Migration: Wie 9/11 die Idee von Multikulti zerstörte
"Wie bitte?"
Bernhard Perchinig arbeitete am Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in der Wiener Berggasse. Seine Wohnung lag fünf Minuten davon entfernt. Am 11. September 2001 montierten Handwerker seine neue Küche. Sie waren es, die ihm von dem Flieger berichteten, der in das World Trade Center gekracht war. "In Wien?" "Nein, in New York!" Perchinig lief ins Büro zurück, setzte sich neben seine Kollegen, die auf den Fernseher starrten, und gemeinsam sagten sie einen Satz, der in diesen Minuten vermutlich rund um den Erdball in zahllosen Sprachen fiel: "Das wird die Welt verändern."
Die massiven Folgen für sein eigenes Forschungsfeld - Einwanderung und Integration - wurden Perchinig erst später klar. In seinem Regal stand ein Buch des US-Soziologen Nathan Glazer, das wenige Jahre zuvor erschienen war. Der Titel "We are all Multiculturalists now!" schien einen fröhlich-resignierten Aufbruch zu besiegeln. Alle Versuche, Rassismus zu beenden und Gleichheit herzustellen, hatten sich als mäßig erfolgreich erwiesen. Nun fügte sich der enttäuschte Neokonservative Glazer in das Nebeneinander der Kulturen. Mit den Twin Towers implodierte dieses Versprechen. Natürlich war Multikulti nicht auf einen Schlag tot. Die romantische Auslegung aber, Vielfalt würde Gesellschaften wie von Zauberhand bunter und reicher machen, verdampfte wie Wasser in der glühenden Hitze. Perchinig, der seit mehr als 30 Jahren auf dem Gebiet der Migration forscht, lehrt und publiziert, registrierte das Verschwinden eines "einst machtvollen Narrativs" mit professionellem Erstaunen.
Der Multikulturalismus billigte Minderheiten zu, Eigenheiten und Netzwerke zu pflegen. Es ist für den Migrationsforscher kein Zufall, dass das multikulturelle Narrativ von den Niederlanden und Großbritannien aus in die akademischen und intellektuellen Zirkel einsickerte. Beide Länder waren Kolonialmächte und gewährten Einwanderern aus einstigen Herrschaftsgebieten ähnliche Rechte wie den eigenen Staatsbürgern. Der Kulturbegriff blieb indes oft vage, Religion ebenso ausgeblendet wie die Schattenseiten, darunter die Beobachtung, dass eine starke ethnische Verwurzelung Benachteiligungen eher verfestigt als beseitigt. Ein politisches Bekenntnis war der Multikulturalismus zwar nur in den Niederlanden sowie-mit Abstrichen-in Großbritannien und Schweden, doch regierten quer durch Europa Sozialdemokraten, die - gemeinsam mit Grünen und Liberalen - damit zumindest liebäugelten. Gleichzeitig formierten sich Anti-Migrationsbewegungen, allen voran in Österreich, wo der rechtspopulistische Kurs der FPÖ unter Jörg Haider bald zum Exportschlager wurde. Beide Strömungen bestanden nebeneinander.
Es gab schnöde, funktionale Gründe, Einwanderung durch ein freundlicheres Prisma zu betrachten. Man suchte nach Auswegen aus schwarzgemalten Szenarien, die durch rückläufige Geburten, fehlende Innovation und unfinanzierbare Pensionssysteme geprägt waren. Und dann war da noch 1989, der Fall der Berliner Mauer, das Zerbröseln der Sowjetunion, der Anfang vom Ende einer Epoche des blutig wütenden Nationalismus und die Sehnsucht nach einer Erzählung, mit der man die Vorstellung von kultureller Homogenität begraben konnte. 1989 habe die Migrationsdebatte in ein Davor und ein Danach zerschnitten und Deutschland seine erste Asylkrise beschert, sagt Dilek Çinar, Dozentin an der Bogaziçi Universität in Istanbul. Im Osten brannten Flüchtlingsheime. "Kommen die Nazis zurück?", fragten US-Medien. Der um das internationale Ansehen besorgte Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterrand, der politischen Druck von Rechtsaußen zu spüren begann, hielten dagegen. Auf dem EU-Gipfel 1999 im finnischen Tampere verschrieb man sich einem gemeinsamen Vorgehen bei Einwanderung und Asyl, erwog sogar, Drittstaatsangehörige nach fünf Jahren Aufenthalt mit EU-Bürgern rechtlich gleichzustellen, und verständigte sich darauf, Migration positiv aufzuladen, um den Standort zu stärken.
