Martin Sellner ist ein PR-Coup gelungen: Aus massivem Gegenwind schlägt er Kapital. Doch der Rechtsextreme scheitert beharrlich daran, Anführer einer Bewegung zu werden. Seine Macht liegt nicht auf der Straße, sondern versteckt sich in den Hinterzimmern. Und in der FPÖ.
Um 17.49 Uhr wird Martin Sellner am Grenzübergang angehalten. Zwei Beamte der deutschen Polizei nähern sich seinem schwarzen Mini, sie fragen nach Ausweisdokumenten, dann bitten sie Sellner auszusteigen. Die Donau fließt im Hintergrund, Passau ist fünf Kilometer entfernt. Die Luft ist kalt, die Sonne gerade untergegangen – und Martin Sellner grinst unentwegt.
Ungefähr zehn Journalisten und noch einmal so viele identitäre Sympathisanten schauen zu, als Sellner danach in einen Kleintransporter der Polizei steigt und dort eine Dreiviertelstunde befragt wird. Zwei Tage zuvor ist bekannt geworden, dass die deutschen Behörden – darunter der Verfassungsschutz und die Bundespolizei – ein Einreiseverbot gegen den Rechtsextremen Sellner prüfen, weil er Hauptredner bei einem rechten Vernetzungstreffen war. Fans und Medien machen Hunderte Fotos von Sellner im Polizeiauto, der Polizei-Pressesprecher ersucht freundlich, nicht direkt durch die Fensterscheiben zu filmen.
Sellners Einreise nach Deutschland wurde zum Spektakel, vor allem in dessen Livestream.
Um 18.36 Uhr steigt Sellner wieder in den Mini, reckt die Hand nach draußen und schreit: „Ich darf einreisen!“ Seine Anhänger am Straßenrand jubeln, dann skandieren sie: „Martin! Martin! Martin!“ Er fährt nicht weit. Nach nur 100 Metern lenkt er das Auto an den rechten Straßenrand und startet seinen Livestream, Co-Host Friedrich Langberg steht neben ihm und filmt. Sie haben gemeinsam Sellners Einreiseversuch live auf Kanälen wie Telegram und Rumble übertragen, zeitweise schauen fast 15.000 Leute zu.
Sellner wird derzeit massiv kritisiert. Das macht ihn offenbar einflussreicher. Anfang Jänner berichtete das deutsche Rechercheportal „Correctiv“ über ein Geheimtreffen nahe Potsdam mit Vertretern der Alternative für Deutschland (AfD) und rechten, gut vernetzten Konservativen aus dem CDU-Umfeld. Mittendrin: Sellner, der seine Ideologie der „Remigration“ – massenhafte Vertreibung von Asylwerbern und unliebsamen Staatsbürgern – vortrug. Hunderttausende Empörte demonstrierten danach in westdeutschen Industriestädten, ostdeutschen Nestern und den Metropolen Berlin und Hamburg gegen Rechtsextremismus. Prominente wie Schlagersängerin Helene Fischer, Ex-Skirennläufer Felix Neureuther und Comedian Atze Schröder, die sich davor kaum politisch geäußert haben, erklärten sich solidarisch mit den Demos.
Sellner versucht die Öffentlichkeit für seine Reichweite zu nutzen. Unentwegt bespielt er seine Social-Media-Kanäle, diffamiert Medienmacher und macht Werbung für völkische Ideen. Mit Erfolg. Nicht nur seine Videos sind ein viraler Hit, auch sein im März erscheinendes Buch schickt sich an, ein Bestseller zu werden. Wer ist dieser Mann? Ein zynischer rechter Influencer, der Geld und Ruhm jagt? Ein gefährlicher Anführer des neuen Rechtsextremismus? Oder ein Stichwortgeber, der im Hinterzimmer agiert und sich vom Neonazi zum einflussreichsten Berater von FPÖ und AfD hochgearbeitet hat? Zehn Tage seines Lebens, die Auskunft geben.
