinstituten, fällt schwach aus. WIFO-Chef Gabriel Felbermayr konstatierte gar „sechs verlorene Jahre“. Die Wirtschaft stagniert im heurigen Jahr. Auch 2025 wird sie nur um 1,5 Prozent wachsen und damit unter den Vor-Corona-Jahren liegen. Kochers Replik: Die Flaute treffe ganz Europa und sei Folge der globalen Krisen wie des Ukraine-Krieges, der Pandemie und der hohen Inflationsraten. Allerdings wächst die Wirtschaft in der restlichen Eurozone heuer immerhin um 0,9 Prozent. Österreichs Performance ist also unterdurchschnittlich.
Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit wieder. Im Juni erhöhte sie sich um 0,5 Prozentpunkte auf 6,2 Prozent, als Folge der nachgebenden Industrieproduktion und der schwächelnden Bauwirtschaft. Zur Linderung initiierte Kocher den Handwerker-Bonus im Ausmaß von 300 Millionen Euro. Wer seine Wohnung – vom Handwerker, nicht vom Pfuscher – ausmalen oder das Bad neu verfliesen lässt, kann einen Teil der Rechnung beim Staat einreichen.
Mitschuld an der schlechten Entwicklung der Wirtschaft trage, so Felbermayr, die „enorm hohe Verunsicherung“ von Haushalten und Unternehmen. Als Stimmungsaufheller hat Kocher somit versagt. Konsumenten und Betriebe verschieben Investitionen. Von einem „Vorsichtssparen“ spricht der Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS) Holger Bonin. Und Felbermayr resümiert: „Wir müssen mehr über die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft sprechen.“
Verantwortlich für Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsstandort ist vor allem: Martin Kocher. In seinem Zivilberuf als Professor für Volkswirtschaftslehre war er es, der der Politik Ezzes gab. Von 2016 bis 2021 leitete er das IHS. Davor arbeitete er als Professor an der Universität München. Kochers Spezialgebiet ist die Verhaltensökonomie, die erforscht, wie Menschen in bestimmten wirtschaftlichen Situationen reagieren. Verhalten sie sich rational, wie man es vom Homo oeconomicus erwarten würde? Was veranlasst sie, gegen die eigenen Interessen zu handeln? Wie sehr bestimmt die Psychologie das Verhalten von Verbrauchern? Wann verzichtet man auf den persönlichen Nutzen im Interesse des Ganzen?
Ein Verhaltensökonom in der Politik
Zum irrationalen Verhalten von Individuen geforscht zu haben, ist in der österreichischen Politik gewiss kein Nachteil. Insofern war der Verhaltensökonom Martin Kocher gut vorbereitet, als er im Jänner 2021 vom damaligen Kanzler Sebastian Kurz um eine Minuten-Entscheidung gebeten wurde. Kurz benötigte einen neuen Arbeitsminister, nachdem die Amtsinhaberin Christine Aschbacher wegen Plagiatsvorwürfen zu ihrer Dissertation an der Slowakischen Technischen Universität zurückgetreten war.
Kocher kam nicht als Frischling in die Politik. Er war regelmäßig in den großen Nachrichtensendungen des Landes zu Gast und hatte als IHS-Direktor und Präsident des Fiskalrats die Regierung beraten. Teilnehmer an Sitzungen von Kanzler Kurz mit Wirtschaftswissenschaftern erinnern sich, dass Kocher im Gegensatz zu anderen Experten nicht zu den Anschleimern zählte und gern Klartext sprach. Im Oktober 2021 trat Sebastian Kurz zurück, im Mai 2022 auch Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck. Der neue Kanzler, Karl Nehammer, übertrug die Wirtschaftsagenden an den Arbeitsminister.
Es sind zwei Fragen, die sich zum Ende der Ministerschaft von Kocher stellen. Was hat es gebracht, mit dem VWL-Professor einen Experten statt eines Berufspolitikers zum Minister zu machen? Und hat es sich bewährt, die Agenden für Arbeit und Wirtschaft in einem Ministerium zu bündeln?
