Regierungsbänke im Nationalrat
Koalitionen

Mehrparteien Regierung? Diese EU-Staaten machen es vor

Steht Österreich vor der Bildung seiner ersten Mehrparteienregierung? Mehrere Länder in der Europäischen Union haben bereits Regierungen aus drei oder mehr Parteien.

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Nach dem FPÖ-Wahlsieg bei der Nationalratswahl steht das österreichische Regierungssystem vor einer Zeitenwende: Erstmals seit 1949 könnte es eine Dreier-Regierung geben. Der Blick nach Europa zeigt, dass Mehrparteienregierungen keineswegs ungewöhnlich sind. Während es nur drei Alleinregierungen gibt (Griechenland, Malta und Portugal), ist auch die Zahl von Zweier-Koalitionen (sechs; Kroatien, Luxemburg, Österreich, Rumänien, Spanien, Ungarn) überschaubar. Bulgarien steckt wegen der verhärteten Fronten zwischen den Parlamentsparteien seit Jahren in einer politischen Dauerkrise. Weil die Regierungsbildung nach den Parlamentswahl im Juni gescheitert ist, wird Bulgarien weiterhin von einer Übergangsregierung unter dem früheren Rechnungshofpräsidenten Dimitar Glawtschew geführt. Ende Oktober finden neuerliche Parlamentswahlen statt.

Trotzdem haben 17 der 27 EU-Staaten haben Regierungen mit drei Parteien oder mehr. Ein Überblick.

Belgien 

Die vielfältigste Regierung Europas hat traditionell Belgien, was auch an der Staatsstruktur liegt. Die Landesteile Flandern und Wallonie haben nämlich völlig getrennte Parteiensysteme, die nach den Parlamentswahlen für die Regierungsbildung unter einen Hut gebracht werden müssen. Aktuell gehören sieben Parteien der Regierungskoalition unter dem flämischen Liberalen Alexander De Croo an, darunter drei Parteien aus dem französischsprachigen Landesteil. Europäische Zugehörigkeit: Renew (Open Vld, MR), S&D (sp.a, PS), EVP (CD&V), Grüne (Groen, Ecolo).

Der belgische Premierminister Alexander De Croo.

Dänemark 

Nach dem Rechtsruck bei der Parlamentswahl 2022 hat die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen eine für dänische Verhältnisse ungewöhnliche lagerübergreifende Regierung gebildet, der als Juniorpartner die rechtsliberale Venstre sowie die neue Zentrumspartei Moderaterne von Ex-Premier Lars Løkke Rasmussen angehören. Seltenheitswert für Dänemark hat auch, dass die Dreier-Koalition über eine eigene Mehrheit im Folketing verfügt. Im nordischen Land sind nämlich Minderheitsregierungen üblich. Europäische Zugehörigkeit: S&D (S), Renew (Venstre, Moderaterne).

Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (mitte) stellt die neuen Minister vor: den Minister für Sicherheit und Katastrophenschutz Torsten Schack Pedersen, den Minister für die Grünen Jeppe Bruus, die Europaministerin Marie Bjerre, die Ministerin für Digitalisierung Caroline Stage Olsen, den Steuerminister Rasmus Stoklund und die Ministerin für Soziales und Wohnungsbau Sophie Haestorp Andersen.

Deutschland

Seit der Bundestagswahl im Jahr 2021 amtiert in Berlin eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP unter dem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz. Der Streit der Koalitionsparteien in der Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik wird in Österreich als abschreckendes Beispiel angesehen. Dabei hat Deutschland durchaus Erfahrung mit Dreier-Koalitionen. Sie sind sogar die Regel, auch wenn sie nicht als solche wahrgenommen werden. Die konservative Union, die jahrzehntelang mit wechselnden Koalitionspartnern regierte, besteht nämlich aus zwei Parteien: CDU und CSU. Europäische Zugehörigkeit: S&D (SPD), Grüne (Grüne), Renew (FDP).

Christian Lindner, Annalena Baerböck, Olaf Scholz

Estland

Die liberale Reformpartei regiert seit der Parlamentswahl im Vorjahr mit der ebenfalls liberalen Partei Estland 200 und den Sozialdemokraten (SDE). Die Regierung hat im Parlament fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit, Ministerpräsident Kristen Michal bräuchte eigentlich nur einen Koalitionspartner. Europäische Zugehörigkeit: Renew (Reformpartei, Estland 200), S&D (SDE).

