Minister Rauch: „Ich werde nicht nur am Balkon sitzen“
Von Eva Linsinger und Moritz Ablinger
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„Kanzlermenü“ wurde zum Wort des Jahres gewählt. Wie oft essen denn Sie in einem Junkfood-Lokal?
Johannes Rauch
Ungefähr drei Mal im Jahr. Meistens dann, wenn wir mit dem Auto unterwegs sind und irgendwo Strom laden. Sonst nicht.
Weil es ungesund ist?
Rauch
Ich bin leidenschaftlicher Koch und lege viel Wert auf regionale Produkte und ordentliche Zutaten. Fast Food ist nicht so meins.
Ihr prägender Satz 2023 war: „Ohne Reform fährt unser Gesundheitssystem an die Wand.“ Sie wurden für die Reform viel kritisiert, vor allem für das Board, mit dem festgelegt wird, wer welche Medikamente erhält. Ist es zynisch, Menschenleben einen Preis zu verpassen?
Rauch
In aller Klarheit: Das Bewertungsboard tut das nicht. Zynisch sind höchstens jene, die das behaupten. Kommunikativ war das Board vielleicht missverständlich aufgesetzt. Denn es bringt eine klare Verbesserung in der Versorgung. Derzeit verhandelt jedes Spital den Medikamenteneinkauf selbst. Das ist maximal intransparent, weil die Verträge zwischen Spitälern und den Pharmaunternehmen geheim gehalten werden. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wer wo welches Medikament bekommt. Das Board schafft Klarheit und zeigt das beste am Markt verfügbare Medikament an. Es gibt Empfehlungen für den Einsatz ab, die Letztentscheidung liegt aber weiter beim Arzt. Die Kritik daran kommt hauptsächlich von der Pharmaseite. Sie hat wenig Interesse an Transparenz.
Nichts geändert hat sich an der Zweiklassenmedizin. Bedroht sie das Gesundheitssystem?
Rauch
Ich will nicht lange herumeiern: Ja, sie ist ein Problem. Genau dagegen geht die Gesundheitsreform an. Sie legt die Basis, dass wir aus dem System der teuren Wahlärzte rauskommen. Aktuell gibt es wenig Kassenplätze, die Menschen müssen in Spitalsambulanzen ausweichen, wo sie mit ihren Beschwerden aber meistens nicht hingehören. Oder sie gehen in Wahlarztpraxen, in denen sie zahlen müssen. Daher muss es uns gelingen, das Angebot an Kassenstellen und Primärversorgungseinrichtungen zu erhöhen. Sonst könnten wir in die Spitäler ohne Ende Geld hineinschütten, es würde aber nichts nützen.
Weil Österreich Weltmeister im Spitalliegen bleibt?
Rauch
So ist es. Digital vor ambulant vor stationär ist kein leeres Schlagwort. Mein Credo war, darum habe ich mich so reingehaut: Ich will die Situation für Patienten und Patientinnen verbessern. Nicht für die Ärztekammer.
Im Sommer haben Sie gesagt, Sie prüfen, wie viele Spitalsärzte daneben eine Wahlarztpraxis betreiben. Haben Sie es herausgefunden?
Rauch
Nein. Die Daten sind eine der Schwierigkeiten der Gesundheitswelt, sie liegen überall verstreut. Die Länder rücken die Daten ihrer Landesspitäler nicht heraus, die Sozialversicherung stellt sie auch nicht zur Verfügung.
Selbst Sie als Gesundheitsminister können nur raten?
Rauch
Leider. Ich gehe aber davon aus, dass es eine erkleckliche Anzahl ist. Die Bundesländer hätten als Spitalsbetreiber die Möglichkeit, Nebenjobs zu untersagen. Das machen sie aber nicht, weil sie sich dann schwertun, Personal zu finden. Wir müssen daher die Kassenstellen attraktiver machen. Und wir erleichtern es Spitalsärztinnen und Spitalsärzten, „draußen“ zu arbeiten – da geht es allerdings um Kassenordinationen und Primärversorgungszentren. Eben nicht um die Wahlarztordination.