11. November 2010 – Der Systemadministrator
Martin Sellner ist zum ersten Mal in den Medien. Der Investigativjournalist Kurt Kuch hat den 21-Jährigen für „News“ als Systemadministrator des Neonaziportals „alpen-donau.info“ ausgemacht. Auf der Website werden Szeneveranstaltungen angekündigt, im Forum Juden, Journalisten und Politiker beschimpft. Als Initiator gilt Gottfried Küssel – die Schlüsselfigur des österreichischen Neonazismus.
Eines der Fotos, mit denen der Artikel bebildert ist, zeigt Sellner im Februar 2010 auf einer Neonazi-Demonstration in Dresden, rund um ihn Menschen mit Fahnen, auf denen „Ostmark“ steht. Es gibt noch andere Fotos aus jener Zeit: Sellner am Weg zu einer Kundgebung direkt hinter Küssel, Sellner als Teilnehmer einer Trauerfeier für Walter Nowotny, einen Jagdpiloten der NS-Luftwaffe, dem Neonazis jedes Jahr am Wiener Zentralfriedhof huldigen.
Wie tief verankert Sellner in dem Milieu ist, wird er später selbst thematisieren. Unter dem Titel „Geständnis einer Maske“ schreibt er 2014 auf der Site der Identitäten über die Ideologie, die er und seine Kameraden angehörten: „Die radikalen Gedankenblitze und die dumpfe Wut über die untragbaren Zustände erstarrten allmählich zu einer in sich geschlossenen Weltanschauung, die im Wesentlichen dem Nationalsozialismus entsprach.“
„Alpen-Donau.info“ wird auf Betreiben des Verfassungsschutzes im März 2011 wegen neonazistischer Inhalte vom Netz genommen, Küssel später wegen seiner Beteiligung zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt.
Sellner bleibt unbehelligt. Warum, das können heute weder die Wiener Staatsanwaltschaft noch das Justizministerium beantworten. Sie verweisen auf den Datenschutz.
10. Februar 2013 – Die Proto-Sellners
Am Sonntagmittag betreten Sellner und acht andere Männer die Wiener Votivkirche. Sie besuchen, mit dicken Rucksäcken auf den Schultern, die Messe. Doch danach verlassen sie die neogotische Kathedrale nicht, sie packen ihre Schlafsäcke aus und rufen eine Besetzung aus. Vor dem Gebäude verteilen ein paar Sympathisanten Flugblätter, auf denen sie ihren Widerstand gegen Asylmissbrauch und „Überfremdung“ erklären.
Der Hintergrund: Im November 2012 sind rund 100 Asylwerber aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen in die Hauptstadt gezogen, um mit Unterstützung linker Gruppen für den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Ausweitung der Grundsicherung zu demonstrieren. Sie bleiben monatelang, zeitweise sind die Protestierenden in der Votivkirche untergebracht. Die Identitären haben weniger Durchhaltevermögen. Nach nur wenigen Stunden geben die neun Männer ihre Besetzung wieder auf. Für den PR-Stunt reicht das.
Die meisten österreichischen Tageszeitungen berichten über die Aktion, „Bewusste Provokation: Rechte besetzen Votivkirche“, titelt etwa der „Kurier“. Während sich Sellner wegen seiner neonazistischen Vergangenheit im Hintergrund hält, gibt der erste Obmann der Identitären, Alexander Markovics, Dutzenden Medien Interviews. Und sagt: Die Identitären wollen nichts mit der „alten Rechten“ zu tun haben, deren Hauptziel die Rehabilitierung alter Nazis sei, sondern den „Großen Austausch“ stoppen. Das Konzept geht auf den französischen Autor Renaud Camus zurück, der davor warnt, dass autochthone Europäer aufgrund von Migration und Globalisierung vom Aussterben bedroht seien.
Es ist eine zutiefst völkisches Ideologie. Die Identitären fühlen sich zur „Neuen Rechten“ zugehörig, die an Schriften von Camus und anderen deutschen und französischen Philosophen anknüpft. Via Social Media und Videos auf YouTube verbreiten sie ihre Inhalte, gründen Landesgruppen in fast allen Bundesländern. Das Ziel: eine Massenbewegung.