Kristen Michal, Ministerpräsident Estland

Finnland

Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo steht seit dem Vorjahr einem Regierungs-Quartett vor. Nach dem hauchdünnen Sieg seiner Konservativen (Kokoomus) bei der Parlamentswahl bildete er eine Koalition mit den knapp geschlagenen rechtspopulistischen Finnen, der Schwedischen Volkspartei (SFP) und den Christdemokraten. Europäische Zugehörigkeit: EVP (Kokoomus, Christdemokraten), EKR (Finnen), Renew (SFP).

Premierminister Petteri Orpo

Frankreich

Keine Mandatsmehrheit, dafür aber umso mehr Parteien hat die aktuelle französische Regierung. Der konservative Ministerpräsident Michel Barnier versucht die siegreiche Linksallianz sowie das rechtspopulistische Rassemblement National (RN) von der Macht fernzuhalten, indem er seine Republikaner (LR) mit den liberalen Parteien Renaissance (RE), MoDem, Horizons und UDI zusammengespannt hat. Europäische Zugehörigkeit: EVP (LR), Renew (RE, MoDem, Horizons, UDI)

Der französische Ministerpräsident Michel Barnier.

Irland

Ein Sensationserfolg der linksnationalistischen Sinn Féin bei der Parlamentswahl 2020 ließ zwei Erzrivalen zusammenrücken, die seit Jahrzehnten die irische Politik dominieren. Die bürgerlichen Parteien Fianna Fáil (FF) und Fine Gael (FG) verständigten sich erstmals auf eine gemeinsame Regierung, die auch noch die Grünen als Mehrheitsbeschaffer brauchte. Der Deal sah eine Rotation im Amt des Premierministers vor. FF stellte in der ersten Hälfte der Legislaturperiode den Premier, FG in der aktuellen zweiten Hälfte. FG-Chef Leo Varadkar übergab die Partei- und Regierungsstaffel im März an Simon Harris, der die Partei nun in die Parlamentswahl führen soll. Europäische Zugehörigkeit: EVP (FG), Renew (FF), Grüne (Grüne).

Simon Harris, Taoiseach von Irland

Italien

Im italienischen historischen Vergleich äußerst homogen ist die Zusammensetzung der derzeitigen Regierung in Rom. Nach ihrem klaren Wahlsieg im Vorjahr regiert Giorgia Meloni von der rechtspopulistischen Partei Fratelli d'Italia (FdI) gemeinsam mit der ebenfalls rechtspopulistischen Lega und der konservativen Forza Italia (FI). Einige kleinere bürgerliche Parteien stützen das Kabinett, werden aber nicht als Mehrheitsbeschaffer benötigt. Europäische Zugehörigkeit: EKR (FdI), PfE (Lega), EVP (FI).

Giorgia Meloni, italienische Ministerpäsidentin

Lettland

Für lettische Verhältnisse eher überschaubar ist die derzeitige Regierungszusammensetzung in Riga. Die konservative Neue Einheit (JV) von Ministerpräsidentin Evika Siliņa regiert seit gut einem Jahr mit der Union der Grünen und Bauern (ZZS) und den sozialdemokratischen Progressiven. Siliņas Vorgänger hatten in einem zersplitterten und polarisierten Parteiensystem - das früher sehr starke Lager pro-russischer Parteien wird von der Macht ferngehalten - Regierungen mit fünf oder sechs Einzelparteien anführen müssen. Europäische Zugehörigkeit: EVP (JV), Grüne (ZZS, Progressive).

Die lettische Ministerpräsidentin Evika Silina.

Litauen

Im größten baltischen Staat regiert derzeit eine Mitte-Rechts-Koalition aus der konservativen Vaterlandsunion von Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė und den beiden liberalen Parteien LRLS und LP. Europäische Zugehörigkeit: EVP (Vaterlandsunion), Renew (LRLS, LP).