Ich will die Situation für Patienten und Patientinnen verbessern. Nicht für die Ärztekammer.
Die Ärztekammer hat nun René Benkos Signa Prime um kolportierte 80 Millionen Euro das Meinl-Haus in der Wiener Innenstadt abgekauft. Was halten Sie davon?
Rauch
Die Ärztekammer muss mit sich selbst ausmachen, was sie mit den Mitteln aus ihrem Wohlfahrtsfonds anfängt. Aber eine Luxusimmobilie? Das Signal halte ich für mittelprächtig gut, um es vorsichtig zu formulieren. Was macht das für ein Bild? Wir brauchen eine funktionierende Ärztekammer, die auch im Interesse der Patientinnen und Patienten agiert. Aber davon ist sie leider ein Stück weit entfernt.
Eine weitere Baustelle im Gesundheitssystem ist der Pflegekräftemangel. Die Bundesländer suchen alle für sich Pflegekräfte. Oberösterreich auf den Philippinen, Niederösterreich in Vietnam. Ist das sinnvoll?
Rauch
Nein. Wir sind im Wettstreit mit europäischen Staaten, da macht es wenig Sinn, wenn einzelne Bundesländer in der Welt herumfahren und Leute einsammeln. Wir brauchen 80.000 zusätzliche Pflegekräfte bis 2030. Daher haben wir die Pflegereform mit besserer Bezahlung auf den Weg gebracht. Zusätzlich brauchen wir aktive Anwerbung aus Drittstaaten. Alle europäischen Staaten haben dasselbe Problem und suchen Pflegekräfte. Wir allerdings haben einen Wettbewerbsnachteil.
Inwiefern?
Rauch
Weil wir in Österreich seit 20 Jahren vermitteln: „Wir wollen euch nicht dahaben.“ Selbst viele qualifizierte Arbeitskräfte fühlen sich nicht willkommen. Die FPÖ will eine „Festung Österreich“ errichten und verschweigt, dass darin keine angemessene Pflege mehr stattfinden wird. Das wird man den Menschen laut sagen müssen, und ich werde das tun.
Das löst nicht das Problem, dass Österreich schon jetzt zu wenig Pflegekräfte hat.
Rauch
Wir müssen europäische Allianzen bilden und die Menschen gemeinsam nach ethischen Kriterien anwerben. Denn wir können nicht in einer Art neokolonialem System Leute herholen, bei uns arbeiten lassen und wegschicken, wenn wir sie nicht mehr brauchen. Wir müssen mit den Herkunftsländern auf Augenhöhe kooperieren, damit auch die Staaten profitieren. Und uns hier um die Menschen kümmern: Im Idealfall steht in jedem Bundesland eine Art Willkommenscenter und unterstützt bei der Suche nach Wohnung und Kindergartenplatz: Wir müssen weg von einem Umgang wie damals mit den Gastarbeitern, denn damit werden wir das Match verlieren.
Die ÖVP fordert Arbeitspflicht für Asylwerber. Kommt das?
Rauch
Das ist reine Showpolitik. Die ÖVP sollte endlich begreifen, dass die Leute bei so einer Art der Politik nicht den Schmiedl wählen, sondern den Schmied FPÖ. Diese Methode, rechts zu blinken, hat 20 Jahre nicht funktioniert. Es wäre an der Zeit, das einzusehen. Wenn man der drohenden Hegemonie der Rechten etwas entgegensetzen möchte, muss man eigenständige und positive Konzepte entwickeln.
Dafür ist die Zeit bis zu den Europa-Wahlen im Juni knapp.
Rauch
Ich bin 64 Jahre alt, die Europa-Wahlen sind die wichtigsten in meinem politischen Leben. Wenn Europa nach rechts kippt, werden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem Ausmaß ausgehöhlt, dass wir uns alle noch wundern werden. Wir werden viele Orbans bekommen, und Herbert Kickl wird der Mini-Orban sein wollen. Den Rechten sind die Parlamente ein Gräuel, sie wollen das liberal-demokratische Fundament aushöhlen. Das wird auch ein Desaster für den Wirtschaftsstandort.
