Matura-Reform: Reif für die Zentralprüfung
In Englisch musste ein Text über einen UN-Bericht, wonach Finnland „the world’s happiest country“ sei, analysiert werden. In einem Mathematik-Beispiel war das Mischverhältnis von Schwarzen Johannisbeeren und Kiwis in einem Smoothie zu berechnen. In Deutsch lautete die Aufgabe, einen Artikel aus der „Wiener Zeitung“ zu analysieren – Titel: „Die Oma, der Mythos“. In Latein gab es eine Stelle von Augustinus über den Frieden zu übersetzen, in Altgriechisch einen Text zu Orestes’ Mord an Klytaimnestra und Aigisthos.
Seit drei Wochen läuft die Matura, genauer: die „standardisierte kompetenzorientierte Reife- und Diplomprüfung“. Der schriftliche Teil begann am 2. Mai mit den Fächern Latein und Altgriechisch und endete am 11. Mai mit Italienisch. Die mündlichen Prüfungen laufen vom 31. Mai bis zum 1. Juni. Insgesamt treten österreichweit rund 40.000 Kandidatinnen und Kandidaten an.
Seit zehn Jahren kommt in Österreich das Konzept „Zentralmatura“ zur Anwendung. Damit kann man die Leistungen von Maturantinnen und Maturanten direkt vergleichen, egal ob sie eine AHS oder BHS in Wien, Mattersburg, Mistelbach, Hartberg, Villach, Radstadt, Gmunden, Imst oder Dornbirn besuchten. Im Mai 2015 wurde die Reifeprüfung an den AHS erstmals österreichweit zentral durchgeführt, ein Jahr darauf folgten die BHS. Schon 2013 waren große, überregionale Schulversuche angelaufen, an denen sich mehr und mehr Gymnasien, HAKs und HTLs beteiligten.
Pannenserie zu Beginn
Ganz pannenfrei lief die erste „echte“, also bundesweite Zentralmatura 2015 nicht ab. Beim Einbruch in ein Salzburger Gymnasium waren Kuverts mit Latein-Klausuren geöffnet worden. Einzelne Medien stellten Aufgaben schon am Prüfungstag online. Mangels Abstimmung zwischen Verteidigungs- und Bildungsministerium hatten viele männliche Kandidaten zeitgleich einen Stellungstermin beim Bundesheer. Immerhin blieben peinliche Eklats wie beim Probelauf 2014 aus, als bei Deutsch-Aufgaben der Text des NS-belasteten Autors Manfred Hausmann verwendet wurde.
Die Entwicklung der Zentralmatura zog sich über Jahre. Im Jänner 2009 präsentierte die damalige SPÖ-Unterrichtsministerin Claudia Schmied in Abstimmung mit ihrem ÖVP-Koalitionspartner das Konzept einer „standardisierten, kompetenzorientierten Reifeprüfung“, im Oktober desselben Jahres wurde die notwendige Novelle zum Schulunterrichtsgesetz im Nationalrat beschlossen.
EU-weit war die Zentralmatura längst Norm. Auch Bildungspolitiker in Österreich versprachen sich davon mehr Objektivität, Fairness und Vergleichbarkeit. Dank der Zentralmatura weiß nun jeder Direktor, wie gut die eigene Schule ist. Die Ergebnisse werden von den zuständigen Schulqualitätsmanagern (früher: Landesschulinspektoren) der Bildungsdirektionen (früher: Landesschulräte) an die Schulleiter übermittelt – und streng gehütet. An Ranglisten der besten und schlechtesten Schulen eines Bundeslandes haben, angesichts der vorhersehbaren Reaktionen von Eltern und Öffentlichkeit, weder Behörden noch Schulleiter (noch Personalvertreter) ein Interesse. Weniger Bedenken gibt es bei Bundesländervergleichen, die von der Statistik Austria geliefert werden. Also: Im Jahr 2022 waren von den 39.000 Maturanten die Burgenländer im Schnitt die besten, die Wiener die schlechtesten.
Verbesserte Qualität
Ob das Bildungsniveau der Zentralmaturanten im Vergleich zu den einstigen Individualmaturanten zunahm, kann kaum seriös gemessen werden. Die Gewerkschaft der AHS-Lehrer warnte bei der Einführung der Zentralmatura vor einer Nivellierung nach unten. Aufgrund der verschiedenen Leistungsstärken der Schüler müssten die Standards „notgedrungen tief angesetzt werden“, da man „ja nicht ganze Klassen gesammelt scheitern lassen“ könne. Allerdings ist die Matura von heute kaum vergleichbar mit der Reifeprüfung der Vergangenheit.
Eine, die es wissen muss, ist Isabella Zins, seit 15 Jahren Leiterin des BORG Mistelbach und Vorsitzende des Dachverbands der AHS-Direktorinnen und Direktoren Österreichs. Aus ihrer Sicht kann die Zentralmatura nach Adaptierungen in den letzten Jahren als „erfolgreiches Projekt“ bezeichnet werden. Maßstab sei, „was am Ende der Schullaufbahn nachhaltig hängen bleibt“. Das „Verstehen“ sei wichtiger als das „Auswendiglernen“. Dass manche Uni-Rektoren das Niveau heutiger Maturanten kritisieren, hält sie für „Überheblichkeit“. Statt der jeweils vorhergehenden Bildungsinstitution Versagen vorzuwerfen, sei „längst ein gemeinsamer Blick aller auf die Übergänge im Bildungssystem notwendig, vom Kindergarten bis zur Universität“.