Doch neu ist das alles nicht. Was bei alten Rechtsextremen die Angst vor der „Umvolkung“ war, heißt jetzt eben „Großer Austausch“. Nicht einmal ihren Namen haben die Identitären erfunden. Schon zwischen 1990 und 1994 erschien das Jugendformat der rechtsextremen Zeitschrift „Aula“ unter dem Namen „Identität“. Im Editorial der ersten Ausgabe hieß es: „Die Völker Osteuropas finden ihre nationalen Identitäten wieder, während im Westen alles im Konsum, im elektronischen Biedermeier unterzugehen droht. Dagegen wollen wir antreten.“
Die geistige Unruhe, der schlafende Furor teutonicus, das ewig unzivilisierbare, urdeutsche Fieber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegenstrahlt, sammelt sich in uns. Unsere Gegner wissen das, und sie haben Angst.
Martin Sellner
in "Gelassen in den Widerstand" (2015)
1. Jänner 2015 – Aus germanischen Urwäldern
Sellners erstes Buch erscheint. Es hat einen grünen Einband, 99 Seiten und trägt den Titel „Gelassen in den Widerstand“. Es ist ein Dialog zwischen ihm und dem deutschen Identitären Walter Spatz. Die beiden beschäftigen sich mit dem deutschen Philosophen Martin Heidegger: weniger mit dessen NSDAP-Mitgliedschaft, stattdessen mit Heideggers „Volksbegriff“ und welche Gültigkeit er im 21. Jahrhundert noch hat. Der deutsche Sozialwissenschafter David Meiering wird das Buch 2022 in seinen Sammelband „Schlüsseltexte der ‚Neuen Rechten‘“ aufnehmen, weil es versuche, rechtsextreme Inhalte in akademische Diskurse einzuschleusen.
An „Gelassen in den Widerstand“ sind drei Dinge besonders bemerkenswert. Das Buch erscheint, erstens, im Verlag Antaios, der von Götz Kubitschek geleitet wird. Kubitschek gibt sich als rechtsextremer Intellektueller und ist Einflüsterer ranghoher Politiker wie Björn Höcke, der selbst in der AfD am rechten Rand steht. In einem Vortrag sagt Kubitschek einmal: „Deutscher ist, wer deutsche Vorfahren hat. Deutscher kann werden, wer sich auf Gedeih und Verderb auf die Seite des deutschen Volkes schlägt.“ Kubitschek und Sellner haben sich 2012 kennengelernt, die beiden sind befreundet.
Zum Zweiten ist der Duktus des Buches markant. Sellner – zum Erscheinungsdatum 25 Jahre alt – äußert sich darin wie ein verschrobener Professor aus dem vorigen Jahrhundert, selbstredend in alter Rechtschreibung. Seine letzte Antwort am Ende des Buches beginnt er mit den Worten: „Mir obliegt es jetzt, dieser großen Schlußoktave einen weiteren Ton hinzuzufügen“, wenige Seiten weiter schreibt er: „Ich hoffe, mit diesem letzten Wort, das ich mir nun dennoch ausgiebig genommen habe, dein Bekenntnis nicht verzerrt zu haben.“ Dazwischen sprenkelt er lateinische Sprichwörter wie „quod scripsi, scripsi“ (was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben) und „cum grano salis“ (mit einem Korn Salz) ein. Auch Sellners gesprochenes Vokabular ist antiquiert: In einem Livestream im Jänner 2024 wird er sagen, dass er das politische System zum Narren halten möchte wie „weiland Münchhausen“, er redet vom „Joch auf den Schultern“ und dem „gerüttelten Maße“.
