Rechtsextremismus

Martin Sellner: Der Möchtegern-Führer

Martin Sellner ist ein PR-Coup gelungen: Aus massivem Gegenwind schlägt er Kapital. Doch der Rechtsextreme scheitert beharrlich daran, Anführer einer Bewegung zu werden. Seine Macht liegt nicht auf der Straße, sondern versteckt sich in den Hinterzimmern. Und in der FPÖ.

Drucken

Schriftgröße

29. Jänner 2024 – Triumphfahrt nach Passau

Um 17.49 Uhr wird Martin Sellner am Grenzübergang angehalten. Zwei Beamte der deutschen Polizei nähern sich seinem schwarzen Mini, sie fragen nach Ausweisdokumenten, dann bitten sie Sellner auszusteigen. Die Donau fließt im Hintergrund, Passau ist fünf Kilometer entfernt. Die Luft ist kalt, die Sonne gerade untergegangen – und Martin Sellner grinst unentwegt.

Ungefähr zehn Journalisten und noch einmal so viele identitäre Sympathisanten schauen zu, als Sellner danach in einen Kleintransporter der Polizei steigt und dort eine Dreiviertelstunde befragt wird. Zwei Tage zuvor ist bekannt geworden, dass die deutschen Behörden – darunter der Verfassungsschutz und die Bundespolizei – ein Einreiseverbot gegen den Rechtsextremen Sellner prüfen, weil er Hauptredner bei einem rechten Vernetzungstreffen war. Fans und Medien machen Hunderte Fotos von Sellner im Polizeiauto, der Polizei-Pressesprecher ersucht freundlich, nicht direkt durch die Fensterscheiben zu filmen.

Sellners Einreise nach Deutschland wurde zum Spektakel, vor allem in dessen Livestream.

Um 18.36 Uhr steigt Sellner wieder in den Mini, reckt die Hand nach draußen und schreit: „Ich darf einreisen!“ Seine Anhänger am Straßenrand jubeln, dann skandieren sie: „Martin! Martin! Martin!“ Er fährt nicht weit. Nach nur 100 Metern lenkt er das Auto an den rechten Straßenrand und startet seinen Livestream, Co-Host Friedrich Langberg steht neben ihm und filmt. Sie haben gemeinsam Sellners Einreiseversuch live auf Kanälen wie Telegram und Rumble übertragen, zeitweise schauen fast 15.000 Leute zu.

Sellner wird derzeit massiv kritisiert. Das macht ihn offenbar einflussreicher. Anfang Jänner berichtete das deutsche Rechercheportal „Correctiv“ über ein Geheimtreffen nahe Potsdam mit Vertretern der Alternative für Deutschland (AfD) und rechten, gut vernetzten Konservativen aus dem CDU-Umfeld. Mittendrin: Sellner, der seine Ideologie der „Remigration“ – massenhafte Vertreibung von Asylwerbern und unliebsamen Staatsbürgern – vortrug. Hunderttausende Empörte demonstrierten danach in westdeutschen Industriestädten, ostdeutschen Nestern und den Metropolen Berlin und Hamburg gegen Rechtsextremismus. Prominente wie Schlagersängerin Helene Fischer, Ex-Skirennläufer Felix Neureuther und Comedian Atze Schröder, die sich davor kaum politisch geäußert haben, erklärten sich solidarisch mit den Demos.

Sellner versucht die Öffentlichkeit für seine Reichweite zu nutzen. Unentwegt bespielt er seine Social-Media-Kanäle, diffamiert Medienmacher und macht Werbung für völkische Ideen. Mit Erfolg. Nicht nur seine Videos sind ein viraler Hit, auch sein im März erscheinendes Buch schickt sich an, ein Bestseller zu werden. Wer ist dieser Mann? Ein zynischer rechter Influencer, der Geld und Ruhm jagt? Ein gefährlicher Anführer des neuen Rechtsextremismus? Oder ein Stichwortgeber, der im Hinterzimmer agiert und sich vom Neonazi zum einflussreichsten Berater von FPÖ und AfD hochgearbeitet hat? Zehn Tage seines Lebens, die Auskunft geben.

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.