profil-Morgenpost: Raumdeutung
Mein Grätzel entpuppt sich als Experimentierfeld für die Benützung des öffentlichen Raums. Der Park vor meinem Fenster ist neuerdings zu Dreiviertel abgeriegelt, damit die Seniorinnen und Senioren aus dem Heim vis à vis auch vor die Tür kommen. Fast rund um die Uhr passen Securities auf, dass hier keine unerlaubten Besuche stattfinden. Der Auslauf ist den quarantänegeplagten, alten Menschen zu gönnen. Wo aber sollen nun alle anderen hin, die sonst auf den Parkbänken lasen, plauderten oder einfach ins Grüne schauten? Der Spielplatz verbietet sich als Ausweichquartier, weil die Kleinsten auch Platz brauchen, davon abgesehen ist er immer noch abgesperrt.
Kürzlich bog ich um die Ecke in eine autobefreite Gasse und bemerkte einen Grätzelbewohner, der gerade dabei war, dort, wo sich sonst Schanigärten breit machen, einen mitgebrachten Liegestuhl aufzuklappen und sich in die Sonne zu legen. Vermutlich ist er weder mit einer Terasse noch mit einem Wochenendhaus oder einem Dauercampingplatz an einem See gesegnet. Und in der Mariahilferstraße sah ich beim morgendlichen Joggen eine obdachlose Frau einen Baum umarmen. Die Sehnsucht nach Wald, Wiese und Weite treibt Menschen fallweise auch aus ihrem Grätzel hinaus in mehr oder weniger nahe Erholungsgebiete. Sie müssen dieser Tage allerdings damit rechnen mit missbilligenden Blicken bedacht oder gar angekeppelt zu werden. Man will ja noch halbwegs unbehelligt ins Grüne gelangen. Zurück in Wien ertappt man sich dabei, dass man öfter als früher auf Autokennzeichen achtet. Irgendwann sollten wir darüber reden, wie viel öffentlichen Raum wir brauchen, wie er benützt wird und wieviel Platz jedem zusteht. Übrigens: 3,5 Quadratmeter kommen auf einen Flüchtling in einem Wohncontainer auf der griechischen Insel Lesbos, schreibt der Globalisierungskritiker Jean Ziegler, der im neuen profil fordert, diese menschenunwürdigen Auffanglager an der Südgrenze Europas zu schließen. Sie sind eine Schande.
Mit Platzproblemen völlig anderer Art schlägt sich der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig herum: Am kommenden Freitag, wird er aus seinem Fenster auf einen menschenleeren Rathausplatz blicken, wie Christa Zöchling in ihrer Geschichte über den 1. Mai berichtet. Das Ur-Event der Arbeiterbewegung wird in Zeiten von Corona zu einem "leblosen Event im virtuellen Raum".
Ich wünsche Ihnen einen angenehme Woche.
Edith Meinhart
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