1. Mai: Corona macht daraus ein lebloses Event
Wenn Bürgermeister Michael Ludwig am Freitag frühmorgens von seinem Büro im Wiener Rathaus aus dem Fenster sieht, wird der Platz menschenleer sein. Kein Gerüst, keine Tribüne, kein Signalrot. Von nirgendwoher wird der Wind die Töne eines Blechinstruments herantragen oder die dumpfen Schläge einer Trommel.
Auf der Ringstraße wird es still sein, keine Gruppen von Krankenschwestern, Müllmännern oder Eisenbahnern, keine Bezirkszüge, keine Favoritner und keine Leopoldstädter. Dann wird der Chef der Wiener SPÖ in seinem Zimmer in ein Mikrofon sprechen, das heiße Licht einer Filmkamera wird ihm die Schweißperlen ins Gesicht treiben und nicht die leise Angst vor der Unbestechlichkeit der Publikums, die noch jeden Sozialdemokraten befiel, der am 1. Mai auf der Tribüne stand, das Vibrieren der Menge spürte, in sie hineinhörte und hineinschaute und erst am Ende wusste, ob der Funke übergesprungen war. Wenn er klug war, wusste der Redner, dass es nicht allein auf ihn ankam, weil bisher jeder 1. Mai immer auch das Orakel sprach über die Zukunft der Bewegung. Am ersten 1. Mai 1890 waren seine Teilnehmer ernst und angespannt. Man wusste nicht, ob die Ordnungsmacht in die Menge preschen und das Feuer eröffnen würde. Polizei und Militär standen in Bereitschaft, die Hofburg war abgeriegelt, die Fenster der Wohnhäuser verhängt, die Tore verschlossen. Hamsterkäufe waren am Tag zuvor getätigt worden. Das Bürgertum befürchtete das Schlimmste.
Gegen den geltenden Ausnahmezustand in der Donaumonarchie hatten die Führer der Arbeiterbewegung auf ihrem 1. Mai bestanden. So war es am Arbeiterkongress in Paris ein halbes Jahr zuvor beschlossen worden. Mit der Forderung nach dem Achtstundentag. Ohne Fahnen und Gesänge marschierte die Menge aus den Arbeiterbezirken in den Prater, nicht in der Straßenmitte, sondern bescheiden am Gehsteig. Jede Art von Agitation war ihnen behördlich verboten worden. Selbst von der bürgerlichen "Presse" wurden die Demonstranten am Tag danach für "Würde, Anstand und Achtung vor dem Gesetz" gelobt.
So hatte der "Zug der Hunderttausend", als der er in die Geschichte einging, den ersten nichtkirchlichen Feiertag durchgesetzt.
Der Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, der diesen Tag hinter Gittern verbringen musste, war erleichtert, dass es ohne Zwischenfälle abgegangen war. Er hatte sich Sorgen gemacht über die Nervosität der Staatsgewalt, in der "Krawalle und Blutvergießen öfter durch die dumme Furcht der Behörden als durch ihre Brutalität herbeigeführt wurden".
"Eine Entscheidungsschlacht ist gewonnen",so der Parteiführer am Tag danach. Damit sei die Arbeiterbewegung "von einer Sekte zu einem bedeutenden politischen Faktor geworden - als Ganzes, als kämpfender Körper, als eine Einheit, als Klasse gegen andere Klassen".Auch die "Arbeiter-Zeitung" schwelgte in Pathos und rief den 1. Mai zum "heiligen Tag" aus.
Der 1. Mai 1890 läutete das Ende des kaiserlichen Blumenkorsos ein, mit dem Aristokratie und Großbürgertum bis dahin das Frühlingserwachen auf der Prater Hauptallee gefeiert hatten. Er fand zwar noch ein paar Mal statt, doch als "Schatten seiner selbst", so ein Zeitungskommentar.
Ein wahrer Triumph war dann der 1. Mai 1919. Donaumonarchie und Kaiser waren Geschichte, das kleine Österreich eine Republik, in Wien stellte die Sozialdemokratie mit absoluter Mehrheit Bürgermeister und Stadtregierung, und der stellvertretende Parteivorsitzende Otto Bauer sprach vom "Endsieg" des Sozialismus.
1922 fand die Abschlusskundgebung erstmals vor dem Wiener Rathaus statt, wo Delegationen der Berufsgruppen und Bezirke an der Haupttribüne vorbeidefilierten, sich rasch zerstreuten und im Prater vergnügten. Wie auch vergangenes Jahr.