Ein Europäisches Asylwesen kam nie zustande
Nach den Anschlägen liefen diese Anstrengungen ins Leere. Ein europäisches Asylwesen kam nie zustande. An einem Strang zogen die EU-Mitgliedstaaten nur beim Schutz der Außengrenzen. Die Abwehr von irregulärer Migration trat als causa prima hervor. Frontex, die "Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache", wurde finanziell und technologisch auf Vordermann gebracht. Holland, das 1992 Doppelstaatsbürgerschaften erlaubt hatte, schaffte sie sechs Jahre später ab und "verabschiedete sich damit vom Bekenntnis zum Multikulturalismus", so Politikwissenschafterin Çinar. Bald preschte das einstige Multikulti-Vorzeigeland mit Integrationstests vor und empfahl sich als Role Model für eine rigide Einwanderungspolitik. Quer durch Europa wurden Regierungen konservativ. Die Gefolgschaft der Anti-Migrationsparteien wuchs mit jedem Terroranschlag - Madrid 2004, London 2005 - und erst recht nach der Flüchtlingswelle vor sechs Jahren.
In Österreich hatte man lange nicht über Einwanderung geredet, dann aber stoben die Funken. Die Gastarbeiter, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ins Land kamen, waren sozialpartnerschaftlich und mit Quotenregelungen "abgehandelt" worden. Die Integration der Türken und Ex-Jugoslawen kümmerte auf politischer Ebene niemanden. Das änderte sich, als die FPÖ in den 1990er-Jahren von einem überalterten Honoratiorenclub zu einer Massenpartei wurde und die Grünen zur politischen Kraft aufschwangen. Die Folgen wirken bis heute nach, so Politikwissenschafter Perchinig: "Migration wurde an den Rändern des Parlaments politisiert und damit auch polarisiert." Bald setzten sich die intellektuellen und die politischen Debatten voneinander ab. Noch unter Kanzler Alfred Gusenbauer (2006 bis 2007) übte sich die SPÖ in Migrationsfragen in demonstrativem Schweigen. Auch die ÖVP fand erst mit Sebastian Kurz - 2011 bis 2013 als Staatssekretär für Integration, bis 2017 als Außenminister, nun als Kanzler - zu einer kantigen Positionierung. Die Sozialdemokratie sucht ihre immer noch.
Nur das rot regierte Wien scherte aus. Als in den 1990er-Jahren Kanada das Loblied auf die integrative Kraft der Ballungsräume trommelte und Metropolis-Konferenzen auszurichten begann, hörte man hier die Signale. Bis zur Ostöffnung hatte man das Gegenteil von Einwanderung gefürchtet, ein schrumpfendes, alterndes Wien, das im Wettstreit der Metropolen auf das Abstellgleis geraten könnte. Nun sprang man auf den Diversitätszug auf und polierte das Bild einer Stadt, in der es sich auch ohne rot-weiß-roten Pass leben lässt. Auch Vorarlberg koppelte sich ab und schaute über die Grenzen in die Schweiz. Im Herbst 2001 übernahm hier Eva Grabherr die Leitung von "okay.zusammeneben", einer Einrichtung, in der sich die Integrationsbestrebungen des Landes bündelten. Die Anschläge fuhren "wie ein Blitz" in sämtliche Integrationsdebatten. Aufgeheizt waren sie schon vor den von CNN in Dauerschleife übertragenen Horrorbildern vom Ground Zero in New York. Rückblickend betrachtet war man in jener Phase des "Erwachsenwerdens" angelangt, die Aladin El-Mafaalani in seinem Buch "Das Integrationsparadox" (2018) beschrieb. Dazu gehörte die Einsicht, dass die Gastarbeiter nicht mehr weggehen, und jede Menge Zündstoff, wie Grabherr aus nächster Nähe berichten kann: "Wenn Außenseiter sich etablieren, gibt es Knatsch." Immer.
