Kirche

Missbrauchs-Affäre Groër: Bekenntnisse des Josef H.

Am 5. Jänner verstarb der Whistleblower Josef Hartmann, der in den 90er Jahren Kardinal Hans Hermann Groër als Missbrauchstäter enttarnte. Aus dem Archiv: Die exklusive Cover-Geschichte, die den Skandal ins Rollen brachte.

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Ein Ex-Schüler konterkariert das Weichbild des kauzigen Kirchenfürsten. Er beschuldigt Kardinal Hans Hermann Groer des wiederholten sexuellen Mißbrauchs. Der Wiener Erzbischof verweigert jede Stellungnahme.

Schon bald nach seinem Einzug in das Erzbischöfliche Palais ließ er Vertraute wissen: "Ich bin mit fünf Koffern eingezogen. Ich kann mit fünfeinhalb Koffern jederzeit wieder ausziehen."

Seit nunmehr bereits neun Jahren residiert Hans Hermann Groer, 75, als dominus liti im ausladenden Prachtbau Ecke Wollzeile/Rotenturmstraße in der Wiener City. Nachhaltig seßhaft in den Köpfen und Herzen seiner Gläubigen ist der "Metropolit der Wiener Kirchenprovinz und Ordinarius für die Gläubigen des byzantinischen Ritus in Österreich" - so sein offizieller Titel - bis heute nicht geworden.

Groer hat den Wienern offenbar bis heute nicht den unfreundlichen Empfang bei seiner Inthronisierung im Herbst 1986 vergeben: Die Mehrheit war über die Nominierung des verschrobenen - meist säuselnd verzückten - Marien-Verehrers als Nachfolger des weltgewandten und dialogfreudigen Franz König schlicht schockiert. Das schrumpfende katholische Aktiv-Segment hält sich nach wie vor lieber an den inzwischen fast 90jährigen Vorgänger. Franz Kardinal König kann sich bis heute der Flut von Einladungen zu innerkirchlichen Diskussionsforen, Symposien oder Festmessen kaum erwehren.

Wenn Groer selten einmal Aufsehen erregt, dann mit schrulligen Gesten: So unterbrach er im Vorjahr punkt zwölf Uhr mittag eine Pressekonferenz zum Gebet und nötigte auch die verdutzten Journalisten, gemeinsam mit ihm den "Engel des Herrn" anzurufen.

Interviews unter vier Augen gibt der Wiener Oberhirte so gut wie nie. Die wenigen, die er ausgewählten rechtgläubigen Medien-Leuten gewährt, finden vor allem bei Liebhabern blumiger Frömmeleien Gefallen. Und wenn er - ab und an - eine öffentliche Erklärung über die katholische Presseagentur verlautbaren läßt, dann nur zu den vatikanischen Top-Themen Sex und Sünde: platte Plädoyers wider den "Krieg gegen das Kind im Mutterschoß" und gegen die "Zügellosigkeit im Bereich der Sexualität".

Auch die jüngste öffentliche Erklärung, datiert mit 22. Februar 1995, "dem Fest Kathedra Petri" (Groer), kreist um die augenblickliche Causa prima der römischen Kurie - das Ende des Vorjahrs von Johannes Paul II. erneuerte Kommunionsverbot für wieder-verheiratete Geschiedene. Das Rundschreiben ist an die geistlichen "lieben Mitbrüder - Bischöfe, Priester und Diakone" - und die weltlichen "hochgeschätzten Mitarbeiter in der Familienpastoral" adressiert. Und bietet einen reichhaltigen Katalog an "Hilfen" an, um die Ungläubigen in Sachen Kommunionsverbot auf den rechten Weg zu bringen, etwa: "Weihe der Familien an das Heiligste Herz Jesu", "Familien-Wallfahrten" und - in einer Art Generalpräventivschlag - "Bemühung um die ,Reinigung' der öffentlichen Moral". Zum Beweis der Rechtgläubigkeit streut Groer in seine Moralepistel auch Bibelzitate ein. So etwa auch dieses: "Täuscht Euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder werden das Reich Gottes erben."

Just eines seiner seltenen öffentlichen Lebenszeichen könnte Groer am Ende seiner Amtszeit zum Verhängnis werden. Dem ehemaligen Zögling des Knabenseminars Hollabrunn, Josef Hartmann, stachen in einer einschlägigen Meldung: (profil 10/95) vor allem die biblischen Drohungen gegen "Lustknaben und Knabenschänder" ins Auge - zumal "ausgerechnet von Groer" (Hartmann).

