Mann mit schwarzer Maske und Lederjacke
Razzien in Österreich

Menschenjäger: Wie eine Neonazi-Bande ihre Opfer in die Falle lockte

Neonazi-Banden locken vorrangig schwule Männer in Fallen, verprügeln und demütigen sie. profil hat die neue Hate-Crime-Welle recherchiert: Wer sind die Täter? Welche Motive haben sie? Und was ist über die Opfer bekannt?

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Angefangen hat alles am 24. Juli 2024. Ein 44-jähriger Mann macht sich in jener Nacht auf den Weg in den Schachenwald bei Unterpremstätten, südlich von Graz. Er hat eine Verabredung, trifft einen Mann, den er kurz zuvor online auf einer Dating-Plattform kennengelernt hat. Der Waldabschnitt nahe der Pyhrn-Autobahn A9 ist ein bekannter Treffpunkt der Cruising-Szene, ein Ort, an dem schwule Männer zusammenkommen, um Sex zu haben – diskret und anonym. Als er seinem Date gegenübersteht, raschelt es im Gebüsch. Sekunden später stürzen sich zwei Männer aus der Dunkelheit auf ihn. Sie sind schwarz gekleidet und maskiert. Ohne Vorwarnung schlagen sie zu. Fäuste, Tritte, der Angriff ist brutal, zielgerichtet. Der 44-Jährige stürzt zu Boden, versucht sich zu schützen, doch die Angreifer lassen nicht von ihm ab. Nachdem sie sein Mobiltelefon an sich genommen haben, verschwinden sie in der Nacht. Der Mann bleibt leicht verletzt zurück. Doch die Wunden, die ein Angriff wie dieser hinterlässt, gehen tiefer. 

Was für die Polizei zunächst wie ein einfacher Raubüberfall wirkt, entpuppt sich als etwas viel Größeres. Als der 44-Jährige Anzeige erstattet, setzt er eine Ermittlung in Gang – die größte, die es in Österreich jemals zu derartigen Hassverbrechen gegeben hat. Denn sein Fall ist kein Einzelfall. Es hat System. In Österreich, in Europa, der Welt.

Vergangene Woche wurde das Ausmaß der Operation „AG Venator“ erstmals öffentlich. Der Strafakt zur Causa hat mittlerweile einen Umfang von mehr als 3600 Seiten. Der Name der Arbeitsgruppe, „Venator“, steht im Lateinischen für „Jäger“. Unter der Leitung der steirischen Polizei führten 400 Polizistinnen und Polizisten vergangenen Freitag in den frühen Morgenstunden 26 Hausdurchsuchungen in fast allen Bundesländern durch – sechs in Oberösterreich, fünf in Niederösterreich, vier in Salzburg, zwei in der Steiermark, eine im Burgenland und jeweils drei in Tirol und Wien – sowie in der Slowakei. Eine Woche darauf fanden zwei weitere Hausdurchsuchungen statt. Bei den Razzien fanden sie Waffen und NS-Devotionalien. 20 Personen wurden mittlerweile festgenommen, 17 Männer, drei Frauen, alle zwischen 14 und 26 Jahren alt. Über 13 von ihnen wurde Untersuchungshaft verhängt, weitere Festnahmen sind nicht ausgeschlossen. Es gilt die Unschuldsvermutung. Die Beschuldigten stammen überwiegend aus Österreich, unter ihnen befinden sich aber auch ein Slowake – er wartet noch auf die Auslieferung –, ein Rumäne, ein Kroate und ein Deutscher. Gegen die Gruppe wird wegen Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, Raub, schwerem Raub und versuchtem Mord ermittelt – alles im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung. Die Polizei spricht von einer „hinterhältigen Form der Selbstjustiz“. Die schwersten Taten sollen sich in Salzburg ereignet haben, wo der Verdacht auf einen Mordversuch besteht. Im Pongau wurde ein Mann, der glaubte, eine jüngere Frau zu treffen, hinterrücks brutal niedergeschlagen. Ihm wurde Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, danach soll einer der Beschuldigten mit einem Baseballschläger auf ihn eingeschlagen haben, während ein anderer mit schweren Stiefeln gegen seinen Kopf getreten haben soll.

Der gemeinsame Nenner ist jedenfalls die mutwillige Gewaltausübung.
 