"Gefahr der Selbsttäuschung"
Auf 350.000 Menschen schwollen die Maiaufmärsche in den besten Zeiten an. Anfang der 1930er-Jahre gab es aufwendig durchkomponierte Massenmanifestationen und Festspiele im Praterstadion. Die Betonung der Inszenierung war freilich ein Menetekel. Je schwieriger die Lage, desto mehr Aufwand wurde getrieben. Und desto größer war die "Gefahr der Selbsttäuschung", wie die Historiker Wolfgang Maderthaner und Michaela Maier in ihrem Vorwort über eine Studie zur Geschichte des 1. Mai analysieren.*
1931 waren Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Hunger in Österreich angekommen; viele Arbeitslose waren ausgesteuert und ohne jegliche Unterstützung. Die Nationalsozialisten machten sich mit dem neuen Medium Film, altbewährten Schlägertrupps und antisemitischen Parolen, die ein paar Jahre später tödliche Wirkung entfalteten, in aggressiven Wahlkämpfen bemerkbar. Das Bürgertum driftete nach rechts und glaubte kaum noch an die Demokratie. In der Jugend wurde das Bürgerliche verachtet und das Heroische verehrt. In der "Arbeiter-Zeitung" erschien am 1. Mai 1931 dazu ein Essay, eine Prophezeiung. Ernst Fischer, der später Kommunist wurde, beschreibt darin den Zeitgeist der Jugend, die jegliche Vernunft und Aufklärung verhöhne, Politik nur als Betrug und Schwindel werte und sehnsüchtig auf eine Instanz warte, die einem sage, wohin es gehe.
Die Sozialdemokratie reagierte darauf mit noch bombastischeren Inszenierungen. Im Praterstadion wurde 1932 die Geschichte der Menschheit mit 6000 Mitwirkenden aufgeführt. Es wurde ein finanzielles Desaster, nicht einmal für eine Dokumentation war noch Geld übrig, obwohl seit 1922 jedes Jahr ein 1.-Mai-Film produziert worden war.
Auch im diesjährigen Corona-Jahr gibt es einen Film, der am 1. Mai auf Puls24 und im Internet zu sehen sein wird. Eine Notlösung. Ein moderiertes Gespräch zwischen dem Politiker Michael Ludwig, der gleichwohl Historiker ist, und dem ehemaligen Direktor des Staatsarchivs und Experten für die Geschichte der Arbeiterbewegung, Wolfgang Maderthaner, bildet den roten Faden einer Tour d'Horizon durch Geschichte und Bedeutung des 1. Mai. Auftraggeber: die Wiener SPÖ.
Pragmatismus und Utopie
Ludwig ist vermutlich der letzte Mohikaner unter aktiven SPÖ-Politikern, der die Geschichte seiner Partei aus dem Stegreif referieren kann. Soweit profil bei den Filmaufnahmen dabei sein konnte, geht es ihm darum, mit Blick auf die Wien-Wahl im Herbst 2020 Pragmatismus und Utopie im Politikkonzept der SPÖ wieder in Einklang zu bringen. Er spricht von den Reichensteuern im Roten Wien der Ersten Republik, von der Notwendigkeit der Organisation ("Kein Einzelner bringt etwas zusammen"), vom "sublimierten Klassenkampf". Und auf die Frage des Interviewers, wann denn die Kampfzeit zu Ende gewesen sei, kommt sofort der Satz: "Die ist nie vorbei."
Ludwig erwähnt sogar die oft vergessene, am 1. Mai jedoch immer hervorgeholte internationale Solidarität. Internationale Solidarität sei die "Zärtlichkeit der Völker", sagt er im Gespräch mit Maderthaner. Vielleicht hat er sich in diesem Moment an den Maiaufmarsch 2016 erinnert, als Ex-Kanzler Werner Faymann von den Genossen und Genossinnen ausgepfiffen wurde, unter anderem deshalb, weil er in der Regierung eine restriktivere Flüchtlingspolitik mit Flüchtlingsobergrenzen befürwortet hatte. Damals hatte sich die langsame Implosion der SPÖ angekündigt.
Für die Sozialdemokratie in der Ersten Republik war es ab 1932 bergab gegangen. Bei den Wahlen in Wien erreichten die Nationalsozialisten 17,4 Prozent der Stimmen, ein Jahr darauf, am 5. März 1933, wurden sie in Deutschland stärkste Partei. Zwei Tage später war in Österreich das Parlament ausgeschaltet und der Weg in eine Diktatur beschritten.
