Mirwais Wakil wurde zu den Taliban entführt
Dieser Artikel erschien erstmals im profil Nr. 02 / 2017 vom 09.01.2017.
Für seine Deutscharbeit hatte sich Mirwais Wakil ein originelles Thema ausgedacht: "Die Kinder von Henrik Ibsens 'Nora' und Gustav Flauberts 'Bovary'". Nora Helmer und Emma Bovary, die berühmten Frauenfiguren der Weltliteratur, die in einer Ehehölle leben und am Ende Mann und Kinder verlassen - Madame Bovary durch Selbstmord.
Der Junge aus Afghanistan konnte das nicht gutheißen. Er haderte mit der modernen Frau, die ihre Kinder im Stich lässt. Aber er kannte ihr Unglück. Er war selbst hin und her gerissen zwischen eigenen Träumen und Verpflichtungen der Familie gegenüber; zwischen Kulturen, die entweder das eine oder das andere hochhalten, zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Er ist es noch immer.
Keiner seiner Freunde in der sechsten Klasse des Gymnasiums ahnte, wie schmerzhaft diese Geschichten an sein Leben rühren. Keiner wusste, dass er seine Kindheit in Bulgarien verbrachte hatte und was in Afghanistan mit ihm geschehen war.
2016 hat Mirwais Wakil angefangen, seine Erfahrungen aufzuschreiben, in einer poetischen, rhythmischen Sprache, ein Entwicklungsroman wie ein Popsong, und obwohl er damals gerade erst 26 Jahre alt geworden war, konnte wahre Literatur daraus entstehen, weil sie von existenziellen Dingen handelt. Nichts hier ist schwarz-weiß, und ihr Held ist durch Phasen des Bösen gegangen.
Am 8. August 2005 kam Mirwais mit seiner Mutter, die damals schon einen österreichischen Pass besaß, am Schwechater Flughafen an. Innerhalb von 24 Stunden war er aus der Welt der Taliban in den Westen, nach Österreich, katapultiert worden. Erst auf dem Rollfeld in Dubai hatte die Angst, sie könnten ihn doch noch kriegen, von ihm abgelassen, und er begann wieder zu essen. Er war 15 Jahre alt und wog nicht mehr als 31 Kilogramm.
Er blieb ein dünner und nervöser Junge, der brannte vor Ehrgeiz, Pflichterfüllung und religiöser Inbrunst. Der die Nächte durchlernte, am Wochenende in einer Fabrik schuftete und seine Mutter, die einst in der kommunistischen Jugendorganisation in Afghanistan eine wichtige Rolle gespielt hatte, dazu drängte, auf den Straßen Wiens ihre prachtvollen Haare unter einem Kopftuch zu verbergen, im Koran zu lesen und fünf Mal am Tag zu beten.
Als Mirwais Wakil das erste Mal die profil -Redaktion besuchte, hielt er nichts mehr vom Islam, von keiner Religion. "Wenn die Leute nichts mehr haben, ist Religion ihre letzte Hoffnung. Das sollten wir verhindern, wenn wir nicht ein Raqqa in Wien haben wollen. Dabei würde ich gern helfen". Er kam gerade von einem Auftritt beim Europäischen Forum Alpbach und war auf dem Sprung nach London. Er hatte ein Stipendium für die London School of Economics in der Tasche und platzte vor Selbstbewusstsein. Doch etwas nagte an ihm. Im Winter 2015 hatte er in einem großen Flüchtlingslager im 3. Wiener Gemeindebezirk gearbeitet und war dort in Schande geschieden. So empfand er das jedenfalls. Man hatte ihm vorgehalten, er hätte seine Kompetenzen überschritten, als er im Nachtdienst syrischen Frauen und einem alten Mann aus Afghanistan Gewand aus der Kleiderkammer aushändigte. Er quittierte seinen Dienst, und der Verdacht, er werde in Österreich nicht nach seinen Fähigkeiten beurteilt, sondern nach Name und Herkunft, verfestigte sich bei ihm zur Gewissheit.
Die Entführung nach Afghanistan
Es war im Sommer 1999 und Mirwais neun Jahre alt, als er neben seiner Schwester Laila im Fonds eines Ford aufwachte, vor sich den Vater und einen Freund des Vaters sah und draußen das Flughafengebäude der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Er fragte: "Wo ist Mama?"
