Das Leben nach dem Messerstich
Von Natalia Anders und Clara Peterlik
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Vor uns steht eine riesige Cremetorte: drei Schichten Biskuit, gefüllt mit Schlagobers und Waldbeeren, garniert mit Schokoplättchen und Nussraspeln. Daneben stehen zwei Tassen schwarzer Tee und viele Kekse. Am anderen Ende des Tisches sitzen drei Männer. Ahmad*, ein Freund der Familie, in der Mitte Edil, der Bruder des mutmaßlichen Täters, und rechts Issa, sein Vater. Das Gespräch in dieser aufgeräumten Dreizimmerwohnung in Wien-Floridsdorf dreht sich heute um einen verhängnisvollen Abend Anfang März für Issas Sohn, Adam.
An jenem Nachmittag des 1. März 2024 gerieten zwei junge Syrer und Adam am Reumannplatz aneinander. Stunden später kehrte er voller Wut zurück und stach den beiden mit einem Messer in die Brust. Sie werden schwer verletzt ins Spital eingeliefert, überleben knapp. Issa, sein Vater war bei dem Vorfall dabei und hielt mit gezücktem Messer andere ab, einzugreifen. Dafür saß er bis vor Kurzem im Gefängnis. Hier, in dem mit grau-weißer Tapete dekorierten Wohnzimmer, wollen sie erzählen, wie alles gekommen ist.
Adam. Der Sohn, der nie ankam.
Adam sitzt nicht am Tisch. Das erste Mal sahen wir ihn am 4. Oktober vor Gericht. Hinter seinem Vater wurde er mit Handschellen in den Saal geführt. Er nahm auf der Anklagebank Platz, während die Polizisten ihm die Handschellen abnahmen. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet; wer genau hinsah, konnte die Tränen erkennen. Es war sein erster Prozesstermin.
Adam wurde 2002 in Inguschetien geboren, einer autonomen Teilrepublik Russlands, westlich von Tschetschenien. Der Vater floh und holte seine Kinder 2016 nach Österreich. In Wien besuchte Adam die Berufsschule und schloss eine Lehre als Tischler ab. „Er hat es jedoch nicht geschafft, eine fixe Stelle zu finden, und hat während der Jobsuche ab und zu als Security gejobbt“, erfahren wir von Edil, seinem jüngeren Bruder. Neben der Arbeit verbrachte er viel Zeit in seinem Zimmer und spielte am Computer. Vor allem Counter Strike, wie sein Vater erzählt: „Wir mussten ihn manchmal dazu zwingen, nach draußen zu gehen – der einzige Grund, warum er das Haus verließ, war, um Energydrinks zu kaufen.“ Mit seinen Freunden traf sich Adam nur selten, er kommunizierte viel mit ihnen über soziale Medien. In eine Schlägerei war er nie involviert, beteuert seine Familie.
Er wollte ihn begleiten, damit er keine Scheiße baut.
Doch dann kam der 1. März 2024.
Die Vorwürfe sind heftig. Adam soll laut Anklageschrift versucht haben, zwei Menschen zu ermorden. Aber wie kam es dazu? Die Familie erzählt, dass Adam Albina, der Ex-Partnerin seines Vaters, eine Tasche bringen wollte, die er auf der Verkaufsplattform Willhaben erworben hatte. Auf dem Weg dorthin geht er über den Reumannplatz und wird von zwei jungen Männern angesprochen. „Sie wollten mir etwas verkaufen“, erklärte Adam im Gerichtsprozess. Mit „etwas“ meint er vermutlich Drogen. Adam habe das Angebot abgelehnt, doch es kommt zu einem Handgemenge zwischen ihm und den beiden Männern. Ihre Schilderungen des Vorfalls fallen etwas anders aus, aber dazu später. Der Streit eskaliert, die beiden Männer sprühen Adam Pfefferspray ins Gesicht. Aufgelöst geht der 22-Jährige zu seinem Vater, der in der Nähe wohnt. Rote Augen, wutentbrannt. Sein Vater schlägt vor, mit ihm zu seiner Stiefmutter zu fahren, vielleicht würde er sich beruhigen. Das funktioniert offenbar nicht. Daher kehren sie zum Reumannplatz zurück, um „den Streit zu schlichten“, sagt der Vater heute reumütig. „Er wollte ihn begleiten, damit er keine Scheiße baut“, erklärt sein Sohn Edil.