Denn damit stiegen im ehemaligen Groer-Schüler neuerlich Erinnerungen an Erlebnisse mit dem heutigen Wiener Kardinal hoch, an deren Bewältigung er bis heute arbeitet. Das Bild, das Hartmann von seinem ehemaligen Lehrer zeichnet, unterscheidet sich kraß vom Weichbild, das Groer als Wiener Ordinarius gerne bietet. Der Sohn eines Weinviertler Kleinbauern und Mesners hat den kauzigen Kirchenfürsten als obsessiven Knabenschänder und brutalen Psychoterroristen erlebt: "Groer hat mich sexuell mißbraucht".

Hartmann, 37, ging Ende der sechziger Jahre den Weg, den - vor der Bildungsexplosion mit Beginn der Ära Kreisky - viele begabte Schüler abseits der großen Städte gingen: Der einzige Weg zu höherer Bildung führte beinahe zwangsläufig ins - meist katholische - Internat. Den damals gerade Neunjährigen verschlug es zudem ins katholischste aller Internate, das erzbischöfliche Knabenseminar Hollabrunn. Zweckwidmung des Instituts: Vom Heimatpfarrer empfohlene Teenager sollen bereits während ihres Mittelschulstudiums auf ihre künftige Bestimmung, den Priesterberuf, gedrillt werden.

Der Tag begann mit Aufstehen um sechs Uhr, Meßgang wochentags um halb sieben, Frühstück, zwanzig Minuten "Morgenstudium", anschließend Abmarsch an die öffentliche Schule. Streng normiert war auch der Rest des Tages: Mittagessen, oft mit "geistlicher Lesung", eineinhalb Stunden Sport oder Spaziergang im Internatsgarten, Nachmittagsstudium, zwanzig Minuten "Jause", Abendstudium, Abendessen, Schuhputzkontrolle, ab in die Schlafsäle. In den kasernenartigen Schlaf-Unterkünften herrschte in Hartmanns ersten Schuljahren auch tagsüber striktes "Silentium". In den unteren Klassen Licht aus punkt 19.30 Uhr.

Ausgang "in die Stadt" nur mit ausdrücklicher Erlaubnis und unter Angabe eines konkreten Grundes. Eintragung der exakten Uhrzeit des Gehens und Kommens in einer "Ausgangsliste" an der "Internatspforte".

Der Kontakt zu den Eltern war auf wöchentliche Briefe und gelegentliche Heimfahrwochenenden alle paar Monate beschränkt. Wer Gott geweiht sein will, so die Erziehungsphilosophie des Hauses, muß früh lernen, weltlichen Bindungen zu entsagen.

In dieser strengen Welt der Zucht und Ordnung wurden sensible Gemüter gebrochen - oder sie brachen dorthin aus, wo sich ihnen ein emotionales Schlupfloch bot. Entlassungen über Nacht wegen "Sexspielen unter der Bettdecke" waren ab der vierten Mittelschulklasse an der Tagesordnung.

Ich habe damals eher mädchenhaft gewirkt, das dürfte Groer besonders angesprochen haben.

Josef Hartmann

Auch Josef Hartmann durchlief die Nöte aller Pubertierenden. Daß er dabei ausgerechnet Hans Hermann Groer über den Weg lief, macht ihm bis heute zu schaffen. Zu Anfang überhäufte der Hollabrunner den schmächtigen Jüngling mit den femininen Gesichtszügen mit Streicheleien und Schmeicheleien ob seiner wallenden Haarpracht. Hartmann: "Ich habe damals eher mädchenhaft gewirkt, das dürfte Groer besonders angesprochen haben."

Der Mittfünfziger hatte zu dieser Zeit im Internat zwar keine offizielle Funktion als Präfekt oder Erzieher, hatte sich aber - im Internat wohnhaft - als "geistlicher Berater" der Oberstufen-Gymnasiasten ein warmes Plätzchen in der Seminar-Hierarchie erobert. Es war daher nach außen hin unverdächtig, wenn er den 14jährigen während langer Internatsnachmittage und -abende immer öfter unter Vorwänden zu sich rufen ließ: mal, um ihn um Mithilfe bei der "Buchhaltung" zu bitten. (Groer schnorrte gerade erfolgreich Spenden für die Wiederbelebung des nahen Wallfahrtsortes Maria Roggendorf und die Errichtung eines Nonnenklosters). Mal, damit er ihm bei der Gründung von neuen Ortsgruppen der martialischen katholischen Laienorganisation "Legio Mariae", der Groer als "geistlicher Leiter" vorstand, zur Hand gehe. Zu Anfang durchaus attraktive Angebote für den auserwählten Zögling: Boten sie ihm doch einen willkommenen Ausbruch aus dem Korsett des im Stundentakt genormten Tagesablaufs. Aus den regelmäßigen Kontakten - "manchmal bis zu dreimal in der Woche" - entwickelte sich eine intensive Beziehung - bald auch auf körperlicher Ebene.