Er hat kaum Erinnerungen an diese Reise. Als ob er betäubt gewesen wäre vor Schmerz oder anderen Dingen. Nach etwa zehn Tagen waren sie in Afghanistan angekommen. Die Luft flirrte vor Hitze. Auf den staubigen Straßen stank es nach Dung. Prodigy, Backstreet Boys und Spice Girls waren verboten. Im Präsidentenpalast in Kabul herrschten die Taliban. Hinter der elfjährigen Laila fiel die Türe ins Schloss. Wie alle Frauen lebte sie in Hausarrest. Einmal lief Laila, das Verbot missachtend, mit wehendem Haar auf die Straße und rief in höchster Aufregung nach Mirwais, der draußen Fußball spielte: "Mama ist am Telefon." Doch der Vater war schneller: "Dreckige Schlampe. Solltest du es wagen, hierher zu kommen, werde ich dir den Kopf abhacken, meine Talibanbrüder werden dich in Stücke schneiden und an die Hunde verfüttern. Du hast hier keine Rechte." Mirwais konnte ihre tränenerstickte Stimme hören: "Ich werde eine Burka tragen. Ich werde mich den Taliban fügen. Du darfst mich jeden Tag schlagen, aber ich kann nicht ohne meine Kinder leben. Lass mich zu ihnen." Dass ihre Mutter damals alles Menschenmögliche unternahm, sie zu finden, wussten sie nicht. Botschaften auf Zettelchen hatten sie nie erreicht.
profil ist mit Mirwais' Mutter in einer kleinen Wiener Bäckerei verabredet und trifft auf eine ungewöhnlich schöne Frau, gleich einer Prinzessin aus dem Märchenbuch, ein Gesicht, dem man die Schläge des Schicksals nicht sofort ansieht. Mirwais' Mutter, Maryam, entstammt einer gebildeten Familie aus Kabul. Als junges Mädchen war sie bei den Jungkommunisten aktiv gewesen. Sie hatte im afghanischen Bildungsministerium gearbeitet, und als die Mudschaheddin an Einfluss gewannen, ging sie mit einem Stipendium zum Studium nach Sofia. Laila und Mirwais waren da schon auf der Welt. Ihr Mann, ebenfalls ein viel versprechender Stipendiat, der sich in Sofia als Mediziner einen Namen machte, kam aus einer traditionellen Paschtunenfamilie in der Provinz, und hatte, wie sich herausstellen sollte, andere Vorstellungen vom gemeinsamen Leben. Maryam macht ihren Master in Biologie, doch die Ehe läuft nicht gut. Der hochintelligente Arzt schlägt seine Frau, tobt vor Eifersucht, verbietet ihr, mit Freundinnen auszugehen. Er berührt sie nicht mehr und hat selbst Geliebte. Als dann wirklich ein anderer Mann auftaucht, dreht er durch und entführt die Kinder. Er wird später sagen, er wollte seiner Familie in Afghanistan helfen, als Arzt seiner Heimat dienen. Maryam meint: "Es war Rache. Er wollte mich zerstören, indem er mir die Kinder nimmt." Mirwais sagt: "Er ist kein schlechter Mensch. Sie haben ihn immer wieder angerufen. Er fühlte sich schuldig."
Mirwais und Laila wurden in ein Dorf im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gebracht, in dem ein Dutzend Brüder und Schwestern ihres Vaters, Aberdutzende Onkel, Tanten, Nichten und Neffen leben. Bittere Armut. Lehmhütten. Hunger. Keine Elektrizität, keine Kanalisation. Mirwais und Laila sind schockiert. Sie sind hier die einzigen Kinder, die lesen und schreiben können.
In einer atemberaubenden Landschaft sieht Mirwais am Straßenrand Leichen, aus denen Organe herausgeschnitten wurden, bärtige Gestalten mit Kalaschnikows im Anschlag, vor denen alle zittern. Er beobachtet eine öffentliche Hinrichtung und Männer, die unter Allahu-Akbar-Rufen auf abgehackte Menschenköpfe eintreten. Aber er erlebt auch selbstlose Hilfe und Herzlichkeit.
