Melisa Erkurt und Susanne Wiesinger über die Schule: "Wir reden zu wenig Klartext mit den Eltern"
profil: Frau Erkurt, Sie widmen Ihr Buch den Bildungsverlierern mit dem Zusatz: "Das ist für uns." Sehen Sie sich wirklich in dieser Rolle?
Erkurt: Ich hätte eine klassische Verliererinnenbiografie: Flüchtlingskind, Arbeitereltern, Vater Patriarch. Bildung wird vererbt. Ich habe es durch Zufall geschafft. Dass man sich darauf verlässt, ist ein Skandal.
profil: Frau Wiesinger, Sie sehen Kinder ebenfalls verloren gehen, machen aber den politisierten Islam dafür verantwortlich.
Wiesinger: An den Schulen, wo ich war, identifizieren sich die Kinder und ihre Eltern mit Erdoğans Politik stärker als mit der österreichischen. Das kommt mir in Ihrem Buch zu kurz. Dass Lehrer mit Diversität nicht umgehen können, stimmt nicht. Ich habe in Favoriten seit Jahren kaum mehr ein autochthones Kind gesehen.
Erkurt: Sie leben mit der Diversität, aber Sie wurden dafür nicht ausgebildet-ich übrigens auch nicht. Ich habe nicht gelernt, wie man Hülyas oder Alis unterrichtet, und habe nach einem Jahr aufgehört, weil ich sie nicht alle erreichen kann. Und was passiert? Lehrer und Lehrerinnen lassen ihre Überforderung an den Schülern aus.
Wiesinger: Das klingt, als würden wir Kinder nonstop beschimpfen. Gerade in den Brennpunktschulen sind wir enge Vertraute. Aber eines stimmt: Wir sind Psychologen und Sozialarbeiter, ohne dafür ausgebildet zu sein. Schade, Frau Erkurt, dass Sie nicht geblieben sind. Vor allem die Jungen verlassen das sinkende Schiff. Da bin ich manchmal ein bisschen enttäuscht.
profil: Frau Erkurt, Sie haben vor Jahren über die "Generation Haram" geschrieben, Burschen, die sich im Namen des Islam als Sittenwächter aufspielen. Das ist doch nicht weit weg von dem, was Frau Wiesinger beobachtet: Machogehabe von Türken, Tschetschenen, Afghanen.
Erkurt: "Haram"-und "Schlampen"-Rufe sind mir an jeder Schule aufgefallen. Die muslimischen Burschen nehmen vor allem "ihre" Mädchen in die Mangel. Wenn sie einen V-Ausschnitt hat, haram! Shisha-Rauchen, haram! Meine erste Reaktion war auch: Diese Machos! Aber das war nur ein Kostüm, das sie tragen. Sie wissen, dass sie in Österreich nichts erreichen werden, also nehmen sie sich die einzige Macht, die sie haben. Es gibt natürlich streng konservative Familien. In der Schule werden diese Kinder für ihr Elternhaus bestraft.
Wiesinger: Seltsamerweise wird in Bobo-Schulen oftmals rassistischer agiert als in Brennpunktschulen. Bei uns gibt es keine Durchmischung. Wir tragen jeden Ali, jede Aishe durch, damit sie ins Gymnasium gehen können. Wir reden aber zu wenig Klartext mit den Eltern, auch aus falsch verstandener Toleranz. Viele Lehrer-ich früher auch-rechtfertigen das mit "deren Kultur".Das ist für mich Rassismus.
Erkurt: Ich habe viele Eltern erlebt, die willens wären, aber dann klappt es nicht, weil sie nicht Deutsch können, viel arbeiten, kein Geld für Nachhilfe haben. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber für mich sind die Eltern zu vergessen. Wir brauchen eine Schule, in der niemand auf sie angewiesen ist. Wenn ich zurückdenke: Für mich war es wichtig, dass meine Lehrer meinen Vater nicht kennenlernen. Sie hätten mich anders bewertet.