Als sie dort ankommen, ist vom Schlichten keine Rede mehr. Was als „Friedensgespräch“ beginnt, eskaliert in eine Messerstecherei. Adam hat ein elf Zentimeter langes Klappmesser bei sich und sticht auf zwei der jungen Männer ein: je ein Stich in die Brust, der beide in Lebensgefahr bringt. Warum trägt ein 22-Jähriger ein Klappmesser bei sich? „Zur Selbstverteidigung“, sagt er vor Gericht. „Außerdem war es zum Zeitpunkt der Tat nicht illegal am Reumannplatz“, betonen seine Angehörigen.
Während Adam auf die beiden einsticht, versucht sein Vater, Passanten von der Auseinandersetzung fernzuhalten. Auch er zieht sein Messer – kein Klappmesser, sondern ein großes Taschenmesser, das er als Sicherheitsmitarbeiter stets bei sich führt. Wenige Minuten später trifft die Polizei ein und verhaftet Vater und Sohn. Beide kommen in Untersuchungshaft. Während Issa Anfang Oktober vorübergehend freigelassen wird, bleibt Adam hinter Gittern. Wie lange? Sollte der 22-Jährige wegen versuchten Mordes verurteilt werden, könnte er auch lebenslang in Haft sitzen. Bei schwerer Körperverletzung liegt das Strafmaß zwischen sechs Monaten und zehn Jahren.
Issa. Der Vater, der neben seinem Sohn stand, als er zustach.
Die Cremetorte wird angeschnitten, Issa setzt seine Brille auf und nimmt am Kopfende des Tisches Platz. Ein frisches weißes Hemd, eine schwarze Anzughose, faltenfrei. Vor drei Wochen wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Wir schickten ihm einen Brief, und er willigte ein, uns zu treffen, um über diesen Abend zu sprechen – aber nicht bei ihm zu Hause im 10. Bezirk, sondern bei seiner Ex-Partnerin Albina, bei der er jetzt wohnt. „Die schwierige Zeit hat sie wieder zusammengeschweißt“, erklärt sein Sohn Edil.
Ich habe die Tat nicht gesehen. Als die Polizei meinen Sohn festnahm, begriff ich erst, dass er etwas Schreckliches getan hatte.
Die Zeit im Gefängnis habe bei Issa Erinnerungen an seine Haft in Russland hochkommen lassen. Er hatte bei einer Spezialeinheit der Polizei gearbeitet, habe sich kritisch gegen das Regime geäußert und sei deshalb verhaftet worden, erzählt er und zeigt damalige Zeitungsberichte auf seinem Handy. Während er im russischen Gefängnis saß, wurde seine Frau vermutlich von russischen Regimeanhängern entführt und ist bis heute nicht aufgetaucht. Die drei kleinen Kinder blieben in der Obhut der Tante, er flüchtete über Umwege nach Österreich. Einige Jahre später holte er seine drei Kinder nach. Mit einer neuen Partnerin bekam er fünf weitere Kinder. Heute am Vormittag spielt der dreijährige Sohn im Hintergrund, eine Tochter wird bald aus der Schule nach Hause kommen. Bis zu seiner Haft arbeitete Issa als Security bei einer bekannten Sicherheitsfirma.
Aber zurück zu diesem Märzabend. Wie konnte es so eskalieren? Warum hielt er seinen Sohn nicht davon ab, sein eigenes Leben und das Leben anderer zu ruinieren? Sieben Monate später meint Issa: „Es waren so viele Leute da; ich habe das Messer nur gehalten, um die anderen zurückzudrängen.“ Aber: „Ich habe die Tat nicht gesehen. Als die Polizei meinen Sohn festnahm, begriff ich erst, dass er etwas Schreckliches getan hatte. Und wie ist das Vater-Sohn-Verhältnis heute? „Er ist noch immer sein Sohn“, sagt Edil bestimmt. Die Tat habe den Familienvater sehr belastet, er bereut, was passiert ist, und betete im Gefängnis für die beiden Opfer, bis klar war, dass sie überlebt haben.
Mohamad. Das Opfer und warum die Tat vermutlich nichts mit dem Bandenkrieg zu tun hat.
Vor dem Saal wartet Mohamad, das syrische Opfer. In seiner Hand hält er die Vorladung und ist unsicher, was ihn erwartet. Er ist schmal, um die 20 Jahre alt, und hat dunkle, lockige Haare, die an den Seiten kurz geschnitten sind. Er flüchtete nach Österreich und lebt seit zwei Jahren allein hier, macht seinen Schulabschluss nach und gehört zu den Jugendlichen, die viel Zeit an öffentlichen Plätzen verbringen, um etwas zu trinken und Gras zu rauchen. Nicht zu verkaufen, wie er betont. Heute wirkt er vor allem schüchtern und spricht höflich.
