Martin Schulz: "Nehmen wir Juncker beim Wort"
profil: Luxemburg Leaks hat das unglaubliche Ausmaß an Steuerdumping in der EU aufgedeckt. Während EU-Bürger oder kleinere Betriebe brav ihre Steuern bezahlen, flüchten Konzerne in Steuerparadiese wie Luxemburg, wo sie oft nicht einmal ein Prozent Gewinnsteuer entrichten müssen. Wie konnte sich diese offenbar legale Ungerechtigkeit so lange halten?
Martin Schulz: Ihre Frage ist sicher berechtigt, aber die Faktenlage war ja schon länger bekannt. Daher habe ich diesen Missstand zu einem der zentralen Themen meines Wahlkampfes gemacht, wurde aber offenbar nicht ausreichend gehört.
profil: Sonst wären Sie heute Präsident der EU-Kommission und nicht Jean-Claude Juncker?
Schulz: Das Thema ist nicht neu. Die Steuerhoheit liegt aber in den Händen der nationalen Regierungen, nicht bei der EU-Kommission oder beim Europaparlament. Und die Regierungen können dieses Phänomen des Steuerdumpings sofort abschaffen, wenn sie nur wollen. Die Unterstützung des Europäischen Parlaments hätten sie jedenfalls.
profil: Warum haben Sie im Europa-Wahlkampf Jean-Claude Juncker nicht schärfer angegriffen?
Schulz: Ich habe in den TV-Duellen mit Juncker immer wieder auf das Steuerthema hingewiesen Aber er hat in einem Punkt ja recht: Luxemburg ist nicht das einzige Land, wo es Steuerdumping gibt. Dort ist es nur besonders ausgeprägt und kann auch nicht mehr mit gesundem Steuerwettbewerb gerechtfertigt werden. Das Schlimme ist, dass sich die Länder gegenseitig zu unterbieten versuchen, um Unternehmen in ihr Land zu holen. Also es wäre ein klassisches Feld dafür, wo wir mehr Europa und weniger Nationalstaat brauchen.
profil: Luxemburg, Belgien und Österreich waren jene EU-Staaten, die den Informationsaustausch von Finanzdaten mit Verweis auf das Bankgeheimnis sehr lange blockiert haben.
Schulz: Ich habe das im Europäischen Parlament wiederholt kritisiert. Die Regierungen schafften Rahmenbedingungen, die Steuervermeidung und Steuerhinterziehung möglich machen. Genau dort liegt auch ihre Verantwortung, nicht aber bei der konkreten Umsetzung.
profil: Jean-Claude Juncker hat angekündigt, die EU-Kommission werde nun die Vorwürfe prüfen und ein neues, transparentes System mit Austausch von Daten über Steuerprivilegien in allen EU-Ländern einführen. Wird hier der Bock zum Gärtner gemacht?
Schulz: Juncker ist gut beraten, wenn er die Mitgliedsstaaten jetzt zwingt, ihre Verantwortung zu übernehmen. Eine meiner Forderungen im Wahlkampf, der sich Juncker angeschlossen hat, war: Das Land des Gewinns ist das Land der Besteuerung. Dafür brauchen wir ein neues Bilanzrecht für Konzerne, die in verschiedenen Ländern operieren. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass sie Gewinne aus verschiedenen Ländern in der Konzernmutter irgendwo zusammenführen. Künftig muss deklariert werden: Der Gewinnanteil A ist in Österreich gemacht worden, der Gewinnanteil B in Deutschland und der Gewinnanteil C in Frankreich. Und diese Gewinne werden künftig auch in diesen Ländern versteuert, nicht in irgendwelche Steueroasen transferiert, die dann durch fingierte Briefkastenfirmensitze ohne wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit tätige Beihilfe zur Steuerhinterziehung leisten.
profil: Damit wäre auch die Gruppenbesteuerung in Österreich, die für Konzerne interessant ist, nicht mehr legal?
Schulz: Künftig sollte die Regel gelten: Dort, wo du Gewinne machst, musst du auch deine Steuer bezahlen. Dazu gehört als zweites Prinzip der automatische Datenaustausch zwischen den Ländern, wie Juncker im Europäischen Parlament angekündigt hat. 22 EU-Länder sind dafür, sechs Länder nicht.
profil: Welche?
Schulz: Die Namen sind doch allseits bekannt.
profil: Großbritannien wird wohl dazugehören.
