Missbrauch in Kärnten: "Wennst nicht spurst, kommst zum Wurst."
"Wennst nicht spurst, kommst zum Wurst." In Kärnten kennt jeder diesen Spruch. Die Jüngeren wissen nicht genau, was es damit auf sich hat, aber sie ahnen Schlimmes.
Der Fall Franz Wurst erstreckte sich über fünf Jahrzehnte. Er war der größte Missbrauchsskandal, den Österreich je hatte.
Zu gegenwärtig und ungeheuerlich, um damals wirklich begriffen und verarbeitet zu werden.
Das Stadttheater Klagenfurt hat ihm jetzt mit dem Stück "Nicht sehen",das auf Zeugenaussagen basiert, eine Bühne gegeben und ein Zeitdokument geschaffen.
Es geht tiefer als alles, was man bisher zu dem Thema gehört hat. Dieser Skandal spielte sich nicht hinter kirchlichen Mauern oder abgelegenen Gehöften ab. Die gesamte österreichische Gesellschaft war involviert.
Franz Wurst, Wiener Kinderarzt mit Schwerpunkt Heilpädagogik, hatte von den 1950er-Jahren an die Kärntner Jugendwohlfahrt dominiert. Er überwachte die Schulärzte, entschied über Kindeswegnahmen, Einweisungen in Erziehungsheime, Sonderschulen und die von ihm geleitete heilpädagogische Abteilung am Landeskrankenhaus in Klagenfurt. Daneben führte er eine gut gehende Privatpraxis. Er galt als Koryphäe. Er starb 2008.
Die Soziologin Ulrike Loch, die ein Projekt zur Aufarbeitung leitet, sagt im profil-podcast: "Kinder und Familien, die in Wursts Netzwerk gerieten, waren darin gefangen. Es musste erst ein Mord geschehen, dass die Sache aufflog."*
Obrigkeitshörigkeit und ein hartnäckiger Bodensatz des Nazi-Denkens hatten sich zu einem Mosaik des Grauens verbunden.
Es musste erst ein Mord geschehen, dass die Sache aufflog.
Es war in einer Nachtschicht, als Andreas Gugl in der Firma ohnmächtig vom Gabelstapler fiel. Ein Tumor hatte sich in seinem Inneren festgefressen, als könne all das Böse, das Gugl in seiner Kindheit widerfahren war, eingekapselt und nach so vielen Jahren mit einem chirurgischen Schnitt entfernt werden.
Andreas Gugl lebt heute mit Frau und Kindern, Katzen und Hunden in einem Häuschen in der Obersteiermark, nahe der Autobahn. Er ist 56 Jahre alt, ein vom Schicksal gezeichneter Mensch mit allzu müden und klugen Augen, doch gemessen an dem, was hinter ihm liegt, hat profil einen glücklichen Menschen kennengelernt, voll Humor und Sprachbegabung und einem ironischen Zugang zur Welt. Der Tumor wurde rausgeschnitten, die Erinnerungen sind weiter da.
"Ich bin auf dem Land in eine Bauernfamilie hineingeboren worden. Meine Kindheit war von Gewalt geprägt. Ich war ein uneheliches Kind. Mein Großvater drängte meine Mutter zur Heirat-mit dem leiblichen Vater. Doch meine Mutter wollte nicht und wehrte sich. Ihre Schwangerschaft war die Folge einer Vergewaltigung., Entweder du heiratest, oder du fliagst aussi. A ledigs Weib kommt mir nit aufn Hof'",hat der Großvater gesagt.
Schließlich musste meine Mutter den Hof verlassen und zog in die Stadt. Ich bin bei meinem Großvater geblieben. Ein ehemaliger Nazi und wirklich sehr brutaler Mensch. Er hat mich mit allem geschlagen, was er finden konnte: mit Tannen, Brennnesseln, einem Rosenstrauch, einer Milchkanne und einem Besenstiel.