Geht es nach Martin Kocher, ist die Zusammenführung sinnvoll, da sich die Bereiche vielfach überschneiden. So sei für die betriebliche Lehrausbildung das Wirtschaftsministerium zuständig und für die überbetriebliche das Arbeitsmarktservice. Gern verweist Kocher auch auf Wien, wo Stadtrat Peter Hanke, SPÖ, ebenfalls für Arbeit und Wirtschaft zuständig ist.
Dass Experten Minister werden, hält Kocher für positiv, nicht nur in eigener Sache. Seiner Meinung nach sollten in einer Regierung Quereinsteiger und Berufspolitiker vertreten sein. Sachkenntnis schadet jedenfalls nie, allerdings mangelt es Experten bisweilen an Durchsetzungskraft, vor allem, wenn sie kein Parteimitglied sind, so wie Kocher. Der ÖVP, die ihm das hohe Amt überantwortete, ist er nie beigetreten. Damit verfügt er nicht einmal im Ansatz über eine Hausmacht.
Kocher ist reiner Sachpolitiker. Die richtige Politik beginnt aber dort, wo Quereinsteiger aufgeben. Oft hörte man den Wirtschaftsminister argumentieren, seine Vorschläge würden „leider“ am Widerstand der Grünen, der Sozialpartner oder an mangelnden Mehrheiten scheitern. Freilich liegt die politische Kunst darin, eigene Projekte auch gegen externe und interne Widerstände durchzudrücken: mit Networking, durch Tauschgeschäfte, Junktime, sanfte Nötigung oder manchmal auch mit schierer Brutalität. Klimaministerin Leonore Gewessler lebt es vor, zuletzt beim EU-Renaturierungsgesetz.
Allerdings: Gewessler wurde in einer Umwelt-NGO (Global 2000) geprägt, wo rauflustige Interessenpolitik ohne Rücksicht auf andere Standpunkte betrieben wird. Martin Kocher ist habituell Wissenschafter, der abweichende Meinungen einfordert. So lädt er regelmäßig eine Runde von Wirtschaftsexperten zu sich ins Ministerium, um in vertraulichem Rahmen aktuelle Probleme zu erörtern. Unter den Fachleuten befinden sich auch solche, die dem als wirtschaftsliberal geltenden Kocher deutlich widersprechen, wie der Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik in der Arbeiterkammer, Markus Marterbauer.
Kochers Bilanzstichtag
Gescheitert ist Kocher im März 2024 mit seinem Vorschlag zur – vom Rechnungshof geforderten – Reform der Bildungskarenz. Nicht nur kostet diese immer mehr Geld: Die Ausgaben stiegen von 2019 bis 2023 von 140 Millionen Euro jährlich auf 357 Millionen Euro. Sondern sie erweist sich auch als wenig treffsicher und als Umverteilung von unten nach oben. Denn es sind gut gebildete Frauen und Männer, die oft direkt im Anschluss an eine Elternkarenz in Bildungskarenz gehen und bisweilen bloß Kurse mit Hobbycharakter belegen. Kocher wollte die Bedingungen verschärfen und vermehrt auch Niedrigqualifizierte ansprechen. Allein – die Pläne versandeten.
Eine fast revolutionäre Reform strebte Kocher 2022 bei der Arbeitslosenversicherung an. Statt wie derzeit 55 Prozent für bis zu einem Jahr sollten Arbeitslose 70 Prozent des letzten Monatsbezugs erhalten, allerdings nur in den ersten drei Monaten und danach abnehmend. Allerdings gelang es Kocher nicht, eine Einigung zwischen ÖVP und Grünen zustande zu bringen. Die Reform scheiterte am Streit um Zuverdienstgrenzen in der Arbeitslosigkeit.