Schulz: Es ist ein weit reichender Schritt. Die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Steuerdumping nicht wollen, sollten genau hinschauen, welche Regierungen jetzt Gegenmaßnahmen blockieren.
profil: An unterschiedlichen Steuersätzen in der EU wird aber nicht gerüttelt. Sollte es nicht wenigstens einen Mindestsatz für Unternehmensbesteuerung geben?
Schulz: Es wäre schon ein großer Schritt, wenn wir die Bemessungsgrundlagen vergleichbar machen. Wir werden kein einheitliches Steuersystem in der ganzen EU bekommen. Wir sind kein Bundesstaat. Aber es muss ein System geben, das bei der Besteuerung Vergleichbarkeit herstellt und Mindestsätze festlegt, um den ruinösen Wettbewerb und das gegenseitige Austricksen, das den Solidaritätsgedanken der EU ad absurdum führt, zu beenden.
profil: Sollte man die Verhinderung von Steuerdumping auch im neuen Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) verankern? Denn sonst könnten ja amerikanische und europäische Konzerne erst recht wieder in Steueroasen in den USA wie Delaware oder den Cayman Islands ausweichen.
Schulz: Beim Freihandelsabkommen mit den USA können wir natürlich nicht in Europa Steuerschlupflöcher schließen, um sie in den USA zu eröffnen. Aber unterschätzen Sie die Radikalität der Amerikaner beim Eintreiben von Steuern nicht. Beim Bankgeheimnis in der Schweiz und in Luxemburg haben die Amerikaner genau jene Kavallerie ausgeschickt, mit der der frühere deutsche Finanzminister Peer Steinbrück damals scherzhaft gedroht hat. Die Amerikaner haben der Schweiz genau drei Monate lang Zeit für den Kampf gegen die Steuerflucht gegeben, während wir noch immer diskutieren. Aber wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn es uns nicht einmal in unserem eigenen Haus gelingt, für Ordnung zu sorgen.
profil: Die Luxemburg-Affäre hat einen Schatten auf die neue EU-Kommission geworfen.
Schulz: Ich hätte mir einen anderen Start gewünscht. Aber dass diese Affäre wenige Tage nach dem Amtsantritt der neuen EU-Kommission in verschiedenen Medien erschien, ist schon bemerkenswert.
profil: Der britische Premierminister David Cameron, der Juncker als neuen Chef der EU-Kommission vergeblich verhindern wollte, wird wohl gejubelt haben.
Schulz: Das weiß ich nicht, aber die britischen Medien haben in der Tat besonders ausführlich berichtet.
profil: Was halten Sie von Forderungen, Juncker möge zurücktreten?
Schulz: Was brächte das? Das würde uns nur daran hindern, diese Steuervermeidung in Europa endlich zu bekämpfen. Juncker hat ja gerade erklärt, er habe zwar als Premierminister Luxemburgs im Rahmen des geltenden Rechts gehandelt. Aber er hat hinzugefügt, dass es so nicht weitergehen kann und er als Kommissionspräsident anders handeln werde. Nehmen wir ihn beim Wort.
profil: Juncker möchte noch vor Weihnachten ein 300 Milliarden Euro schweres Paket für Wachstum und Jobs vorstellen. Woher soll das Geld kommen?
Schulz: Es gibt ja genug Geld in Europa, aber warum wird es nicht investiert? Warum fließt noch immer mehr Geld in den Spekulationskapitalismus an den Börsen als in die reale Wirtschaft? Dabei haben wir etwa in Deutschland einen enormen Rückstau bei den Investitionen, etwa bei Straßen, Wasserwegen, Flughäfen, Häfen, Universitäten, Schulen, Krankenhäuser. Oder denken Sie an die energetische Gebäudesanierung, was da zur Einsparung von Energie gemacht werden könnte. Oder die Breitbandnetze in ländlichen Gebieten, was auch in einem Land wie Österreich eine wichtige Frage ist, um den ländlichen Raum nicht von der technologischen Entwicklung abzukoppeln.
profil: Und wie kann man für Investitionen sorgen?
Schulz: Juncker will vorhandene Mittel aus dem EU-Haushalt und den nationalen Budgets sowie Mittel der Europäischen Investitionsbank so bündeln, dass wir ein Paket an verfügbaren Geldern auflegen, die wieder private Investitionen nach sich ziehen, damit wir auf ein gesamtes Investitionsvolumen von 300 Milliarden Euro kommen.
profil: Da sind aber viele Kredite dabei. Geht das trotz Sparbudgets?