In der Stadt versuchte meine Mutter wieder eine stabile Beziehung aufzubauen, um mich zurückzubekommen. Ihre Männer kamen wochenweise. Sie wurde schwanger. Als ich bei ihr zu Besuch war, habe ich alles gesehen, war immer dabei( )Ich war ein bisschen mehr als sechs Jahre alt, wissen Sie. Ich hab das schon verstanden. Meine Mutter ist mit einem Typen im Zimmer, und plötzlich ist wieder Geld da. Einer wollte einmal etwas von mir. Ich habe laut geschrien. Meine Mutter ist sofort aus dem Zimmer gerannt und hat sich um ihn gekümmert, nicht um mich. In unserem Dorf gab es auch die Tante, eine benachbarte Bäuerin, die Messnerin, die einen Ziegenhof hatte. Die Tante roch immer sehr stark nach Ziegen. Ich musste ihr viel helfen. Wenn wir mit der Arbeit fertig waren, ist sie auf mich zugekommen: Komm Kleiner, komm, drück mich! Du hast so brav gearbeitet, jetzt bekommst du deine Belohnung, und dann hat die Tante irgendwelche Gegenstände, die in diesem schrecklichen Haus herumlagen, genommen und ich hab ihr diese Gegenstände zwischen die Beine schieben müssen. Danach bekam ich Stollwerk und Taschengeld. Ich kann den Geruch von Ziegen nicht mehr ertragen."
Wenn sie diese Sätze von Andreas Gugl spricht, steht die Schauspielerin Petra Morzé in einem Lichtkegel auf der Bühne des Klagenfurter Stadttheaters. Allein, schutzlos wie ein Kind, mit nichts in der Hand, doch selbstbewusst. Jetzt sind die Opfer am Wort. Die vorläufig letzte Vorstellung (eine Wiederaufnahme ist geplant) war ausverkauft.
Man hört die Nervosität: Scharren, Knistern, Räuspern, Husten, bisweilen ein Schluchzen. Jeder Zwischenapplaus kommt einer Entladung gleich.
Andreas Gugl wollte damals nur weg von seiner Familie, weg vom Großvater, weg von der Ziegenbäuerin, weg von den Männern seiner Mutter. Das Kind bat einen Pfarrer um Hilfe. Es stand vor einem Kinderheim und bat um Einlass. Es kam mehrmals kaputtgeprügelt ins Spital. Eines Tages fuhr am Bauernhof des Großvaters ein Auto vor, in dem Menschen in weißen Kitteln saßen. Die brachten das Kind in die Heilpädagogische Abteilung im Landeskrankenhaus Klagenfurt.
Der Schauspieler Axel Sichrovsky mustert eindringlich die Gesichter im Publikum, ehe er jetzt zum Sprechen anhebt. Es sind viele im Saal, die mitten im Leben standen, als Franz Wurst mit den höchsten Ehren des Landes Kärnten ausgezeichnet wurde. Sie müssen hören, wie es mit Andreas Gugl weiterging:
"Ich habe erzählt, was bei uns am Bauernhof passiert ist. Ich hab von der Tante mit den Ziegen erzählt. Da war ich noch leichtgläubig, dachte, der Primar wird mir helfen, mir bestätigen, dass ich nicht verrückt bin, dass alles wirklich so passiert ist. Er hat mir sehr aufmerksam zugehört. Da habe ich mich leider sozusagen selbst in die Opferrolle gebracht. Da gebe ich mir heute selber die Schuld. Von da an musste ich bei jeder Untersuchung nackt auf dem Schoß vom Professor sitzen."-"Ah, du bist auch ein Schwuler", sagt Wurst, während er das Glied des Buben manipulierte. Das war 1979, Andreas Gugl war 13 Jahre alt.
"Manchmal mussten wir uns ausziehen und auf einer Matte vor dem Primar griechisch-römisch ringen. Er saß auf einem Sessel. Das war sein Anfangsritual, um sich aufzugeilen."