Wenn es keine großen Erfolge gibt, muss man die kleinen feiern. So gelang es Kocher, die geblockte Variante der aus öffentlichen Mitteln geförderten Altersteilzeit abzuschaffen, die eigentlich eine versteckte Frühpension ist: Arbeitnehmer sind in Altersteilzeit, arbeiten aber voll weiter, um dank der so angesparten Arbeitszeit früher in Pension gehen zu können. Mit 2029 läuft die Förderung für dieses Modell aus.
Freuen darf sich Kocher auch über eine Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte, die einen leichteren Zuzug von Fachkräften aus Drittstaaten ermöglicht. Zum Heuler wurde sie deswegen auch nicht. Der Facharbeitermangel wird auch den nächsten Wirtschaftsminister und Arbeitsminister, ob in Personalunion oder als Duo, beschäftigen.
Detailliebe
Wie viele Experten in der Politik kennt Kocher alle Details – und verliert sich bisweilen darin. Als IHS-Chef meinte er in einem Interview, „dass viele Ökonomen zu vielen Dingen etwas sagen, ohne zu wissen, was zu tun ist.“ Oft ist es auch so, dass ein Ökonom durchaus wüsste, was zu tun ist, als Politiker aber nichts oder das Gegenteil tut. So ist der Wissenschafter Kocher davon überzeugt, dass Freihandelsabkommen (wie der noch immer nicht finalisierte EU-Mercosur-Pakt) den Wohlstand mehren. Als Politiker muss er akzeptieren, dass die ÖVP-Bauernschaft, Grüne, Handelskonzerne und die „Kronen Zeitung“ den Freihandel mit südamerikanischen Staaten verteufeln.
Wer in der Sache recht hat, kann sich in der politischen Kommunikation dennoch irren. Dies lernte Kocher im Februar 2023 auf eine harte Tour. In einem „Kurier“-Interview räsonierte er darüber, wie man die Vollzeitbeschäftigung gegenüber der Teilzeitarbeit attraktiver machen könnte. Kochers Ansatz: „In Österreich wird bei Sozial- und Familienleistungen wenig unterschieden, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen.“
Damit irritierte Kocher nicht nur den grünen Koalitionspartner, sondern auch die ÖVP-Schar. Gerade in bürgerlichen Kreisen ist die selbst gewählte Teilzeitarbeit, vor allem bei Frauen, ein beliebtes Modell. Kanzler Nehammer persönlich soll sich seinen Arbeitsminister vorgeknöpft haben. Ausgerechnet der Verhaltensökonom Kocher hatte ein wichtiges Theorem seiner Zunft übersehen: Für Individuen sind Kürzungen die denkbar größte Zumutung. Die Verhaltensökonomie nennt es „Verlustaversion“. Es blieb einer der wenigen Momente, in denen der unauffällige Kocher verhaltensauffällig wurde.
Personifizierte Betriebsstörung
Als Kocher 2016 zum IHS-Chef aufstieg, umriss er sein Weltbild mit Begriffen aus der Morallehre: „Wer zu konservativ ist, glaubt nur an das Böse im Menschen, wer zu links ist, nur an das Gute.“ Als der Parteilose im Mai 2022 das Wirtschaftsministerium übernahm, war er in der Mechanik der ÖVP eine Betriebsstörung.
Denn die Macht im Wirtschaftsministerium geht vom Wirtschaftsbund, der mächtigsten Teilorganisation der ÖVP, aus. Die prominentesten schwarzen Wirtschaftsminister, Wolfgang Schüssel und Reinhold Mitterlehner, waren zuvor Wirtschaftsbund-Generalsekretäre. Die aktuelle Wirtschaftsbund-Führung unter Harald Mahrer, dem Präsidenten der Wirtschaftskammer, achtete penibel darauf, dass sich Kocher nicht verselbstständigte.
Heikle Themen wurden nicht von Kocher, sondern von Wirtschaftsbund-Abgeordneten verhandelt. Daher blieb das Wirtschaftsressort auch unter Kocher ein Gewerbeschutzministerium, das wie ehedem eine Liste von über 80 reglementierten Gewerben führt, darunter die Fußpfleger, Reisebüros und Gärtner.