11. September 2001. Al Kaida und ihr Anführer Osama Bin Laden, der sich in den Bergen Afghanistans versteckt hält, bekennen sich zum bisher größten Terroranschlag in der Geschichte. Ein Bündnis von Staaten unter Führung der USA erklärt der Taliban-Regierung einen Monat später den Krieg. Mirwais erinnert sich, dass die Menschen in der Provinzhauptstadt Ghazni, einst die Stadt der Intellektuellen, der Dichter und Denker, sich in der ersten Zeit befreit fühlten. Musik dröhnte wieder aus Ghettoblastern, Buchläden wurden eröffnet, die gefürchteten Taliban schienen wie vom Erdboden verschluckt, doch am Land blieb alles beim Alten. Hier herrschten weiter archaische Strukturen. Einige Brüder von Mirwais' Vater hatten als Mudschaheddin gegen die Sowjets gekämpft und waren in deren Gefängnissen gefoltert worden. Jetzt standen ihre Söhne in den Diensten der Taliban. Auch Mirwais' Lieblingscousin.
Als Sohn des Arztes hat Mirwais im Familienverband eine privilegierte Stellung. Er ist mitten in der Pubertät und hat gelernt, dass man Frauen, Kinder und Tiere schlagen darf, wann man will, und dass mit Ungläubigen wie mit Schweinen zu verfahren sei. Mirwais eifert seinen Cousins nach und besucht jetzt eine Koranschule. Es treibt ihn dazu, exzessiv zu beten und zu fasten, die Sünde seiner "schlechten" Herkunft zu büßen. Er könne sich davon befreien, wenn er sich selbst opfere, wenn er ein Selbstmordattentat ausführe, so die einschmeichelnden Worte des Imams seiner Moschee. Mirwais wird fast verrückt darüber.
Einmal findet er sich in einem Pulk junger Taliban. In ihrer Mitte kauert eine Frau am Boden, der Mann daneben schwankt im Stehen. Ihre Gesichter sind nicht mehr zu erkennen. Lebendig nur noch die Augen unter Blut, Erde und Schutt. "Nimm einen Stein, tu deine Pflicht." Von allen Seiten wird der 13-Jährige aufgefordert, mitzumachen. "Ich greife nach einem Stein, spüre, wie schwer er mir in der Hand liegt, und ziele", sagt Mirwais. Eine rote Fontäne strömte aus ihrem Kopf, und die Meute applaudiert. Er rannte weg und wollte alle mit einer Kalaschnikow ummähen, auch sich selbst. Mirwais hat diese Szenen lange Zeit aus seinem Kopf verbannt, sich eingeredet, das wäre nur ein Albtraum gewesen, aber das war es nicht.
Die Flucht nach Österreich
Mirwais besucht wieder eine öffentliche Schule in Ghazni. Der Klassenlehrer steht mit einer Peitsche hinter dem Pult. Eines Tages erkundigt sich im Schulhof ein fremder Mann nach Mirwais. Der Unbekannte, so stellt sich heraus, ist ein Abgesandter seiner Mutter. Mirwais bekommt ein Prepaid-Handy zugesteckt. Er läuft in die Felder, wählt die Nummer und hört die vertraute Stimme. Weinen. Minutenlang. Sie reden nicht viel. Er geht nun immer seltener zur Schule, sitzt in Teehäusern herum und träumt von Wien. Seine Mutter hat dort Asyl bekommen, nachdem sie die erfolglose Suche nach ihren Kindern aufgegeben hat. Doch jetzt, wo sie einen österreichischen Reisepass besitzt, möchte sie sie heimholen. Zuerst Mirwais -und dann mit seiner Hilfe Laila, der es in dieser Gesellschaft noch schlechter geht. Doch Laila verweigert den Kontakt. Sie hat nur noch eine einzige Hoffnung: dass ihr Vater sie nicht verkaufen werde.
Eines Morgens nimmt Mirwais heimlich ein Taxi und fährt nach Kabul. Er soll sie dort am Busbahnhof treffen. Wird sie ihn erkennen? Wird er die falsche "Burka" ansprechen und dafür getötet werden? Die Mutter hat in dem dünnen Jungen mit Rucksack ihr Kind gleich erkannt, aber er wollte erst ihre Narbe sehen. Sie fahren mit einem Sammeltaxi an die Grenze. Sie führt 1000 US-Dollar in bar mit sich. In dieser Region lebensgefährlich. Und doch wird die Summe kaum reichen, denn an der österreichischen Botschaft in Islamabad hat man es nicht eilig mit dem Antrag auf ein Visum für Mirwais. Kann diese Frau überhaupt beweisen, dass das ihr Sohn ist? Nach 30 Tagen der Stempel auf dem Antrag: abgelehnt. Wären an diesem Tag vor der Botschaft nicht bärtige Männer aufgetaucht, die nach einem Jungen wie Mirwais fragten und hätte die Mutter nicht einer Rachegöttin gleich gedroht, sie werde den Botschafter wegen Mordes an ihrem Kind vor Gericht bringen, wäre Mirwais heute vermutlich nicht mehr am Leben.