Andreas Gugl ist eines von 580 Missbrauchsopfern, die sich bis dato bei der Kinder-und Jugendanwältin und Leiterin der Opferschutzstelle Astrid Liebhauser gemeldet haben.
In staatlichen Institutionen waren Kinder über fünf Jahrzehnte lang sexuellem Missbrauch, physischer und psychischer Gewalt, Demütigungen und mittelalterlichen Bestrafungsmethoden ausgesetzt. Und sie wurden alleingelassen. Briefe an die Eltern kamen nie an. Briefe wie jener: "Liebe Eltern, mir geht es nicht gut, bekomme jeden Tag eine Spritze-euer schlimmer Niklas", finden sich in den Krankenakten.
Verbrechen an Körper und Seele geschahen auf der Heilpädagogischen Abteilung, im Kinder-und Jugendheim Görtschach im Rosental, in Wursts Ordination, in seiner Villa, in Hotelzimmern und auf Ferienlagern in Kroatien und Italien. Wurst war nicht immer allein. Auch andere Erwachsene waren nach Zeugenaussagen dabei.
Im Schwimmbad der "Heilpäd" sollen sie hinter einer Spiegelwand gestanden sein und sich an pubertierenden Buben und Mädchen, die zu Sex im Wasser animiert worden waren, stimuliert haben.
Die Opfer sagen, sie seien spätnachts von einer Schwester in das Parterre der "Heilpäd" geführt und dort in schwarzen Limousinen zu Sexpartys gebracht worden. Wursts Villa in Pörtschach und zwei Hotels am Wörthersee werden genannt. Sie seien mit wahrnehmungsverzerrenden Medikamenten vollgepumpt gewesen. Gugl erinnert sich an ein Mädchen, das in einem Salon mit Jagdtrophäen und moderner Kunst bewusstlos auf einem Sofa gelegen sei, und als er es anfasste, war es ganz kalt.
Wurst hatte sich einen Kreis von "Lieblingen" geschaffen, die er verwöhnte, auch auf Fernreisen mitnahm. Widerspenstige wurden härter angefasst. Bei seinen Vorlesungen an der Universität ließ er Kinder vorführen und redete in verächtlichem Ton über ihre Makel.
Wurst ging 1985 als Leiter der Heilpädagogischen Abteilung in Pension, ordinierte privat weiter, wurde hie und da aber noch immer am Landeskrankenhaus und im Kinderheim Görtschach gesehen. Keiner kann heute sagen, wer ihm Zutritt gewährte.
Der Missbrauch wäre weitergegangen, wenn nicht eines Abends, es war der 8. Dezember 2000, Hilde Wurst in ihrer Villa tot aufgefunden worden wäre. Ein Unfall. Eine alte Dame, 78 Jahre alt, die auf der Treppe ausgerutscht war und hinunterstürzte. So war der erste Anschein.
Doch dann tauchten blutbefleckte Tücher auf, Spuren von Azeton, und das sogenannte Patenkind der kinderlosen Wursts, ein 17-jähriger Problemteenager mit etlichen Delikten, gestand: Er habe Hilde Wurst betäubt und erwürgt, weil sie sich zwischen ihn und den Professor gedrängt habe. Als eine Woche später Hilde Wurst, die in ihrer aktiven Zeit den Lehrkindergarten in Klagenfurt geleitet hatte, unter großer Anteilnahme von Kolleginnen und Honoratioren begraben wurde, wurde Wurst am Ende der Zeremonie, am Ausgang des Friedhofs, verhaftet.
Der Teenager war zusammengebrochen und hatte von jahrelangem Missbrauch erzählt. Seit er neun Jahre alt war, sei er von Wurst dazu abgerichtet worden, und irgendwann habe er begriffen, er könne für seine Dienstleistung und sein Schweigen Geld verlangen. Das Verhältnis hatte sich umgekehrt. Eltern und Brüder des "Patenkinds" bekamen ein eigenes Häuschen auf einem Teil des Wurst'schen Villengrundstücks, der Jugendliche wurde zu Fernreisen eingeladen, bekam immer wieder höhere Geldbeträge und sogar Autos geschenkt. Der Primar bürgte für Kredite. Als Hilde Wurst das beenden wollte, so der junge Mann, habe der Professor zu ihm gesagt, er solle seine Frau um die Ecke bringen. Dann sei der Geldhahn wieder offen.