Übertreiben Sie da nicht?
Rauch
Die Rechten suchen das Heil in der Abgrenzung, in der Kleinstaaterei. Das ist Schwachsinn. Wie soll Österreich etwa in der Medikamentenbeschaffung am globalen Weltmarkt bestehen? Wie sollen wir Schwierigkeiten in den Lieferketten auffangen? All diese Beispiele muss man den Menschen sagen. Die Rechten demontieren das Sozialstaatsmodell. Das endet in einer Katastrophe. Daher werde ich so emotional.
Woher kommt der Zulauf zur FPÖ?
Rauch
Wenn Demokratien 30 Prozent der Menschen verlieren, dann ist eine Schieflage entstanden, die weit über das Ausländerthema hinausgeht.
Das Thema Teuerung bewegt viele Menschen. Welche Fehler hat die ÖVP-Grüne-Regierung gemacht?
Rauch
Es ist bei vielen Menschen der Eindruck entstanden, dass sie abgehängt sind, niemand sie ernst nimmt und dass sie für „die da oben“ nichts bedeuten. Sie glauben nicht mehr, dass die Zukunft für sie oder ihre Kinder besser wird. Ohne Investitionen in Gesundheit und Soziales werden wir diese Menschen nicht zurückgewinnen. Wir müssen ihnen reelle Zukunftsperspektiven geben. Ist dieses Versprechen nicht mehr da, so entsteht das Gefühl, abgehängt zu sein. Das wird durch die Multikrisen verstärkt. Daher halte ich es für notwendig, in Europa zu investieren und Allianzen gegen Austeritätspolitik zu schmieden. Die geht sich nicht aus. Sonst verlieren wir 30 Prozent oder mehr an die Rechten.
Natürlich ist es derzeit gescheit, Maske zu tragen. Aber irgendwann müssen die Menschen kapieren: Nehmt Rücksicht, zeigt Verantwortung. Wir können nicht alles vorschreiben.
© Alexandra Unger
"Die demokratischen Kräfte müssen alles unternehmen, eine Regierung jenseits der FPÖ zu bilden. "
Sozial- und Gesundheitsminister Johannes Rauch (64) wird sich nach der Nationalratswahl aus der Spitzenpolitik zurückziehen, untätig will er aber nicht sein.
Spielt Corona noch eine Rolle?
Rauch
Corona hat das Gefühl verschärft, abgehängt zu sein. Die Schnittmenge der Menschen, die Corona für eine Verschwörung halten, und jenen, die gegen die Sanktionen gegen Russland sind, ist groß. Da baut sich eine Blase auf, wo mit gezielter Desinformation und aktiver finanzieller Unterstützung versucht wird, parlamentarische Demokratien zu schwächen.
War es ein Fehler, dass die angekündigte breite Aufarbeitung der Corona-Zeit nicht stattfand? Sie wollten Debatten in Bürgercafés, die gab es nie.
Rauch
Wir haben uns angeschaut, welches Land welche Maßnahmen mit welcher Auswirkung gesetzt hat. Das floss in den Pandemieplan ein. Eine der Kernaussagen lautet: Die Menschen tragen Maßnahmen nur mit, wenn sie sie verstehen. Am Anfang der Pandemie sind die Leute gut mitgegangen, dann ist es irgendwann gekippt. Ein paar Fehleinschätzungen sind auch passiert. Die Schulschließungen etwa würde man heute nicht mehr machen, wir würden auch in Altenheimen andere Regeln einführen, weil Menschen unter der Kontaktsperre extrem gelitten haben. Den größten Widerstand hat sicher die Impfpflicht ausgelöst. Das hat Folgen: Viel weniger Eltern lassen mittlerweile ihre Kinder gegen Masern oder Röteln impfen.