Groer lockt den Teenager, so Hartmann, unter dem plumpen Vorwand der Gesundheitsvorsorge in die Duschkabine seiner Wohnung: "Er wolle mir zeigen, wie man richtig Intimpflege betreibt. Dann hat er mich am ganzen Körper eingeseift und mit hochrotem Kopf mein Glied gereinigt. Er war dabei sichtlich erregt. Daraufhin mußte ich bei ihm im Bett liegen und seine Zungenküsse über mich ergehen lassen."

"Streicheln, Kuscheln und Zungenküsse" gehören ab da bis zur Matura zum Ritual der regelmäßigen Begegnungen in Groers Schlafzimmer. Hartmann: "Er war immer auch sichtlich sexuell erregt. Weil er sich dabei an mich gepreßt hat, war natürlich auch eine Berührung da, wenn auch nach der Szene mit der Dusche keine manuelle mehr."

Der im Internat hinter vorgehaltener Hand längst "Onkel Hans" gerufene Geistliche sucht Hartmann in der Folge auch seelisch von sich abhängig zu machen: "Er hat es verstanden, meinen Vater und meine Mutter, die ich ohnehin nur selten sah, als Elternfiguren zu ersetzen. Nach einem Besuch bei mir zu Hause hat er meine Mutter nachher im Gespräch mit mir als leichte Psychopathin heruntergemacht. Er verstehe jetzt, daß ich solche Schwierigkeiten mit der Masturbation habe."

Inzwischen auch Hartmanns "Beichtvater", hält Groer beim sechsten Gebot besonders lange inne und läßt sich die "Selbstbefleckungen" des Teenagers "mit voyeuristischer Genauigkeit" erzählen. Er versteht es, den Weinviertler Bauernsohn "in einen unentrinnbaren Kreislauf" von Schuld und Sühne zu treiben: "Er hat mir die ärgsten Vorwürfe gemacht und wiederholt gesagt, er habe das nie gemacht in seinem Leben. Dadurch hat er sich in eine Glorie gerückt, die mich vor mir selber noch schwärzer hat vorkommen lassen. Ich habe enorme Schuldgefühle entwickelt. Die Sünde der Masturbation ist für mich zum Alptraum geworden."

Den Trost nach der Verdammung vermochte da immer wieder einer zu spenden - Hans Hermann Groer: "Er hat es einfach so hingestellt, ich brauche Zuwendung, ich brauche Zärtlichkeit, und er gibt sie mir."

Josef Hartmanns Resümee über seine vier Hollabrunner Jahre mit Hans Hermann Groer: "Eine Mischung aus Ergebenheit meinerseits und einer unerbittlichen Dominanz seinerseits: Er war eigentlich Vater, Mutter und Geliebter in einem. Dadurch ist eine so starke emotionale Bindung entstanden, daß ich gar nicht fähig war, einigermaßen objektiv über mich und über diese Beziehung nachzudenken." Für den Wiener Psychiater Michael Leodolter ein klassischer Fall von "Hörigkeit".

Vornehmlich die seelische, aber auch die zeitliche Belastung schlägt sich bald auch im Schulerfolg nieder. Aus dem Vorzugsschüler und Klassenprimus der Unterstufe wird ein mittelmäßiger Absolvent.

Als 1975 dann die Entscheidung ansteht, ob Hartmann - "wenigstens als einziger der Klasse" - ins Wiener Priesterseminar wechselt, fühlt er sich ein letztes Mal "von Groer genötigt, seinem Willen zu entsprechen". Während der drei Semester Theologiestudium an der Wiener Universität wird Hartmanns Kontakt zu seinem Über-Ich schütterer. Der Priesteranwärter wider Willen "fühlt sich in der ungewohnten Freiheit zunehmend einsam".

Im zweiten Priesterseminar-Jahr schlittert er in eine Neurose: "Ich konnte bald keinen Satz mehr lesen, der in irgendeiner Form eine Negation beinhaltet hat. Kein Kein, kein Niemals, kein Nicht. Ich bin einfach davorgesessen und habe den Satz nicht mehr verstanden."

Für Psychiater Michael Leodolter ist der Zusammenhang mit der jahrelangen körperlichen und seelischen Obsession durch Groer eindeutig: "Beim Begriff Nein ist bei Hartmann offenbar das Unbewußte hochgeschwappt. Weil er damals nicht nein sagen konnte und ihn die Frage quält, ob er nicht hätte nein sagen sollen. Wir wissen aus den Opferprofilen von Mißbrauchsfällen, daß sich die Leute hinterher quälen, was ihre eigene Schuld daran ist."