Der Schock war groß, doch anfangs wollte das niemand recht glauben. Dann meldeten sich fast täglich Erwachsene, die als Kinder von Wurst an ihren Genitalien manipuliert, vermessen und dabei fotografiert, zu sexuellen Handlungen gezwungen und vergewaltigt worden waren.
Als der Prozess 2002 startete, war dennoch ungewiss, wie er ausgehen würde. Wursts Kollegenschaft von der Heilpädagogischen Abteilung litt im Zeugenstand kollektiv an Gedächtnisschwund; nahezu alle hatten nichts gehört und nichts gesehen. Der Linzer Primar Werner Gerstl, der bei Wurst Assistenzarzt war und mit ihm befreundet, meinte gar, die Kinder seien über die nächtlichen Untersuchungen "belustigt" gewesen. Eine Erzieherin gestand unter Tränen, sie sei "zu feige gewesen",um die Vorfälle zu melden. Die meisten Schwestern und Pfleger sagten, sie hätten sich bei den nächtlichen Aktionen nichts gedacht. Der Professor hätte so viel um die Ohren gehabt, dass es eben spät wurde. Keiner dachte sich etwas, wenn sich Kinder vor Wurst unter dem Tisch versteckten und blutig kratzten?
"Hier leiden plötzlich alle unter Gedächtnisschwund", sagte der ehemalige Erzieher Rudolf Kropiunik mit kaum verhohlenem Zorn. Er berichtete im Zeugenstand von einem 14-jährigen Mädchen, das schreiend aus Wursts Zimmer geflüchtet war-von "dem Schwein" lasse sie sich nicht mehr "ausgreifen". Danach blieb das Mädchen tagelang verschwunden, weil sie in eine Schlafkur versetzt worden war.
Einmal habe er Wurst sogar in flagranti ertappt: ein Junge mit heruntergezogener Hose zwischen den Beinen des Primars. Er habe seine Vorgesetzte informiert, und Wurst habe ihn einen Psychopathen genannt. Er habe auch an Landeshauptmann Leopold Wagner und Soziallandesrat Rudolf Gallob Briefe geschrieben, doch nichts sei geschehen, sagte er profil. Vor allem Gallob, Soziallandesrat und überzeugter "Ulrichsberger",der bei den jährlichen Feiern die Veteranen der Waffen-SS willkommen hieß, habe seine schützende Hand über Wurst gehalten.
Rudolf Kropiunik hat sich selbstverständlich das Theaterstück angesehen, mit hochrotem Kopf und noch immer wütend. Kinder hätten damals Hilfebotschaften verfasst, das könne nicht nur er bemerkt haben.
Ein ehemaliger Geschworener beim Wurst-Prozess erzählt profil, die Verurteilung von Wurst stand auf der Kippe. Hätten nicht mehr und mehr Opfer ihr Schamgefühl überwunden und ausgesagt, und wäre Wurst nicht durch Telefonate mit seinem "Patensohn" belastet worden, wäre er vielleicht freigekommen. Wurst selbst glaubte das, trat arrogant und selbstsicher auf, sprach von "schmutzigen Fantasien".
In manchen Medien, auch in einem Artikel des profil im Jahr 2002, wurden die Aussagen der Opfer als unglaubwürdig abgetan. Unter dem Titel "Was für Zeugen" wurden sie als Verhaltensgestörte, sexuell Auffällige und Aggressive heruntergemacht.
Wurst gab sich während des Prozesses als erblindeter Greis und schrieb doch fleißig Leserbriefe an Zeitungen. "Ein Schauspieler", sagt der ehemalige Geschworene. Am letzten Prozesstag kam Wurst mit gepacktem Koffer zur Verhandlung, überzeugt, er werde als freier Mann heimgehen.