Markus Lamb

Sprecher der Landespolizeidirektion Steiermark

Die mutmaßlichen Täter dürften bei ihren Attacken immer gleich vorgegangen sein: Sie sollen vorrangig homosexuelle Männer über Fake-Profile auf Telegram, Instagram oder Grindr zu Verabredungen gelockt haben. Bei den Treffen wurden die Männer dann ausgeraubt, brutal geschlagen und dabei gefilmt. Vor laufender Kamera mussten sie Geständnisse ablegen – unter Zwang, für mutmaßliche Vergehen. Derzeit ist die Rede von 17 Betroffenen. Unter ihnen sind laut aktuellem Ermittlungsstand auch Heterosexuelle, das haben, entgegen ersten Angaben der Exekutive, weitere Untersuchungen ergeben. Die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher sein, da nicht alle Angriffe zur Anzeige gebracht wurden. Markus Lamb, Sprecher der Landespolizeidirektion Steiermark, sagt: „Der gemeinsame Nenner ist jedenfalls die mutwillige Gewaltausübung.“

Die Täter verstanden sich dabei als „Pedo-Hunter“, übersetzt so viel wie „Pädophilenjäger“. „Pedo-Hunting“ ist besonders innerhalb neonazistischer Hooligan-Gruppen schon länger ein Thema. In Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden sind in den letzten Jahren immer wieder Fälle öffentlich geworden, in denen unter dem Deckmantel des angeblichen Kinderschutzes schwere Gewaltverbrechen verübt wurden. In Russland und Belarus werden mit gleichlautenden Argumenten und ähnlichen Methoden gezielt Homosexuelle verfolgt. Die Polizei betont mit Nachdruck: Die 17 Betroffenen stehen in keinem Zusammenhang mit Pädokriminalität.

Die Operation „AG Venator“ muss auch im Blickwinkel dieses gesellschaftlichen Klimas betrachtet werden. Es geht vorrangig um homosexuelle Betroffene, die sich oft aus Angst vor öffentlicher Diskriminierung oder Scham nicht an die Behörden wenden wollen und Taten deshalb nicht anzeigen. Es geht um Täter, die queere Menschen als Bedrohung inszenieren. Es geht um schwerste Gewaltverbrechen, um Selbstjustiz, um Menschenjagden.

Am Grazer Straflandesgericht findet derzeit ein Prozess gegen drei Angeklagte statt, die nach demselben Muster auf Homosexuelle losgegangen sein sollen. Es gibt eine Verbindung zur aktuellen Causa: Die drei bewegten sich in denselben Gruppenchats wie die Beschuldigten. Ob sie auch gemeinsam Angriffe geplant haben, wird derzeit untersucht. In einem Video, das profil und der Tageszeitung „Der Standard“ vorliegt und das mit dem aktuellen Fall zusammenhängt, kniet ein Mann auf dem Boden und soll vor laufender Kamera bei einem „Hilfszentrum für Pädophile“ anrufen, um zu gestehen, dass er Sex mit einem 13-Jährigen haben wollte. Danach wird er von zwei maskierten Männern ins Gesicht geschlagen. profil sprach mit dem Betroffenen. Die Tat soll sich im Sommer letzten Jahres im Bezirk Murau abgespielt haben. Der Mann im Video war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt. Er erzählt, er habe sich über die Dating-App Grindr mit einem anderen Mann verabredet. In den Chatnachrichten soll dieser immer wieder andere Altersangaben gemacht haben. Zuerst gab er an, 18 Jahre alt zu sein, dann 17, und zum Schluss soll er sich als 13-Jähriger ausgegeben haben. „Im Lauf des Gesprächs hat er sich immer jünger gemacht, und ich wollte einfach sehen, wer er ist“, sagt er. Auch auf den Fotos, die ihm sein Chatpartner geschickt haben soll, wirkte der Mann seinen Angaben zufolge deutlich älter. Er beschließt, sich mit seinem Online-Date zu treffen, woraufhin er von zwei maskierten Männern (einer von ihnen soll der Mann aus dem Chat gewesen sein) geschlagen und dabei gefilmt wurde. Angezeigt habe er den Übergriff zunächst nicht, da er nicht geoutet sei, sagt der 22-Jährige. Inzwischen habe ihn jedoch die Polizei ausfindig gemacht und als Zeugen einvernommen.