Drittens lässt der Inhalt von „Gelassen in den Widerstand“ tief blicken, Sellners Deutschtümelei ist auffallend. Sich selbst bezeichnet er als „,deutschen Österreicher“ und schreibt: „Die geistige Unruhe, der schlafende Furor teutonicus, das ewig unzivilisierbare, urdeutsche Fieber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegenstrahlt, sammelt sich in uns. Unsere Gegner wissen das, und sie haben Angst.“ Auf profil-Anfrage erklärt Sellner, dass das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen sei. Vom Deutschnationalismus distanziere er sich aber, wenn man in ihm einen Vorläufer des Nationalsozialismus erkennt. Der „historische Deutschnationalismus“ der Habsburgerzeit sei hingegen eine wichtige, identitäre Strömung.
Den völkischen Gedanken bleibt Sellner also nach seiner Karriere als Neonazi treu. Ohnehin: Von einem „Ausstieg“ im herkömmlichen Sinn kann bei Sellner keine Rede sein. Das betont er auch selbst im „Geständnis“. Darin nennt er über die „üblichen“ Aussteiger „gescheiterte Existenzen, die winselnd und gebrochen die Bürger warnen, ihre Kinder nur ja von diesen ‚gefährlichen Ideen‘ fernzuhalten“.
Sellner ist aber nicht nur Autor. Er giert nach öffentlicher Aufmerksamkeit. Und so hat er bald seine Zurückhaltung aus den Anfängen der „Identitären Bewegungen“ abgelegt. Erfahrung mit dem Internet bringt er aus seiner „Alpen-Donau“-Zeit mit, jetzt lanciert Sellner einen Video-Blog auf YouTube, spaziert dabei meistens durch Wien, berichtet von Treffen der Organisation, filmt sich beim Sport oder erklärt, warum er, um den „Großen Austausch“ aufzuhalten, keinen Kebab isst. Sellner und nicht Markovics ist das Gesicht der österreichischen Identitären geworden.
Großdemos konnte Sellner nie auf die Beine stellen, es blieb bei aufwändiger Inszenierung.
15. März 2019 – Ein Terrorist als Spender
Im neuseeländischen Christchurch bringt ein Terrorist 51 Menschen um. Er dringt während des Freitagsgebets in zwei Moscheen ein und schießt um sich. Die Welt ist geschockt, Neuseeland trauert, Premierministerin Jacinda Ardern besucht die Tatorte und sagt mit Tränen in den Augen: „Viele der Menschen, die betroffen sind, sind Migranten. Sie haben Neuseeland als ihre Heimat ausgesucht, und es ist ihre Heimat. Sie gehören zu uns. Der Täter, der uns diese Gewalt angetan hat, nicht.“
Die Spuren führen auch zu den Identitären. Das Manifest des Täters trägt den Namen „The Great Replacement“ und bezieht sich auf das Konzept des Franzosen Camus. Im Text nennt der Terrorist Österreich ein mögliches Land, in dem der Aufstand gegen diesen vermeintlichen großen Austausch beginnen könnte.
Es ist nicht der einzige Bezug zu Wien. Wenige Tage nach dem Attentat wird klar, dass der Täter 1500 Euro an Sellner gespendet und mit ihm Mails ausgetauscht hat. Sellner – medienaffin wie immer – beruft eine Pressekonferenz ein, distanziert sich von dem Anschlag und erklärt, er habe keine Kontrolle darüber, wer ihm Geld überweist.
Doch das Image ist schwer angekratzt. Die FPÖ und ihr Parteichef, Vizekanzler Heinz-Christian Strache, gehen auf Distanz, Bundeskanzler Sebastian Kurz will ein Verbot der Organisation prüfen lassen. Im Herbst 2019 – die FPÖ ist mittlerweile aus der Regierung geflogen – gibt Sellner-Intimus Kubitschek ein Interview und sagt über die Identitären: „Es wird nichts Großes mehr daraus.“ Der harte Kern der Gruppe gründet eine Tarnorganisation mit dem Namen „Die Österreicher“. Es hilft nicht viel. 2021 verbietet die türkis-grüne Bundesregierung die Symbole beider Organisationen.