Wurst wurde wegen Anstiftung zu Mord und sexuellem Missbrauch in sieben Fällen-mehr kamen nicht zur Anklage, weil das am Strafmaß nichts geändert hätte, zu 17 Jahren Haft verurteilt. Nach vier Jahren wurde er in ein Wiener Pflegeheim überstellt. 2008 starb er.
Der erste Versuch, den Fall Wurst künstlerisch zu gestalten, wurde unterbunden. Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hatte schon 2003 für eine Komposition von Olga Neuwirth ein Libretto zum Fall Hans W. verfasst. Die Oper sollte bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden, doch der damalige Leiter der Festspiele, Gerard Mortier, war der Meinung, dass das Thema der Pädophilie "zurzeit total ausgeschöpft" sei. Ein Neffe von Wurst, Röntgenarzt am AKH, hatte zudem Klagen angedroht.
Nach dem Schuldspruch wurde es still um den Fall Wurst.
Die unheilvolle Geschichte der Heilpädagogik in Österreich mit ihren nationalsozialistischen Versatzstücken, der Entmenschlichung von Kindern als "erbbiologische Versager", weil sie Bettnässer waren oder Linkshänder, stotterten oder Lernschwierigkeiten hatten, Ängste oder nervöse Zustände, wurde erst nach und nach aufgearbeitet.
In Fachaufsätzen schrieb Wurst von "geborenen Verbrechern" und "anlagengesteuerten Triebhandlungen".
Das Ehepaar Wurst hatte sich in diesem Sinn gefunden. Hilde Wurst war 1942 der NSDAP beigetreten. Franz Wurst hatte 1944 in Wien promoviert und rühmte sich, "der jüngste Truppenarzt im Reich" gewesen zu sein. Im letzten Kriegsjahr war er nach eigenen Angaben in Lazaretten und Kriegsgefangenenlagern eingesetzt. 1945 ging er an das Institut seines Doktorvaters Hans Asperger in Wien, der eine krass erbbiologische Sichtweise vertrat, die durch ungünstiges Milieu noch verstärkt würde. In der NS-Zeit bedeuteten solche Gutachten ein Todesurteil. Am berüchtigten "Spiegelgrund" wurden Kinder mit Spritzen ermordet.
Einige Monate verbrachte Wurst 1948 mit einem WHO-Stipendium in den USA. Er wollte eine Analyse beim Wiener Psychiater Bruno Bettelheim beginnen, der ihn jedoch ablehnte.
1952 begann Wurst die heilpädagogische Ambulanz in Kärnten aufzubauen. Er hielt wöchentliche Sprechstunden ab, auch über Kärnten hinaus, entschied über die Schulreife vieler Jahrgänge, hatte eine Professur an der Universität Wien, ab 1970 auch an der neu gegründeten Universität in Klagenfurt und eine Dozentur in Graz.
1968 wurde er der erste Leiter der Heilpädagogischen Abteilung im LKH Klagenfurt, ein modern ausgestatteter Neubau mit Schwimmbad. Wurst war Chefgutachter für alle Arten verhaltensauffälliger Kinder. An ihm kam niemand vorbei. Mütter, die sich gegen ihn stellten, wurden als "hysterisch" und zur Erziehung eines Kindes "unfähig" beurteilt. Kinder, die sich wehrten, kamen in Gewahrsam. Von den 1950er-Jahren bis zum Mord lernten zwei Generationen von Kindergärtnerinnen, Erziehern und Pädagogen auf der Grundlage von Wursts Weltanschauung, wie mit schwierigen Kindern umzugehen sei. Eine Kontrolle von außen gab es nicht, sondern allumfassendes "Systemversagen", sagt Kinder-und Jugendanwältin Liebhauser.