Der Aufmarsch am 1. Mai 1933 wurde verboten. Die Sozialdemokratie rief zu stillen Spaziergängen auf. "Wir rufen nicht, wir singen nicht. Wir wirken nicht durch Lärm, sondern durch unsere Zahl." Am 1. Mai 1934 wurde eine neue Verfassung gefeiert, in der es hieß: "Alles Recht geht von Gott aus", und die Sozialdemokratie war gänzlich verboten. In sein Gegenteil verkehrt und pervertiert wurde der 1. Mai vom NS-Regime. Die Ideologie der Volksgemeinschaft kannte nur Rassen und keine Interessensgegensätze. Die Direktoren großer Unternehmen marschierten gemeinsam mit ihrer Belegschaft, Maibaum und Hakenkreuz waren die neuen Symbole. Ein "Herdenumtrieb unter SA-Bewachung", so ein Zeitungskommentar nach der Befreiung im Jahr 1945.
Die Maifeiern in der Zweiten Republik waren durchwegs staatstragend. Der "sublimierte Klassenkampf", von dem Ludwig spricht, forderte seinen Preis. Die Farbe Rot mussten sich die Sozialdemokraten erst wieder zurückerobern. (Auch die Hakenkreuzfahnen waren blutrot gewesen.)
Im Jahr 1949 griff die SPÖ noch einmal auf das Konzept der Massenfestspiele im Praterstadion zurück. Wieder wurden Tausende Mitwirkende in Szene gesetzt, zum Teil von denselben Regisseuren wie im Jahr 1932. Motorräder, Rauchkulissen, Fesselballone und eine Riesenerdkugel wurden dem Publikum dargeboten und geschmacklose Szenen, in denen kostümierte Nazi-Schergen kostümierte KZ-Häftlinge mit Peitschen vor sich hertrieben. Ein Fehlgriff.
In den 1960er-Jahren erwog man in der SPÖ, das Parteivolk am 1. Mai mit prominenten Schauspielern zu ködern. Die Idee wurde sogleich wieder verworfen, doch immerhin sorgte die Bezirksorganisation Brigittenau ein paar Jahre lang mit einer Parade lebender Elefanten für Aufsehen.
Im Mai 1968 gab es einen kleinen Wirbel. Die linke Parteijugend hatte den Blasmusik-Rummel der Partei verspottet und "Wo bleibt der Sozialismus?" in die Menge gerufen. Sie wurde mithilfe der Polizei verjagt und vom Wiener SPÖ-Bürgermeister Bruno Marek in einem ORF-Interview als "unglückliche Menschen, die eigentlich einer nervenärztlichen Behandlung zugeführt werden sollen" charakterisiert.
Bruno Kreisky gewann die Nationalratswahl im März 1970 trotzdem mit Rückenwind der Jugend. Der 1. Mai geriet zu einem Triumphzug. Erstmals stand ein sozialdemokratischer Kanzler auf der Tribüne.
Nur ein Mal abgesagt
Nur ein einziges Mal wurde die Kundgebung am Rathausplatz abgesagt: als SPÖ-Stadtrat Heinz Nittel am 1. Mai 1981 frühmorgens vor seinem Wohnhaus erschossen wurde. Nittel war Präsident der österreichisch-israelischen Gesellschaft gewesen und einem palästinensischen Terrorkommando zum Opfer gefallen. Im Wesentlichen sind die Mai-Aufmärsche in den vergangenen 100 Jahren immer gleich abgelaufen. Eine rote Nelke im Knopfloch, das Maiabzeichen angesteckt, dicht an dicht am Rathausplatz, trotz allem Geschimpfe ein Bild des Zusammengehörens. Ein von einem Traktor gezogener Bummelzug für die nicht mehr so Marschiertauglichen wurde irgendwann einmal eingeführt, die Seitentribünen mit Sitzplätzen vergrößert. Am Ende wurde die Internationale gesungen. Auch vom Bundeskanzler, solange der noch ein Sozialdemokrat war. Die Inszenierung hat gehalten. Aber von jetzt an ist alles ungewiss. Man wird den 1. Mai vermissen.
*Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein. Der 1. Mai. Geschichte und Geschichten. Herausgegeben von Wolfgang Maderthaner und Michaela Maier, Wien 2010. edition rot.