Für Mirwais sollte im Herbst 2005 in Österreich die Schule beginnen, doch von seinem Alter her ist er nicht mehr schulpflichtig. Die Mutter läuft zu Pontius und Pilatus, um eine Schule zu finden, die den Jungen dennoch aufnimmt. Auch zur Wiener Stadträtin Sonja Wehsely, die dafür sorgt, dass Mirwais ausnahmsweise noch ins Polytechnikum darf. Er spricht weder deutsch noch englisch und lernt beide Fremdsprachen parallel. Er sitzt jede Nacht bis drei, vier Uhr morgens in ihrer winzigen Wohnung am einzigen Tisch. Die Bücher von damals haben sich gewellt vom vielen Weinen. Er bestraft sich für Fehler, indem er sich selbst verletzt. Als frommer Muslim ist er bemüht, während des Unterrichts der Lehrerin nicht in die Augen zu schauen. Seinen Bart, den er aus religiösen Gründen wachsen lassen wollte, hat ihm sein Stiefvater im Schlaf abrasiert. Am Ende des Jahres hat er in allen Fächern außer Deutsch eine Eins.
Vom Abstellgleis auf die Universität
Mirwais Wakil träumt vom Gymnasium. Vom Polytechnikum aus ist das selbst für angestammte Wiener kaum möglich, doch eine junge Streetworkerin hat ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt, ihm Mut zugesprochen, und Mirwais hat nicht nur Menschen um sich, die ihm tatkräftig helfen -seine Lehrer, seine Eltern, ein Schulpsychologe, der ihm in dunkelsten Zeiten beisteht -, er hat auch Glück. In einem Gymnasium in der Brigittenau ist zu Schulbeginn 2006/07 überraschend ein Platz freigeworden.
Die Gymnasialzeit ist hart. Wenn die Schule Samstag Mittag endet, fährt Mirwais mit seinem Stiefvater zu einer Halle am Stadtrand von Wien und füllt eine laugenartige, giftige Flüssigkeit in Plastikflaschen. Für fünf Euro in der Stunde. Samstag wie Sonntag. In Zehn-Stunden-Schichten. Alle, die hier arbeiten, arbeiten schwarz, kommen aus fernen Ländern und betreten das Firmengelände nicht durch den Haupteingang.
Zwei Wochen nimmt sich Mirwais schulfrei, um gemeinsam mit dem Stiefvater Laila nach Wien zu holen. Das gelingt, mit Einverständnis des Vaters in Afghanistan. Nun sind sie zu sechst. Mirwais, Laila, zwei Halbgeschwister und die Eltern. Es wird eng in der Wohnung.
Mirwais Wakil wird von einem Lehrer auf das United World College in Mostar aufmerksam gemacht. Es wurde 2006 gegründet und dient der Friedenserziehung auf dem von Bürgerkrieg gebeutelten Balkan. Jedes Jahr werden neben Bosniern, Kroaten und Serben Schüler aus 50 weiteren Nationen nach Begabung und Eignung aufgenommen. Mirwais ist unter ihnen. Das erste Mal in seinem Leben verhält er sich wie andere Jungen seines Alters: Ausgehen, Partymachen, Alkohol trinken, mit Mädchen flirten. Seine Noten sind nicht mehr so gut. Sein größter Traum, in Princeton zu promovieren, geht nicht in Erfüllung. Doch er ist gut genug, für andere Stipendien. Mirwais Wakil hat heute eine international anerkannte Matura, drei Bachelor-Abschlüsse vom St.-Olaf-College in Minnesota und einen Master in Internationaler Politik von der London School of Economics. Bei den Verleihungen der Dekrete ist er bisher immer mit einem rot-weiß-roten Schal aufgetreten. Das nächste Projekt ist sein Buch.