Wiesinger: Wir haben ein anderes Problem. In Brennpunktschulen werden Kinder oft so gut bewertet, wie sie gar nicht sind. Ich mache es selbst auch, aber es tut mir weh, weil die Kinder ja irgendwann draufkommen, dass andere viel mehr können als sie.
"Es wäre eine Lüge gewesen, hätte ich meinen Schülerinnen gesagt, dass sie alles erreichen können, wenn sie fleißig sind." (Melisa Erkurt)
profil: Dafür, dass Bildung in Österreich vererbt wird, gibt es empirische Befunde.
Wiesinger: Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als wenige Kinder mit Migrationshintergrund in Favoriten waren. Damals sind die "Hausmasta"-Kinder, wie man sie total abwertend genannt hat, nie ins Gymnasium gekommen. Es gibt auch die Nichtintegration der autochthonen Kinder aus bildungsfernen Schichten.
Erkurt: Die sozioökonomisch Schwächsten sind aber oft Kinder mit Migrationshintergrund. Ihr Buch, Frau Wiesinger, verkaufte sich mit der Botschaft: Die muslimischen Kinder und ihre Eltern sind schuld. Ich sehe es anders. Sie haben das Problem, nicht sie sind das Problem. Jetzt rächt sich das, indem sie Zuflucht bei Erdoğan suchen, der ihnen verspricht: Du gehörst zu uns.
profil: Religion spielt für muslimische Kinder eine große Rolle, schreiben Sie beide. Frau Wiesinger meint, dass sie sich deshalb auf anderen Gebieten weniger anstrengen.
Wiesinger: Nichts erhöht einen so sehr wie der Glaube. Das ist nicht nur im Islam der Fall. Wenn ich in diesem Leben nichts erreiche, komme ich wenigstens ins Paradies-und jemand anderer nicht.
Erkurt: Es wäre eine Lüge gewesen, hätte ich meinen Schülerinnen gesagt, dass sie alles erreichen können, wenn sie fleißig sind. Die Religion ist für viele wenigstens eine Sache, in der man gut sein kann. Auch das Haram-Getue ist ein Ersatz.
profil: Was spricht für ein Kopftuchverbot, was dagegen?
Wiesinger: Ich bin für ein Verbot aller religiösen Symbole. Auf alle Fälle sehe ich keinen Grund für ein Kopftuch in der Pflichtschule. Bis 14 ist man kein religiös mündiger Mensch.
Erkurt: Wer streng muslimische Eltern kennt, weiß, dass ein Verbot nichts nützt-im Gegenteil: Das Mädchen darf noch weniger rausgehen, muss vielleicht noch Buße tun und in die Koranschule gehen.
Wiesinger: Ein Sozialarbeiter hat mich darin bestärkt, dass man diese Eltern über Geld und Sozialarbeit sehr wohl erreicht. Er erklärt ihnen in der Muttersprache, dass sie 1000 Euro zahlen müssen. Das stimmt zwar nicht, aber es funktioniert. Es geht übrigens um den Hijab, nicht um das Kopftuch. Wenn sie den tragen, werden sie von Burschen aus der eigenen Community in Ruhe gelassen.
Erkurt: Wenn ich das Verbot durchspiele, spricht für mich alles dagegen: Wenn die Fatima in die Schule kommt, schaut der Alex, ob sie das Kopftuch runtergibt. Dann kommt sie raus, und der Ali schaut, ob sie es oben hat. Ihr Leben dreht sich noch mehr um dieses Stück Stoff. Was ich sehe: Von einer Generation zur nächsten scheitern Menschen mit Migrationshintergrund. Wer macht sich da etwas vor?
"Es wird auch "Schlampe" gesagt, es gibt tätliche Angriffe. Sie sind nicht Alltag, aber sie kommen vor." (Susanne Wiesinger)
profil: Was erlebt man als Lehrerin mit muslimischen Eltern?