Wurst ging wie sein Lehrer Asperger von einer "anlagebedingten Erlebnisbereitschaft" aus. Für Wurst bedeutete das offenbar: Bei Kindern aus zerrütteten Familien und schlechten Verhältnissen sei es egal, wie er sich aufführe. Sie haben Mitschuld. Oder in Wursts eigenen Worten: "Es sind ganz bestimmte Mädchen, die wiederholt missbraucht werden, die in ihrem Blick, in ihren Bewegungen eine Affinität zu sexuellen Erlebnissen schon früh erkennen lassen. Es passt der Schlüssel ins Schloss."
In Görtschach im Rosental, einem Heim für Buben im Alter von sechs bis 18 Jahren und angeschlossener Sonderschule, ging es noch rauer zu als auf der "Heilpäd". Neben sexueller Gewalt waren alle Formen von Erniedrigung und Brutalität üblich, gefördert und toleriert von hartherzigen Erziehern. Die Anstaltskleidung: schwarze, kurze Hosen, barfuß bei der Feldarbeit, um das Ausreißen zu erschweren. Gruppengewalt. Auch hier gab es für Wurst ein Dozentenzimmer. Ein Zögling erinnert sich, dass Wurst öfter in der Tür des Speisesaals verharrte und wie ein Gourmet die Buben musterte. Ein Vorzeichen, dass in der kommenden Nacht wieder etwas los war. Auch in Görtschach sollen sich heimfremde Personen aus dem nahen Ferlach an Buben vergangen haben.
Manche Kinder wurden wie im Pingpong von der "Heilpäd" nach Görtschach und wieder zurück geschickt. Und immer war da Wurst.
Der Arzt muss sich sicher gefühlt haben. Die Politik hielt still. Den Kindern wurde nicht geglaubt. Aus dem Jahr 1982 sind Anzeigen aktenkundig. Sie wurden niedergeschlagen.
Die Analytikerin und Therapeutin Jutta Menschik-Bendele wurde 1984 auf einen Lehrstuhl nach Klagenfurt berufen. Bei ihrem Antrittsbesuch beschied ihr der Landeshauptmann Wagner: "Wir brauchen keine Psychotherapie. Wir Kärntner sind gesund!" Als sie von ihren Klienten hörte, was Wurst mit ihnen getrieben hatte, machte sie Sozial-und Gesundheitslandesrat Gallob darauf aufmerksam. Der verbat sich jede Einmischung und warf sie aus dem Zimmer. Ihre Hinweise beim medizinischen Direktor des LKH, Udo Gutmann, wurden ebenfalls niedergebügelt. Anfang 2000 informierte sie den Ethikrat der Psychotherapeuten, doch der unternahm nichts, weil Wursts Opfer anonym bleiben wollten.
Eine junge Sekretärin im Amt der Landesregierung sagte gegenüber der Opferschutzstelle aus: "Eines Tages sind über meinen Tisch Beschwerdeschreiben gekommen. Hinweise auf den Missbrauch von Kindern. Ich bin zu dem damaligen Landeshauptmann Wagner gegangen und hab gesagt:, Bitte, wir müssen was tun.'Ich hab die Briefe dabeigehabt. Er hat mich angeschaut und gesagt:, Dirndl, du sollst das nicht lesen, du sollst das ablegen.' Dann kamen wieder solche Schreiben, und ich bin zu dem zuständigen Landesrat Gallob gegangen und hab gesagt:, Bitte, Sie müssen da was tun!'Ich dachte, die Politiker sind für die Menschen da. Sie sind politisch dafür zuständig, das kann man so nicht lassen. Er hat sich zurückgelehnt, mich angeschaut und gesagt-das vergesse ich mein Leben lang nicht:, Dirndl, du wirst noch viel lernen müssen. Was glaubst denn du! Da sitzen täglich Eltern, die ihre Krüppel irgendwo unterbringen wollen. 'Bitte, das war seine Aussage."
