profil-Morgenpost: Niemand ohne die anderen
Ein Freund ermunterte mich vor einiger Zeit zu einem unvergesslichen Gedankenspiel. Ich sollte überlegen, welche von all den Gegenständen, die ich bei mir trug, ohne fremde Hilfe nicht da wären. Das waren natürlich alle. Ich hatte mein Sakko nicht selbst genäht, schon gar nicht hatte ich den Stoff gewebt, gefärbt und transportiert oder die Wolle dafür geschoren oder das Schaf aufgezogen. Kurzum: Es wurde mir schnell schwindelig, als ich mich auch noch im Kaffeehaus umblickte und mir einfiel, wie ich überhaupt hierher gekommen war, nämlich mit der U-Bahn, die ich auch nicht selbst gelenkt, gebaut und entworfen hatte. Und so weiter. Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand: Wir sind sehr voneinander abhängig.
Das gilt in Zeiten der Corona-Krise doppelt und dreifach. Dieses Experiment würde ich gerne auch dem Mödlinger Bürgermeister nahe legen, der kürzlich meinte, er müsste „unsere Wälder”, nämlich die der Mödlinger, vor den grünhungrigen Wienern schützen: „Spazieren gehen nur in der unmittelbaren Wohnumgebung und nicht mit dem Auto irgendwo hinfahren!!!” Sollten sich die kleinen und großen Rufer nach Sperrbezirken durchsetzen, muss auch Wien wieder eine Stadtmauer errichten. Denn es ist ja bereits abzusehen, dass irgendwann, wenn der Ausnahmezustand vorbei ist, wieder Heerscharen von rundherum in die Stadt pendeln – vermutlich auch Mödlinger – und mit ihren Autos wieder den lässigen, urbanen Lebensraum verstellen werden. Apropos Pendler: Meinem Bäcker kamen auf einen Schlag neun Mitarbeiter abhanden, als Tschechien die Grenze dicht machte. Auch das bietet Stoff für ein Gedankenspiel.
Die profil-Redaktion nützte die Woche zwei dieser neuen, ungewöhnlichen Zeiten, um auch über sehr grundsätzliche Fragen nachzudenken: Christa Zöchling über den Wert der Arbeit, Sven Gächter über den Coronaschock und das Danach, Rosemarie Schwaiger über die Grenzen des Zumutbaren im Ausnahmezustand, Gregor Mayer, Martin Staudinger und Robert Treichler über staatliche Überwachung in Zeiten der Pandemie, ich über die Neuvermessung des Abstands im öffentlichen Raum. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Bleiben Sie gesund und – allen Einschränkungen zum Trotz – offen für andere.
Edith Meinhart
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