Ohnehin ist aus den Identitären keine „Bewegung“ geworden, die sie im Namen tragen. Sie sind nie über einen elitären Zirkel hinausgewachsen. Die meisten Landesgruppen sind inaktive Hüllen ohne Mitglieder geblieben, selbst auf der Uni Wien bleiben die wenigen identitären Studenten obskure Randgestalten. Die professionelle Struktur mit mehreren Angestellten, von der sie einst in internen Sitzungen fantasiert haben, ist über den Wunschtraum nie hinausgekommen.
Auch für Sellner wird es knapp, seine Karriere hängt am seidenen Faden. Im Juni entfernt YouTube seinen Kanal, im Juli 2020 folgt die Sperre seines Twitter-Profils, dem immerhin 40.000 Leute folgen. Er versucht juristisch gegen den Schritt vorzugehen, zieht die Klage aber bald zurück. Sellner weicht immer stärker auf den russischen Messenger-Dienst Telegram aus.
11. September 2021 – Alte Bekannte, neue Proteste
Rund 3000 Demonstranten versammeln sich vor der Wiener Karlskirche. Nach Monaten der Ruhe ist es der erste größere Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Es kommen empörte Impfgegner, es kommen aber auch sehr viele Rechte. Martin Sellner – Sohn eines Homöopathen – und identitäre Kameraden sind da, auch Gottfried Küssel reiht sich ein. Die ehemaligen Weggefährten fischen mit ihren neuen Projekten im selben Teich.
Sellner und die Seinen versuchen, auf die wachsende Protestbewegung aufzuspringen – und machen Christchurch und die Folgen vergessen. Zwar verzichten sie an diesem Tag darauf, doch bei vielen anderen Aufmärschen der Coronaleugner tragen die Identitären Spruchbänder mit martialischen Slogans wie „An uns zerbricht Eure Nadel“ über die Wiener Ringstraße. Sie stehen parat, wenn es darum geht, sich in vorderster Front Scharmützel mit Gegendemonstranten, Journalisten oder Polizeibeamten zu liefern. Der identitäre Aktivist Roman Möseneder stößt bei einer Demonstration am 4. Dezember 2021 einen Polizeibeamten zu Boden und wird wegen grob fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Es gelingt den Identitären nicht, die Proteste zu kapern, die diffuse Masse der Maßnahmenkritiker lässt sich auch von ihnen nicht organisieren. Sellner nutzt dennoch die Gunst der Stunde. Er mobilisiert, teilt gegen Regierung und Pharmalobby aus. Die Impfungen und die Corona-Politik seien lediglich Teil des „Großen Austausches“ und einer Verschwörung der Eliten. Zwischen Februar 2020 und März 2022 wächst seine Telegram-Followerschaft von 39.000 auf 66.300 an.
Telegram ist nicht die einzige digitale Plattform, die in Mode kommt. Überall schließen Alternativen zu den etablierten sozialen Medien aus dem Boden, sie schreiben sich Meinungsfreiheit auf die Fahnen, und meinen ausbleibende Moderation und Publikum für Hass und Hetze. Sellner findet neue Anbieter für seine Videos. Seinen wöchentlichen Livestream „MS Live“ überträgt er nicht mehr auf YouTube, dafür auf Telegram, Odysee, DLive und Rumble. Letzteres wird maßgeblich vom rechten US-Milliardär Peter Thiel finanziert.
„Mir obliegt es jetzt, dieser großen Schlußoktave einen weiteren Ton hinzuzufügen.“
Martin Sellner
in "Gelassen in den Widerstand", im Original in alter Rechtschreibung.
17. Juli 2023 – Von Verrannten und dem Gottkönig
Martin Sellner ist sauer, im Livestream lässt er seiner Wut freien Lauf. Drei Wochen zuvor sind bei Hausdurchsuchungen in Ober- und Niederösterreich gigantische Waffenvorräte, Drogen und NS-Devotionalien gefunden worden. Die Ermittler vermuten eine Zusammenarbeit von Neonazis, organisierter Kriminalität und Bikergangs.
Die oberösterreichische Landesregierung verabschiedet deswegen einen „Aktionsplan gegen Extremismus“. Auch FPÖ-Landeshauptmannvize Manfred Haimbuchner zieht mit. Als Teil der Bedrohungslage werden die „Neue Rechte“, deutschnationale Burschenschaften und das Milieu der Corona-Maßnahmengegner genannt.