Ingrida Simonyte, Ministerpräsidentin von Litauen

Niederlande

Vier Parteien gehören der nach den Parlamentswahlen im Vorjahr gebildeten niederländischen Regierung an. Sie wird von der rechtspopulistischen Freiheitspartei (PVV) des Wahlsiegers Geert Wilders dominiert, der aber wegen persönlichen Vorbehalten der drei Koalitionspartner VVD (Rechtsliberale), NSC (Christdemokraten) und BBB (Bauern-Bürger-Bewegung) kein Regierungsamt annahm. Ministerpräsident ist der parteilose frühere Anti-Terror-Koordinator Dick Schoof. Europäische Zugehörigkeit: PfE (PVV), Renew (VVD), EVP (NSC, BBB)

Der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof.

Polen

In einem demokratischen Kraftakt ist einem Bündnis unter Führung von Ex-Premier Donald Tusk bei der Parlamentswahl im Jahr 2023 die Abwahl der rechtskonservativen PiS gelungen. Tusk führt seitdem eine Koalitionsregierung, der insgesamt sechs Parteien verschiedener Lager von der Linken bis zur Bauernpartei angehören. Europäische Zugehörigkeit: EVP (Bürgerplattform PO, Polnische Volkspartei PSL, Polnische Initiative), Renew (Polen 2050, Modern), S&D (Lewica)

Donald Tusk, polnischer Ministerpräsident

Schweden

Die Regierung des skandinavischen Landes ist ein europäischer Sonderfall: Je nach Sichtweise besteht sie nämlich aus drei oder vier Parteien. Regierungsämter haben nur die Konservativen von Ministerpräsident Ulf Kristersson, die Christdemokraten und die Liberalen inne, doch sitzen faktisch auch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) am Kabinettstisch. Sie haben nämlich das Regierungsabkommen mitverhandelt und werden als Mehrheitsbeschaffer im Reichstag benötigt. Europäische Zugehörigkeit: EVP (Moderate, Christdemokraten), Renew (Liberale), EKR (SD)

Ulf Kristersson, Ministerpräsident von Schweden

Slowakei

Ministerpräsident Robert Fico regiert seit September 2023 mit seiner linkspopulistischen Smer (Richtung), der ideologisch ähnlich ausgerichteten Hlas (Stimme) seines früheren Weggefährten und amtierenden Staatspräsidenten Peter Pellegrini sowie der rechtspopulistischen Slowakischen Nationalpartei (SNS). Die Drei-Parteien-Koalition hat eine deutliche Mehrheit im slowakischen Nationalrat. Europäische Zugehörigkeit: Keine (Smer, Hlas, SNS).

Robert Fico, slowakischer Ministerpräsident

Slowenien

Im kleinsten mitteleuropäischen EU-Staat haben übergroße Koalitionsregierungen Tradition. So holte der liberale Sieger der Parlamentswahl 2022, Robert Golob, mit den Sozialdemokraten (SD) und der Linken zwei Koalitionspartner ins Boot, obwohl seine Freiheitsbewegung (GS) die absolute Mehrheit nur knapp verpasste. Europäische Zugehörigkeit: Renew (GS), S&D (SD), Linke (Levica).

Robert Golob, slowenischer Ministerpräsident.

Tschechien

Gleich fünf Parteien sitzen seit der Parlamentswahl 2021 in der tschechischen Regierung. Wahlsieger Petr Fiala von der rechtskonservativen ODS wird von den bürgerlichen Parteien KDU-ČSL, STAN und TOP 09 sowie der Piratenpartei gestützt. Letztere hat allerdings ihren Abgang angekündigt, nachdem Fiala ihren Parteichef als Minister gefeuert hat. Europäische Zugehörigkeit: EKR (ODS), EVP (KDU-ČSL, STAN, TOP 09), Grüne (Piraten)

Petr Fiala

Zypern

Die Regierung der Mittelmeerinsel besteht derzeit aus einer bunten Regenbogenkoalition, die Staatspräsident Nikos Christodoulides nach seinem Wahlsieg im Vorjahr geschmiedet hat. Christodoulides war als Unabhängiger gegen seine frühere Partei, die konservative DISY, angetreten. Seiner Minderheitsregierung gehören Politiker der sozialdemokratischen Parteien DIKO und EDEK, der liberalen DIPA sowie der rechtskonservativen Solidaritätsbewegung (DA) an. Europäische Zugehörigkeit: S&D (DIKO, EDEK), Renew (DIPA), EKR (DA).

 Nikos Christodoulides, Staatspräsident von Zypern