Die neonazistischen Netzwerke

In einem weiteren Video, das profil und „Standard“ vorliegt, ist ein anderer Mann zu sehen, der ebenfalls am Boden kniet und sein Handy in den Händen hält. Im Hintergrund geben ihm mehrere Männer mit verzerrter Stimme Anweisungen auf Englisch. Er soll seine Mutter anrufen und ihr gestehen, dass er sich mit einer 13-Jährigen für Sex treffen wollte: „Ich bin in einem Park, mich haben zwei Typen angehalten, und sie wollen, dass ich dich anrufe und sage, was ich gemacht habe.“ Danach wird ihm vor laufender Kamera der Kopf rasiert. Zwei vermummte Männer verprügeln ihn, treten auf ihn ein. Später richten sie ihn wieder auf, zwingen ihn, mit ihnen zu tanzen. Dann greift einer der Täter zu einem blauen Marker und schreibt drei Buchstaben auf seine Stirn: „PHA“. Das Initialwort steht für „Pedo Hunters Austria“. Die Videos wurden öffentlich verbreitet, landen in Telegram-Kanälen und auf Instagram-Profilen. Die Szenen zeigen brutale Methoden der Selbstjustiz, bei denen die Täter ihr eigenes gewalttätiges Verständnis von Strafverfolgung umsetzen. Doch wer steckt dahinter?

Wir beobachten seit Jahren einen verstärkten Fokus rechtsextremer Feindbildpflege auf queere Personen.

Bernhard Weidinger

Rechtsextremismusforscher am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW)

profil und „Standard“ haben zumindest vier der Festgenommenen ausgeforscht. Die Recherche zeigt: Es handelt sich um ein organisiertes Netzwerk, das tief in die rechtsextreme Neonazi-Szene reicht. Einer der mutmaßlichen Täter, Noah, sitzt derzeit in U-Haft in der Justizanstalt Wien-Josefstadt. Er soll über die rechtsextreme Organisation „Defend Austria“ zu den Neonazi-Gruppen „Tanzbrigade Wien“ und „Division Wien“ gefunden haben. „Defend Austria“ machte zuletzt im November Schlagzeilen: Die Gruppe plante am Jahrestag der Reichspogromnacht eine Demonstration, da der Regierungsauftrag nicht an die FPÖ erteilt wurde. Der Aufmarsch fand schließlich nicht statt, danach wurde es still um die Gruppe. Heute existieren von ihr nur noch inaktive Telegram-Kanäle. Aus rechten Kreisen heißt es: „Defend Austria gibt es so nicht mehr.“ Stattdessen rücken andere Gruppierungen in den Vordergrund – darunter eben die „Tanzbrigade Wien“ und „Division Wien“, wo auch Noah aktiv gewesen sein soll. Erstere ist ein Zusammenschluss rechtsextremer Hooligans, ihre Anhänger bewegen sich im Umfeld der Wiener Fußballclubs Rapid Wien und Austria Wien, spielen in deren Fanszenen aber keine bedeutende Rolle. Der Name „Tanzbrigade“ dürfte sich von einem weiteren gemeinsamen Hobby ableiten: Man hört und produziert mit Vorliebe Technomusik. Abseits davon attackiert man Menschen, die einem nicht ins Weltbild passen: Es soll eine Verbindung zwischen der „Tanzbrigade Wien“ und Angriffen auf einen chassidischen Juden in der Leopoldstadt, einen vermeintlich linken Studenten in der Josefstadt und einen Journalisten in einer Wiener U-Bahn-Station geben. Die „Division Wien“ versteht sich selbst als eine „aktive rechte Jugendgruppe, die sich 2024 gegründet hat“. Beide Gruppen verbreiten regelmäßig Bilder in einschlägigen Telegram-Kanälen. Darauf zu sehen sind vermummte Männer, die vor einer am Boden liegenden Regenbogenfahne posieren oder Graffitis mit dem Schriftzug „Division Wien voran“ – zuletzt gesprüht am Hannah-Arendt-Platz in Wien-Donaustadt. Arendt war eine jüdische Schriftstellerin und Journalistin.

Daniela Breščaković

Daniela Breščaković

ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.

Eva Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Kultur, Gesellschaft und Gegenwart.