Sellner bezeichnet Haimbuchner in „MS Live“ als „komplett verrannt“. Dann sagt er, gewohnt veraltet, einen verräterischen Satz: „Wenn sich sogar die FPÖ von dir abgrenzt, ist das das totale Kainsmal.“ Im Klartext: Wenn sogar die FPÖ auf Distanz geht, können die Identitären nirgends mehr andocken. Es würde die politische Isolation bedeuten.
Doch die Vorgangsweise der oberösterreichischen FPÖ bleibt ein Einzelfall. Die Bundespartei denkt nicht daran, sich zu distanzieren. Generalsekretär Christian Hafenecker reitet persönlich gegen Haimbuchner und den Extremismus-Plan aus. Und Parteichef Herbert Kickl, anders als sein Vorvorgänger Strache, sucht die Nähe zu den Identitären: Er nennt die Gruppe eine rechte NGO wie Greenpeace. Abgrenzung von den Rechtsextremen hält die FPÖ nicht für notwendig. Sellner sagt auf profil-Anfrage: „Ich denke, unser Einfluss auf die FPÖ ist nicht größer als der Einfluss von Fridays for Future auf die Grünen.“
Sellner weiß Kickls Kuschelkurs zu schätzen. Eineinhalb Monate nach dem Livestream am 17. Juli streamt Sellner wieder. Thema ist diesmal das ORF-Sommergespräch mit dem FPÖ-Obmann, den er über den grünen Klee lobt. Sellner spricht einen Toast auf den Parteichef aus: „Auf Herbert Kickl, den Gottkönig.“
Zwei Tage nach dem Grenzübertritt in Passau ist Martin Sellner noch immer in Hochstimmung. Er hat sein Publikum wieder zu „MS Live“ versammelt. „Can’t stop winning“, sagt er und grinst. Denn nicht nur hat er den Grenzübertritt publikumswirksam bestritten, sein neues Buch „Remigration. Ein Vorschlag“, das im März erscheinen wird, hat es auf den ersten Platz der Amazon-Bestsellerliste geschafft. Was das bedeutet, ist fraglich. Der Onlinekonzern nennt auf profil-Anfrage keine genaue Anzahl der Bestellungen, die für das Buch eingegangen sind. Danach geht Sellner zur gewohnten Tagesordnung der Streams über, kommentiert aktuelle Schlagzeilen und widmet sich einem Thema besonders intensiv. In dem Fall sind
es die vermeintlichen Lügengeschichten, die „Correctiv“ über das Geheimtreffen in Potsdam verbreite, dann verspottet er eine kopftuchtragende Teilnehmerin einer Anti-Rechtsextremismus-Demonstration. „Mehr sage ich dazu nicht“, sagt Sellner.
Auch wenn derartige Livestreams im Internet weit verbreitet sind, ist Sellner eben kein üblicher Influencer. 30 bis 40 Arbeitsstunden investiert er laut eigener Angabe auf profil-Anfrage wöchentlich in seine Social-Media-Kanäle, und er nutzt seine Reichweite, um seine rechtsextreme Ideologie zu verbreiten. Darauf verweist auch der deutsche Politikwissenschafter Harald Sick von der deutschen Bundesarbeitsgemeinschaft „Gegen Hass im Netz“ im Gespräch mit profil. Als Kontrast nennt er Eva Herman. Die ehemalige ARD-Nachrichtensprecherin hat eine dramatische Radikalisierung hinter sich, auf Telegram teilt sie mit ihren fast 190.000 Followern rechte Verschwörungstheorien. Dazwischen schaltet sie zahlreiche „affiliated links“, also Verweise auf Produkte in Onlineshops. Wenn sie zum Kauf führen, verdient Hermann mit. „So etwas macht Sellner nicht“, sagt Sick. „Er ist Beispiel für etwas anderes. Er zeigt, dass sich Geldverdienen und rechtsextremer Aktivismus nicht ausschließen muss.“
Um als Influencer wirklich durchzustarten, fehlt Sellner allerdings die Professionalität. Man erkennt das an der bizarren Dynamik in seinen Videos mit seinem Co-Host Langberg, der sich um die Technik kümmert und als Stichwortgeber agiert. Der ehemalige RFJ-Funktionär macht oft einen tollpatschigen Eindruck: Bei der Fahrt nach Passau scheitert Langberg an der Bedienung der „Google Maps“-App, kurz vor der Grenze muss er aus dem Auto aussteigen, weil sein Pass abgelaufen ist, wenig später hält er dann doch die Kamera, mit der er Sellner filmt, aber falsch. Im Livestream am 31. Jänner vergisst Langberg, eine Videoanimation einzuspielen, und ärgert sich: „Ich bin ein Trottel.“ Sellner beruhigt ihn: „Du bist kein Trottel.“
Sellner bei seiner Mini-Pressekonferenz in der Nähe des Wiener Heldenplatzes.