Ursula Madl, seit 19 Jahren Direktorin des Wiener Billrothgymnasiums und Vorständin des Vereins der AHS-Direktoren in Wien, meint, durch die Standardisierung habe sich die Qualität der Matura verbessert. Auch die Kollegenschaft könne von der neuen Vergleichbarkeit profitieren. Madl: „Es motiviert Lehrerinnen und Lehrer, wenn ihre Klassen bei der Zentralmatura gut abschneiden.“ Madls Bilanz fällt trotzdem gemischt aus: „Ich bin nicht nur unglücklich über die Zentralmatura, aber auch nicht voller Glück.“ Gelitten hätte etwa das kreative Schreiben aufgrund der Konzentration auf bestimmte Textsorten bei der Deutsch-Zentralmatura. ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek ist mit dem Jahrgang 2023 zufrieden: „Die schriftliche Matura ist in ganz Österreich gut angelaufen. Uns wurden keine Störungen gemeldet.“
Dauerstörungen
Die vergangenen drei Jahre dagegen waren aufgrund der coronabedingten Schul-Lockdowns eine einzige Dauerstörung. Um den Stress für die Maturanten zu mildern, wurden Sonderregelungen eingeführt. Die mündliche Matura war freiwillig, die Arbeitszeit für die schriftlichen Klausuren wurde verlängert, die Jahresnote in die Maturanote einberechnet. Letzteres gilt weiter, ansonsten läuft die Zentralmatura seit heuer wieder wie vorgesehen.
Die Erleichterungen erfüllten ihren Zweck. Zwischen 2017 und 2019 bestanden im Schnitt rund 85 Prozent der zum Haupttermin angetretenen Schülerinnen und Schüler die Matura. In den folgenden drei Corona-Jahren lag der Wert über 90 Prozent. Dank der Erleichterungen schafften auch mehr Schüler die Reifeprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg.
Insgesamt habe die Zentralmatura jedenfalls nicht weniger Abschlüsse gebracht als das frühere Reifeprüfungs-System, sagt Regina Radinger, Bildungsexpertin bei der Statistik Austria. Die Prüfungen würden bloß häufiger auf später verschoben, da die Kandidaten mehrmals oder zu Nebenterminen antreten würden. Heißt allerdings im Umkehrschluss: Beim Haupttermin fallen – ohne Corona-Erleichterungen – mehr Schüler durch als früher. Warum, kann niemand so genau sagen. Eine Vermutung lautet: Vor der Zentralmatura sei es durchaus Praxis gewesen, dass Lehrer in der Vorbereitungszeit jene Materien intensiver übten, die später auch zur Matura kamen.
Partieller Lottobetrieb?
Herbert Weiß, Chef der AHS-Lehrergewerkschaft, sieht die Zentralmatura immer noch skeptisch: „Einerseits wird gefordert, Lehrer sollten mehr auf die individuellen Talente der Schüler eingehen. Und andererseits wird die Matura standardisiert. Das geht nicht zusammen.“ Überdies würde die Zentralmatura dazu führen, dass Lehrer ihre Unterrichtsinhalte nicht mehr frei und flexibel nach der jeweiligen Klasse ausrichten würden, sondern komplett auf den Lehrstoff der Zentralmatura. „Teaching to the Test“ nennt das die Bildungswissenschaft. Nicht für das Leben wird gelernt, sondern für die Matura. Wie eine aktuelle Umfrage des Österreichischen Bundesverlags unter 634 Lehrkräften zeigt, sind 82 Prozent der Pädagogen der Meinung, dass zu stark „auf die Matura hin“ unterrichtet werde.
Der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann ist überzeugt, dass schon in vielen siebenten Klassen nur noch für die Reifeprüfung gelehrt und gelernt würde. Hopmann zählt zu den schärfsten Kritikern der standardisierten Zentralmatura. Trotz gegenteiliger Erwartungen seien Chancengleichheit und Fairness nicht erhöht worden. Schüler aus bessergestellten Haushalten könnten immer noch mehr Nachhilfe in Anspruch nehmen, um sich zielgerichtet vorzubereiten. Die Zentralmatura sei zudem ein „partieller Lottobetrieb“, da es oft reines Glück wäre, wenn ein Lehrer gerade den Stoff durchnehme, der zu den Klausuren komme. Hopmanns Bilanz: Die Zentralmatura sei „weder gerechter noch leistungsfördernder“.
Ursula Madl, Direktorin des Wiener Billrothgymnasiums, meint, die Qualität des Unterrichts lasse sich auf eine Größe reduzieren: „Ob Zentralmatura oder individuelle Reifeprüfung: Letztlich hängt der Schulerfolg von den Lehrerinnen und Lehrern ab, die in der Klasse stehen.“
Aber wer auch immer da vorn stand, ob in Villach oder Gmunden, an einer Tatsache ließ sich anno 2023 nicht rütteln: In den heurigen Zentralmathematura-Smoothie kamen 50 Gramm Schwarze Johannisbeeren und 25 Gramm Kiwis.