Die Durchimpfungsrate mit dem neuen Corona-Impfstoff liegt bei niedrigen 4,5 Prozent, man kommt nicht leicht zur Impfung. Experten schlagen vor, dass in Supermärkten geimpft wird. Ist das eine gute Idee?
Rauch
Ich bin ein Verfechter von Impfen in Apotheken.
Die Ärztekammer nicht.
Rauch
Leider. Es gibt 1400 Apotheken in Österreich. In anderen EU-Staaten ist es Usus, dass in Apotheken geimpft wird. Mir ist es nicht gelungen, das in die Gesundheitsreform hineinzupacken, aber ich habe dieses Ziel nicht aufgegeben. Es erscheint mir logischer als Impfen in Supermärkten.
Derzeit gibt es viele Corona-Infektionen. Kommt die Maskenpflicht in Spitälern?
Rauch
Das ist eine Angelegenheit eines jeden Spitals. Wir konnten das nur verordnen, als eine Überlastung des Gesundheitssystems drohte. Das zeichnet sich Gott sei Dank nicht ab, daher gibt es jetzt dafür keine verfassungsrechtliche Grundlage. In vulnerablen Settings wie Spitälern, Arztpraxen oder in der U-Bahn ist es natürlich derzeit gescheit, Maske zu tragen. Aber irgendwann müssen die Menschen kapieren: Nehmt Rücksicht, zeigt Verantwortung. Wir können nicht alles vorschreiben.
Wenn wir eine Zwischenbilanz der ÖVP-Grünen-Regierung ziehen: Die Grünen haben einiges erreicht, aber bei Vermögen- und Erbschaftbesteuerung passiert nichts, obwohl Sie das oft gefordert haben.
Rauch
Dieses Thema ist mit der ÖVP nicht mehrheitsfähig, das habe ich immer dazugesagt. Leider. Denn ab der Finanzkrise 2008/2009 gab es Vermögenszuwächse in den obersten Segmenten und Verluste in den untersten Segmenten, die Lohnentwicklung hielt mit der Vermögensentwicklung null Schritt. Deshalb ist die Valorisierung aller Sozial- und Familienleistungen, die uns gelungen ist, so wichtig. Die Verteilungsfrage war in den letzten Jahren verpönt, ich halte sie aber für eine Schlüsselfrage. Wenn die Verteilung sich nicht einigermaßen in Balance befindet und die Mitte der Gesellschaft den Eindruck hat, für sich oder ihre Kinder keine Zukunft mehr zu haben, dann wandert sie an den rechten Rand.
Ihr Parteichef Werner Kogler will Allianzen gegen die FPÖ schmieden. Was ist damit konkret gemeint?
Rauch
Die demokratischen Kräfte müssen alles unternehmen, eine Regierung jenseits der FPÖ zu bilden. Da sind vor allem ÖVP und SPÖ gefordert. Es muss zwischen ihnen Sprechfähigkeit geben, die sehe ich derzeit nicht. ÖVP und SPÖ müssen grundsätzlich miteinander koalitionsfähig sein. Wer soll sonst miteinander regieren und die FPÖ verhindern?
Wäre es nicht undemokratisch, eine mögliche stärkste Partei FPÖ von der Regierung auszuschließen?
Rauch
In Demokratien geht es um Mehrheiten. Es kann ja zum Beispiel Herbert Kickl den Regierungsbildungsauftrag bekommen und dann keine Mehrheit finden. So ähnlich ist es in Polen passiert, jetzt sind dort eben nicht die Rechten am Ruder. Nur weil jemand stimmenstärkste Partei ist, bedeutet das noch kein Anrecht, zu regieren. Wir werden darum ringen müssen, eine Regierung ohne FPÖ zu formen.
Sie nicht mehr. Sie haben angekündigt, sich nach der Nationalratswahl aus der Politik zurückzuziehen. Freuen Sie sich auf die Pension?
Rauch
Ich werde sicher nicht in Dornbirn am Balkon sitzen und in die Gegend schauen. Das halte ich nicht aus. Ich werde mich in irgendeiner Form ehrenamtlich weiter betätigen.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin
Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.