Schulz: Es geht da vor allem auch um Garantien. Das Hauptproblem in den Krisenstaaten ist die Kreditklemme. Die Krise hat dazu geführt, dass Banken kein Vertrauen mehr haben, weder zu ihren Kunden noch untereinander. Sie haben viele Risiken noch nicht abgebaut, was dazu führt, dass sie keine neuen Risiken durch Ausleihen von Geld eingehen wollen. So hat der Bankenstresstest ergeben, dass vor allem in Italien viele Banken Probleme haben. In Italien trifft die Kreditklemme die kleinen und mittleren Unternehmen in Norditalien mit am stärksten. Die sind mit Top-Produkten oder Dienstleistungen weltweit konkurrenzfähig, aber sie klagen über den Mangel an Investitionsvolumen und Risikokapital.
profil: Und was kann die EU dagegen tun?
Schulz: Die Europäische Investitionsbank kann zu den Banken sagen: Wenn ihr solchen Unternehmen einen Kredit gebt, dann übernehmen wir eine Kreditgarantie. Und man kann den Unternehmen anbieten: Wenn ihr solche Kredite in Anspruch nehmt und zugleich junge Arbeitslose einstellt, kriegt ihr bessere Konditionen bei den Krediten. Das Entscheidende bei diesem Modell ist: Wenn man sieht, dass investiert wird und junge Leute eine Chance kriegen, dann gibt es auch eine psychologische Wende. Denn derzeit haben Menschen und Unternehmen kein Vertrauen mehr. Sie konsumieren nicht oder halten sich bei Investitionen zurück. Auch darum steckt Europa weiter in der Krise.
profil: Deutschland wird vorgeworfen, zu wenig zu investieren. Frankreich hält sich wieder nicht an die Budget-Sparpläne. Wie kann man diese Blockade aufheben?
Schulz: Frankreich muss sein Budget in Ordnung bringen, und Deutschland muss mehr investieren. Wir könnten zum Beispiel Projektbonds auflegen. Wer dort sein Geld anlegt, erhält eine Verzinsung, die die öffentliche Hand garantiert. Das führt dann zu einer Hebelwirkung und könnte die Kreditklemme beenden. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Junckers Plan in diese Richtung geht.
profil: Die Krise in der Ukraine verschärft sich gerade wieder. Was kann die EU zur Entspannung unternehmen?
Schulz: Ich möchte auf den APEC-Gipfel in China hinweisen. Da wurde sichtbar, wer die entscheidenden Mächte in den nächsten Jahrzehnten sind: Die USA bleiben eine Weltmacht auf dem Weg zur energiepolitischen Unabhängigkeit. China ist auch eine Weltmacht. Die Staaten des asiatisch-pazifischen Raums vereinen 40 Prozent der Weltwirtschaft. Die EU hat 30 Prozent am Welt-Bruttosozialprodukt mit sinkender Tendenz. Russland weiß noch immer nicht, wohin es eigentlich gehört. Es spielte beim APEC-Gipfel keine führende Rolle, weil Russland unter Putin nur in Öl und Gas sowie in die Rüstung investiert. Wir brauchen einen Dialog mit Russland. Aber dazu gehört auch die Offenheit, der russischen Regierung zu sagen: Ein permanentes Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist verpflichtet, das internationale Völkerrecht zu verteidigen. Was ihr macht, ist, es permanent zu brechen. Der Schaden, der daraus für die Weltordnung entsteht, ist dramatisch. Solange ihr dies so weitermacht, seid ihr kein Partner. Was mich besonders irritiert: Es sind rechtsextremistische Abgeordnete im Europäischen Parlament, die von Russland ständig eingeladen werden, da hinzufahren.
profil: Und Moskau sieht dann in der Ukraine überall Faschisten.
Schulz: Ja, aber dann werden Abgeordnete vom Front National als Wahlbeobachter eingeladen.
profil: Oder von der FPÖ.
Schulz: Wichtig ist: Die russische Föderation muss sich darüber klar werden, dass permanente Konfrontation nicht in ihrem Sinne sein kann.
Martin Schulz, 58
Der gelernte Buchhändler und SPD-Politiker ist seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments. Davor war er lange Jahre Fraktionschef der Sozialdemokraten. Bei den Europawahlen im Mai 2014 unterlag er als SPE-Spitzenkandidat dem Luxemburger Christdemokraten Jean-Claude Juncker beim Rennen um den EU-Kommissionspräsidenten.