„Es ist die gleiche Jacke wie damals“, sagt er auf Arabisch, während er vor dem Gerichtssaal wartet, und schiebt sein weißes T-Shirt hoch. Die Wunde kommt zum Vorschein, ein paar Zentimeter neben der Brustwarze – eine Narbe, so groß wie eine Walnuss. „Einen Zentimeter daneben, und ich wäre nicht mehr da.“ Seine Version der Geschichte vom 1. März lautet ein bisschen anders. Adam habe ihn im Vorbeigehen beschimpft. Daraufhin hätten er und sein Freund nachgefragt, was los sei, und es sei zu einer Schlägerei gekommen. Sie sprühten Adam Pfefferspray ins Gesicht, einige Stunden später, sie waren noch immer am Reumannplatz, kam er zurück. Gefolgt von einer Gruppe Tschetschenen. Ein erster Stich, Mohamad geht zu Boden, sein Freund läuft dem flüchtenden Adam hinterher, ein zweiter Stich. Mohamad erzählt, dass er und seine Freunde unbewaffnet gewesen seien – Issa behauptet das Gegenteil. In Medienberichten hieß es, es war der Beginn des Bandenkonflikts zwischen Syrern und Tschetschenen. Mohamad verneint, Adams Anwalt deutete es in Interviews an, erhärtet habe es sich aber nicht.
Es ist doch normal, das ist meine Familie.
Edil. Der Bruder, der sich um alles kümmert.
Er war am Abend des 1. März nicht dabei, trotzdem ist auf den ersten Blick klar: Edil, 20, ist derjenige, der in der Familie alles regelt. In der Gemeindebauwohnung übersetzt er zwischen Deutsch und Russisch, wirft manchmal seine eigene Meinung dazu ein oder schärft Aussagen nach. Er besucht mit der Sozialarbeiterin seinen Bruder regelmäßig in der Haft, schickt uns Nachweise und Dokumente – etwa die Vermisstenmeldung der Mutter oder das Freispruchsdokument des Vaters und vereinbart mit uns den Interviewtermin. Und das alles in einer Selbstverständlichkeit, die wahrscheinlich nicht viele 20-Jährige hätten: „Es ist doch normal, das ist meine Familie“, sagt er uns.
Edil ist gemeinsam mit Adam 2016 aus Inguschetien nach Wien gekommen. Er hat das Gymnasium besucht, aber abgebrochen, weil er „Geld verdienen wollte“. Derzeit holt er seine Matura nach, danach möchte er studieren.
Während des Gesprächs mit Issa, Edil und dem Familienfreund kommt eines der fünf Halbgeschwister aus der Schule nach Hause. Edil öffnet die Türe, nimmt dem Mädchen die Schultasche ab, bringt es in die Küche. Er ist der Familienmanager. Der 20-Jährige erzählt uns, dass er selbst Ex-Moslem ist. Und dass sein gläubiger Vater seine Entscheidung respektiert hätte. „Falls ihm jemand vorwerfen sollte, er sei radikaler Moslem.“ Edil ist es wichtig, dass wir über den Fall seiner Familie berichten. „Vor allem deshalb, weil in den Medien immer wieder über uns Tschetschenen sehr voreingenommen berichtet wird.“
Nach über zehn Stunden endete der erste Prozesstag. Acht von acht Geschworenen stimmten dafür, dass Adam nicht die Absicht hatte, die beiden zu töten, sondern sie schwer zu verletzen. Die Richterinnen und Richter erkannten das Urteil nicht an, sie setzten den Wahrspruch der Geschworenen aus. Das passiert in seltenen Fällen, wenn Richter von schwerwiegenden Fehlurteilen der Geschworenen ausgehen. Bis tatsächlich ein Urteil fällt, wird es also noch dauern. Anwalt Florian Krainer geht von zwei bis drei Monaten aus.
Die Torte ist aufgegessen. Wie genau das Urteil ausfällt, wird auch für Adams Aufenthaltsstatus entscheidend sein, denn er ist russischer Staatsbürger. Darüber möchte die Familie noch nicht nachdenken. Der Freund der Familie und der Vater diskutieren auf Russisch, das Wort „Deportation“ fällt. Edil diplomatisch: „Wir haben von anderen gehört, die sich nach der Haft wieder in die Gesellschaft integrieren konnten.“
*Die Namen der Protagonisten dieser Reportage wurden auf deren Wunsch von der Redaktion geändert.
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.