Erkurt: Ich habe oft erlebt, dass sie nicht an ihre Kinder glauben. Ein Vater sagte in der Sprechstunde: "Geben Sie meinem Sohn einen Fünfer, dann sieht er, wie es ist, wenn man am Bau landet." Der Bub war auf einem Befriedigend. Viele wissen nicht, wie sie das Beste für ihre Kinder erreichen. Vereinzelt hatte ich auch autochthone Kinder. Ein Vater hatte etwas gegen mich, weil ich Migrationshintergrund habe und Deutsch unterrichte.
Wiesinger: Der Kontakt mit den Eltern war gut, wenn man mit ihnen reden konnte. Vielleicht hatte ich als ältere, erfahrene Lehrerin einen Vorteil. Ich beobachte etwa bei türkischen Vätern, dass sie sich anders benehmen, wenn die Kollegin mit dem Hijab dabei ist. Es wird auch "Schlampe" gesagt, es gibt tätliche Angriffe. Sie sind nicht Alltag, aber sie kommen vor. Das bilden wir uns nicht ein, Frau Erkurt!
Erkurt: Auch wenn sie fünf Mal darauf bestehen, dass tätliche Angriffe nicht Alltag sind, merken sich jetzt alle, wie arg muslimische Väter sind. Wenn ich meine Begegnung mit dem österreichischen Vater schildere, denkt keiner: Die Österreicher sind alle Rassisten. Haben Sie mit Schülerinnen über Diskriminierung gesprochen?
Wiesinger: In der Oberstufe schon. Es ist herausgekommen, wie stark die Gräben untereinander sind, nicht nur zwischen Türken und Kurden. Türkischstämmige Schüler haben auch mit polnischstämmigen wenig zu tun. Das hat sich wirklich verschlechtert. Ich habe vor 20 Jahren nicht einmal gewusst, wer Alevit ist, wer sunnitischer Muslim oder Schiite. Jetzt weiß ich es, weil die Kinder darauf pochen und in ihrer Community bleiben. Und das kommt alles von Österreich?
Erkurt: Die Schüler werden von Österreich diskriminiert und geben das weiter. Sie haben über den Kulturkampf im Klassenzimmer geschrieben. Danach wurde die Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte geschaffen. Ich habe ein Buch über Diskriminierung geschrieben. Macht man dafür jetzt eine Stelle? Sie wird nicht kommen. Es geht um Deutschprobleme und muslimische Schüler, nicht um Diskriminierung. Im Lehrerinnenseminar saß ich unter lauter jungen, weltoffenen Leuten mit vielen Fragezeichen: Darf man "Zigeuner" sagen? Darf ich über den Islam reden? Wir können uns nicht leisten, diese Überforderung an die Kinder weiterzugeben.
"Wenn man den Feminismus behandelt, merkt man, wie schnell man etwas bewirken kann." (Melisa Erkurt)
profil: In welchen Momenten denkt man als Lehrerin eigentlich noch, trotz allem eine sinnvolle Arbeit zu machen?
Erkurt: So wie Schülerinnen und Schüler negativ beeinflussbar sind durch islamistische oder konservative Strömungen, so offen sind sie für andere. Wenn man den Feminismus behandelt, merkt man, wie schnell man etwas bewirken kann. Nach einer Woche kommen sie und sagen: "Ich sehe die Dinge nun anders."
Wiesinger: Das kann ich bestätigen. Nichts ist so gut, wie in der Klasse zu sein, wenn man mich lässt und nicht wieder auf das Abstellgleis stellt.
profil: Frau Wiesinger, Sie sind als Lehrerin an die Öffentlichkeit gegangen, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Hat sich der Schritt denn nicht gelohnt?