Der Skandal wühlt auf. Ins Stadttheater Klagenfurt strömten Menschen, die bisher dem Thema ausgewichen waren. Ehemalige Opfer saßen im Publikum, Verdrängtes wurde hochgespült. Harald Papitsch, ein Grün-Politiker in Pörtschach, erinnerte sich, wie er als Kind in Scharlach-Quarantäne auf Wursts Schoß gelandet war. Der Arzt hatte ihn lang angesehen, nichts gesagt und sich dann an seinen Genitalien zu schaffen gemacht. Das verstörte ihn sehr. Seinen Eltern erzählte er, die Schwester habe ihn geschlagen.
Der junge Regisseur Noam Brusilovsky hat mit dem Stück "Nicht sehen" und dem gemeinsam erarbeiteten Script ein kleines Wunder vollbracht. Selten hat Theater solche Wirkung. Aus den Akten der Opferschutzstelle, mit dem Auftritt von Experten und einer sehr jungen Theater-Laiengruppe hat er den Skandal in die Gegenwart geholt. Die 13-/14-jährigen Schüler und Schülerinnen sind extrem wütend. Zu Recht. Vieles kenne man aus dem Internet, dem Darknet, Gewalt, Porno-aber das hier sei wirklich "krass",sagt ein Junge. Ein Mädchen höhnt: "Nichts gesehen, nichts gehört? Surprise, surprise."
Das Jugendheim Görtschach wurde 2013 geschlossen. Heute ist es ein Heim für minderjährige Flüchtlinge, die sich allein auf den Weg gemacht haben. Wenn der Syrer Muaz Abou Noumeh, dessen Flucht über das Mittelmeer in Görtschach endete, auf der Klagenfurter Bühne steht und erzählt, wie das war, als er in Kärnten ankam, die Helfer Pizza bestellt hatten und Schokolode auf den Betten lag-"der erste schöne Moment seit Langem"-,schießen vielen im Publikum Tränen in die Augen. Ein bisschen Menschliches nach all der Gewalt.
Der Künstler Julius Deutschbauer sagte in einer der Publikumsdiskussionen nach der Aufführung: "Ich hab als 17-Jähriger gewusst, was da vor sich geht. Für die Strichjungen beim Bahnhof war Wurst ein Lieblingskunde, weil er gut zahlte. Das Schlimmste für mich an der ganzen Sache: Kein Täter außer Wurst wurde je angeklagt. Der Kreis schließt sich für mich nicht."
Einige Opfer berichten vom Missbrauch in Männerrunden: "Dienstlimousinen-Fahrtenbüchern-Schickimickitypen." Die Expertinnen können nicht ausschließen, dass es einen Pädophilen-Ring gab, der mit gesellschaftlichem Ansehen und Einfluss eine Mauer des Schweigens errichtete. Beweise dafür gibt es nicht.
Gugl ist mehrmals ausgerissen und wurde aufgegriffen. "Ich habe Polizisten erzählt, was Wurst mit uns macht. Sie haben mir nicht geglaubt, mir eine Watschn gegeben und mich wieder zurückgebracht."
Ausreißer mussten Entschuldigungsbriefe schreiben: "Ich werde mich bemühen, mich hier besser zurechtzufinden und hoffe auf etwas Entgegenkommen von Seiten der Erzieher",so Gugl handschriftlich am 3.11.1979.
In seiner Krankenakte steht, Alois Gugl wollte unbedingt an die "Heilpäd" zurück. Es habe ihm bei Primar Wurst so gut gefallen.
"Hätte man mir 1979 bei der Polizei geglaubt, hätte es all die anderen Opfer nicht gegeben", sagt Gugl.
Die Villa Wurst in Pörtschach gibt es nicht mehr. Sie wurde vor wenigen Wochen abgetragen. Gekauft hat das Grundstück John Otti von der John-Otti-Band, der FPÖ-Wahlkampfband.
Buchtipp
Ulrike Loch, Elvisa Imširović, Judith Arztmann, Ingrid Lippitz: Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl. Studienverlag Innsbruck, Wien 2022.