2. Februar 2024 – Thinktank statt NGO
Sellner hat am Freitagnachmittag in Wien zur Pressekonferenz geladen. Er will noch einmal über die Verschwörung, die hinter der „Correctiv“-Recherche steckt, sprechen – auch ein „allgemeines Treffen“ danach stellt er in Aussicht. Doch es kommt fast niemand. In einem Café unweit des Heldenplatzes versammeln sich um den vermeintlichen Bestsellerautor nicht einmal zehn Leute, drei ältere Damen sind da, ein älterer Herr filmt und macht Fotos. Im vorderen Teil des Lokals sitzt eine zehnköpfige Abordnung der Identitären, darunter Sellners langjährige Wegbegleiter Fabian R. und Philipp H. Während Sellner im Livestream 1000 Zuschauer hat, geht die Pressekonferenz im Lokal fast unbemerkt über die Bühne.
Dieser Widerspruch prägt wie kein anderer Sellners Karriere. Während er sich in sozialen Medien zur überlebensgroßen Figur aufbläst, ist er im realen Leben eher Kopf „einer medial vollkommen überbewerteten Gurkentruppe“, wie die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ einmal formuliert hat. Er, der schon so lange eine Massenbewegung aufbauen will, kann es nicht.
Es ist deswegen irreführend, wenn Herbert Kickl und Martin Sellner die Identitären mit Greenpeace und Fridays for Future vergleichen. Diese Organisationen können Großdemonstrationen organisieren und breite Bündnisse schmieden. Diese Fähigkeit fehlt Sellner. Vielmehr ist er Kopf eines Thinktanks, der Konzepte aufwirft, die FPÖ und AfD aufgreifen können. Den meisten Einfluss hat Sellner nicht auf der Straße und auch nicht im Internet, sondern in Hinterzimmern und Seminarräumen. Schon vor dem Geheimtreffen in Potsdam hat Sellner bei einem Vernetzungstreffen im bayerischen Dasing teilgenommen, einige seiner identitären Kameraden haben es zu Referenten in der FPÖ-Bildungsakademie geschafft.
7. Februar 2024 – Rette sich, wer kann
In den Abendstunden beantwortet Martin Sellner die schriftliche Anfrage an profil. Die Antworten, die sich auf das Buch beziehen, sind mehrere Absätze lang, er erklärt, profil zitiere zusammenhanglos und verkürzt. Der Mailverkehr ist wenig ergiebig, Sellner stellt ihn dennoch quasi live auf sein „Substack“, eine weitere Onlineplattform, die er bespielt.
Währenddessen postet er weiter auf Telegram – und stellt sich auf ein turbulentes Superwahljahr ein. Die Identitären und er würden weiter Thema bleiben, um FPÖ und AfD zu schaden, sagt er in einem Podcast, in dem er sich mit Prinzessin Peach und Herbert Kickl mit Super Mario vergleicht. Im Videospiel „Super Mario“ rettet der Held Prinzessin Peach aus den Fängen des Bösewichts.
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Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.