Als Hartmann "erstmals seinen eigenen Willen durchsetzt" und auf ein Bodenkultur-Studium umsattelt, sucht Groer sein Opfer ein letztes Mal mit der Geißel Gottes gefügig zu machen: "Er hat mir einen bitterbösen Brief geschrieben und mich wörtlich als ,Judas' und ,Verräter an der Sache Jesu' bezeichnet."
Hartmanns Anklage gegen Groer ist hierzulande einmalig. In den USA, in Großbritannien und Frankreich ging in den letzten Jahren eine ganze Welle von Outings von Mißbrauchsopfern von Geistlichen durch die Medien.

Für die beiden amerikanischen Journalisten Elinor Burkett und Frank Bruni, die zwei Jahre lang Dutzende US-Fallgeschichten zu einem Buch aufgearbeitet haben, sind die überführten Geistlichen zugleich Täter und Opfer: "Es mußte einfach zu der Krise wegen sexuellen Kindesmißbrauchs in der katholischen Kirche kommen."

Denn aufgrund des Pflichtzölibats "ist Priestern keine wirkliche, körperliche, offene Intimität gestattet. Bei manchen wird das Bedürfnis nach Nähe überwältigend und schlägt schnell ins Sexuelle um."

Was liegt da näher als sich "bei Kindern, die bewundernd zum Priester aufblicken, direkten Zugang zu einer emotionalen Beziehung zu verschaffen". Zumal Geschlechtsverkehr mit Jugendlichen - trotz Strafandrohung - für sie bislang mit dem geringsten Risiko verbunden zu sein schien: Kinder lassen sich leichter als Erwachsene von priesterlichen Ermahnungen einschüchtern.

Mit seinem Outing will Hartmann denn auch hierzulande eine Initialzündung setzen: "Ich weiß, daß es nicht nur mir so ergangen ist. Ich möchte alle, die davon betroffen sind, ermutigen, sich von diesem Alpdruck zu befreien."

Es gibt in der Tat Indizien, die die Causa Groer über das Outing Hartmanns hinaus zum Fall machen: Als Groer Ende der siebziger Jahre plötzlich seine Liebe zum Klosterleben entdeckte, kursierten offenbar auch im Stift Göttweig, in das Groer mit zehn Jüngern im Schlepptau eintrat, einschlägige Gerüchte. Pater Ildefons Fux, damals Betreuer des Klosterneulings, machte sich gar zu Recherchen in die Bucklige Welt auf - weil Groer als "geistlicher Leiter" seiner Hausmachttruppe "Legio Mariae" wiederholt auch in dieser Gegend beruflich zu tun gehabt hatte. Fux wollte von einem Seminaristen des Knabenseminars Sachsenbrunn konkret Namen und Adressen von "Groer-Opfern" wissen - in diesem Fall erfolglos.

Der Göttweiger Mönch selber machte in der Folge eine erstaunliche Karriere: Fux ist heute nicht nur Wiener Bischofsvikar an der Seite Hans Hermann Groers. Er gilt innerhalb der dicken Gemäuer der erzbischöflichen Residenz auch als graue Eminenz, die im Hintergrund die Fäden zieht.

Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand, aber auch konkrete Hinweise, daß der Wiener Erzbischof gerne die körperliche Nähe sucht, machen bis heute die Runde. Ein der Redaktion namentlich bekannter Priester zu profil: "Er hat auch bei mir einen eindeutigen Annäherungsversuch unternommen. Ich habe daraufhin den Kontakt zu ihm abgebrochen."

Diabolischer Zufall, daß Kurt Krenn ausgerechnet vergangenen Donnerstag bei Vera Russwurms Talkshow-Premiere zum Thema Kindesmißbrauch durch Geistliche befragt wurde. "Das ist eine besonders qualifizierte Sünde. Das ist nicht erlaubt, das ist böse." Und: "Ich kenne solche Fälle. Wir versuchen den Schaden wiedergutzumachen, zu begrenzen und den Priester zu bekehren."

Aus dem Archiv (profil 13/1995)
 

Josef Votzi

Votzi studierte Geschichte, Philosophie und Publizistik in Wien und war von 1976 bis 1977 Pressereferent der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH). Im Jahr 1978 war er Chefredakteur des ÖSU-report, Österreichs größtem Studentenmagazin. Von 1978 bis 1998 war er Redakteur beim Nachrichtenmagazin profil. Hier war er von 1988 bis 1991 Ressortleiter Innenpolitik und von 1992 bis 1998 Chefredakteur, ab 1996 gleichzeitig auch Herausgeber. Nach einem halbjährigen Sabbatical in den USA (unter anderem an der University of California, Los Angeles) war er von 1999 bis 2008 Chefredakteur des Nachrichtenmagazin News. Beim KURIER leitet Votzi die Politik-Ressorts und den Sonntag-KURIER.