Kochers Beziehung zu Mahrer gilt als ausgezeichnet, was sich nun positiv auf die Karriere des Ministers auswirkt. Wirtschaftskammer-Präsident Mahrer ist auch Präsident des Generalrats der Nationalbank. Dieser übermittelte der Regierung jüngst seine Vorschläge für die Nachbesetzung des Direktoriums. Dass Kocher neuer Nationalbank-Gouverneur wird, ist zwischen Schwarz und Grün ausgemachte Sache.
Franz Schellhorn, Direktor des Thinktanks Agenda Austria, fasst die Amtszeit des Wirtschafts- und Arbeitsministers zusammen: „Martin Kocher war mit Sicherheit einer der sachkundigsten Minister, die dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hat. Er hat schnell erkannt, dass der Staat die Inaktivität der Menschen fördert und zu viel für das Nichtstun zahlt. Als er das ändern wollte, ist er nicht nur an der Blockade der Grünen gescheitert, sondern auch an der ÖVP, die ihn eiskalt im Regen stehen ließ.“
Aus Sicht anderer Experten ist Martin Kocher auch an sich selbst gescheitert. Die Arbeiterkammer (AK) vermisst ein klimafittes Arbeitsrecht und ausreichend Mittel für das AMS. Als Wirtschaftsminister habe Kocher Unternehmen „zu zahlreichen Wirtschaftshilfen verholfen, zum Teil ohne nähere Vorgaben und nach dem Gießkannenprinzip“. Zukunftsgerichtete Aktivitäten seien „leider unterblieben“, die grassierende Inflation sei nicht gedämpft worden.
Auch der Gewerkschaftsbund kritisiert Kochers Maßnahmen gegen die steigenden Preise: „Keine vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln, kein Preismonitoring bei Lebensmitteln, keine Preisdatenbank. Der Lebensmittel-Gipfel ist im Sand verlaufen.“
Wenn man sagt, Kocher konnte sich nicht durchsetzen, tut man ihm nicht unrecht. Weitergebracht hat er als Minister jedenfalls nicht besonders viel.
Die Arbeitnehmervertreter klagen, Kocher habe seine Zuneigung ungleich verteilt, zu ihren Ungunsten. Als Arbeitsminister habe er den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern „meist außer Acht gelassen“, meint etwa die Arbeiterkammer. Die Gewerkschaft ortet eine „Show-Einbindung“ der Sozialpartner, wenn in Wirklichkeit Vorstellungen der Industriellenvereinigung präsentiert worden wären. In der Industrie lobt man Kochers Eingreifen bei der Energiekrise und die Senkung der Lohnnebenkosten. Anerkennung erhält er von ÖGB und AK für seine Maßnahmen – wie Homeoffice und Kurzarbeit – im Corona-Krisenmanagement.
Oliver Picek, Chefökonom am Momentum Institut, sagt, Kocher sei der „Erklärbär der Bundesregierung“, der die ÖVP-Wirtschaftspolitik „nach außen vertreten darf“, ohne sie groß zu beeinflussen.
„Wenn man sagt, Kocher konnte sich nicht durchsetzen, tut man ihm nicht unrecht“, meint NEOS-Wirtschaftssprecher Gerald Loacker: „Weitergebracht hat er als Minister jedenfalls nicht besonders viel.“ Der Person Martin Kocher streut er indes Rosen: „Kocher ist leichtfüßig im Umgang mit den Abgeordneten, hört in Ausschüssen zu, beantwortet Fragen und hat Humor. Das ist leider nicht selbstverständlich. Vielleicht geht man deshalb mit ihm auch nicht so hart ins Gericht wie mit anderen Ministern, zumindest mir geht es so.“
Politik ist eben auch – der Verhaltensökonom Kocher weiß es – Psychologie.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.