Muslime pauschal unter Verdacht
So weit, so nicht normal hingegen war, dass Muslime pauschal unter Verdacht gerieten. Bald überlagerten sich Motivlagen: Das Begehren, mitzubestimmen, habe Schockwellen ausgelöst, so Grabherr. Stigmatisierung wurde Teil des Kampfarsenals dagegen. Schätzungsweise 50 Millionen leben in Europa, und obwohl diese Population in sich widersprüchlich ist, fehlen in öffentlichen Auseinandersetzungen zumeist sämtliche Zwischentöne. Ressentiments kamen, um zu bleiben. Laut Europäischer Wertestudie wollten 1990 rund 15 Prozent keine Muslime als Nachbarn, 2008 hatte sich die Ablehnung verdoppelt. Mittlerweile scheint der Wert bei über 20 Prozent wie festgezurrt. Der Einwanderung positive Seiten abzuringen, gelingt nur mehr, wenn es um den "War for Talent", fehlende Lehrlinge oder händeringend gesuchte Kräfte in der Landwirtschaft und in der 24-Stunden-Betreuung geht.
Dass Wanderungen stets - auch - als Sicherheitsrisiko gesehen wurden, gilt als historische Konstante. "Mittlerweile ist aus dieser Perspektive von mehreren aber fast die einzige geworden", sagt Politikwissenschafterin Çinar. In dem soeben im Verlag C. H. Beck erschienenen Buch "Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert" zeichnet Steffen Mau diese Verengung nach. Zu früh war der Schlagbalken als Relikt überwundener Grenzen abgefeiert worden. Mobilität wurde zum Privileg, sicher und barrierefrei bloß für die Inhaber "guter" Reisepässe. Armutsmigranten und Flüchtlinge hingegen scheitern an hochgerüsteten "Smart Borders", die sich bis in das Landesinnere erstrecken. Auf amerikanischen Flughäfen sollen Hochgeschwindigkeitskameras die Mikrobewegungen von Gesichtsmuskeln auswerten und verdächtig nervöse Personen aus der wartenden Menge herausfiltern.
Als "Ungleichheitsgenerator, wie es vermutlich keinen zweiten gibt", bezeichnet Buchautor Mau diese mit Milliardeninvestitionen errichteten Kontroll- und Überwachungssysteme. Wie sehr sie die erwünschten Nebenwirkungen von Wanderungen verhindern, liest Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien, aus Berechnungen der Weltbank ab. Im Vorjahr sanken die Summen, die Auswanderer in ihre Herkunftsländer überweisen, um sieben bis acht Prozent (2020: rund 508 Milliarden Dollar). Während Remittances pandemiebedingt ausblieben, weitete sich die globale Schere zwischen Arm und Reich. Schlimm genug. Doch Geld ist nicht alles, sagt Kohlenberger: "Es werden auch neu erworbene Einstellungen, demokratische Werte und Ideen zurückgeschickt, und auch dieser Fluss gerät ins Stocken."
Narrativ und Realität klaffen immer weiter auseinander. Auch das ist ein Befund der vergangenen 20 Jahre. In Wien haben vier von zehn Bewohnern migrantische Wurzeln. Brennpunkte und Konfliktzonen gibt es genug. Die Terrorgefahr rückte mit dem Anschlag vom 2. November 2020 hautnah. Doch brach bisher weder Chaos aus, noch brannten Flüchtlingsunterkünfte. Im praktischen Alltag funktioniert nichts perfekt, vieles jedoch erstaunlich gut. Das mag ein Zeichen für einen erwachseneren Umgang miteinander sein, reichte bisher aber nicht für eine neue, große Erzählung. 2010 nützte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Rede vor der Jungen Union für einen Abgesang auf "Multikulti": "Der Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert." Es folgte - betretenes Schweigen.
EDITH MEINHART Die Autorin schreibt zwar schon lange über Einwanderung, war aber selbst erstaunt, wie sehr sich Debatten und Politik seit 2001 auf eine einzige Perspektive verengt haben. "It's the economy, stupid!" Mit diesem Slogan zog Bill Clinton vor rund 30 Jahren als US-Präsident in das Weiße Haus ein. Im Zeichen von Migration, Flucht und Terrorangst müsste es heute wohl heißen: "It's the security, stupid!"