Wiesinger: Persönlich und beruflich null. Er hat sich nur gelohnt, weil ich in den Spiegel schauen kann. In mir ist die Einsicht gereift, dass die Linken, die Rechten und die Religiösen das Schulsystem einzementiert haben. Und dazwischen werden wir zerrieben, Lehrer und Schüler.
profil: Bei dem traurigen Befund, dass viele Kinder nie genug Deutsch sprechen und schreiben werden, um ihrem vorgezeichneten Schicksal zu entrinnen, treffen Sie sich. Wo sehen Sie einen Ausweg?
Erkurt: Ich bin für ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, die Ganztagsschule und einen anderen Deutschunterricht. Selbst wenn Kinder gut sind, bleibt ewig dieses Parkdeutsch, gegen das ich nichts habe. Aber ich weiß, dass sie damit auf dem Arbeitsmarkt scheitern.
Wiesinger: Ich gehe noch weiter. Der Kindergarten müsste mit drei beginnen, aber wirklich verpflichtend sein. Es nützt nichts, wenn das Kind um halb zehn hingebracht und um halb zwölf wieder abgeholt wird, es keine Durchmischung gibt und sie dort erst recht wieder Türkisch sprechen. Und es braucht eine Ganztagsschule, die wirklich etwas bietet: Fußball, Musik, bildende Kunst, Theaterworkshops.
Erkurt: Das klingt so gut, als würde jedes Bobo-Elternteil sein Kind dorthin schicken.
"Es findet seit Monaten keine Sozialarbeit statt. Manche Kinder sind wie Geister in die Schule gekommen." (Susanne Wiesinger)
profil: Welche Spur wird die Pandemie im Bildungssystem ziehen?
Wiesinger: Eine furchtbare! Bildung wird durch diese Pandemie privatisiert. Es findet seit Monaten keine Sozialarbeit statt. Manche Kinder sind wie Geister in die Schule gekommen, manche haben Heulanfälle, versteckt hinter ihren Masken, viele haben wir nicht mehr erreicht, vor allem Mädchen. Eine Katastrophe!
Erkurt: Die Pandemie offenbart nun, dass die Schule auf Kinder ausgelegt ist, die von daheim Ressourcen mitbringen. Und wir kratzen weiter an der Oberfläche. Laptops sind gut und schön, aber meine Schüler und Schülerinnen wussten nicht einmal, wie sie eine Mail schreiben sollen oder im Word die Schriftgröße ändern können. Sie nützen WhatsApp und Instagram, das war es.
profil: Eines dieser Kinder ist nun Justizministerin. Was bringt ein Vorbild wie Alma Zadić?
Wiesinger: Eine Justizministerin ist super. Aber es braucht viel mehr positive Vorbilder.
Erkurt: Alma Zadić ist ein Ausnahmetalent. Sie hat mit 13 Jahren tausend Mal mehr geleistet als die durchschnittliche Anna. Sie hat es nicht wegen, sondern trotz der österreichischen Schule geschafft.
ZUR PERSON Melisa Erkurt ist Journalistin, ORF-Redakteurin und "Falter"-Kolumnistin. Für ihre Reportage "Generation haram" 2016 für das Magazin "Biber" sprach sie mit Hunderten Schülern von Neuen Mittelschulen (NMS) in Wien. Danach arbeitete sie ein Jahr lang selbst als Lehrerin an einer AHS in Wien-Fünfhaus. Ihre Erfahrungen flossen in das Buch "Generation haram" ein, das vor zwei Wochen im Zsolnay Verlag erschien und das Bildungssystem aus der Sicht der Verlierer analysiert.
ZUR PERSON Susanne Wiesinger war lange Zeit Lehrerin an Brennpunktschulen in Wien-Favoriten und Personalvertreterin. Mit ihrem 2018 erschienenen Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" entfachte sie eine Debatte über Integrationsversagen. Bildungsminister Heinz Faßmann holte sie als Ombudsfrau für "Wertefragen und Kulturkonflikte" ins Ministerium, wo ihr zweites Buch, "Machtkampf im Ministerium",entstand, eine Abrechnung mit politischer Einflussnahme auf die Schule.