profil-Morgenpost: Selbst-Diktat und Meinungsfreiheit
Vor einigen Tagen hat an dieser Stelle meine Kollegin Christina Hiptmayr dargelegt, dass sie im Homeoffice nach und nach beginnt, die anderen Mitarbeiter aus der profil-Redaktion beziehungsweise deren diverse Eigenheiten zu vermissen. Unter anderem gebe es da einen, „der beim Formulieren der Sätze ebendiese leise mitspricht“. Sie hat gnädigerweise auf eine Namensnennung verzichtet. Da ich mich in diesem Augenblick gerade wieder bei der beschriebenen Unart ertappe, hege ich freilich den dunklen Verdacht, dass die Kollegin mich gemeint haben könnte.
Fragwürdige Plaudergewohnheiten sind angeblich halb so schlimm. Zumindest habe ich das einem Posting entnommen, das dieser Tage in diversen sozialen Medien kursiert: Darin heißt es: „Eine Empfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: Liebe Mitbürger/Innen – Dass Sie in der Quarantäne mit Ihren Tieren, Pflanzen oder Haushaltsgeräten reden, ist völlig NORMAL. Deswegen müssen Sie sich nicht bei uns melden. Eine fachliche Hilfe sollten Sie erst aufsuchen, wenn diese Ihnen anfangen zu antworten.“ Ich kann Sie beruhigen: So weit ist es bei mir definitiv noch nicht.
Antworten haben wir bei profil hingegen in den vergangenen Tagen von Gesprächspartnern aus Fleisch und Blut bekommen – und zwar auf die drängende Frage, inwieweit bei der Bekämpfung des Coronavirus Grund-, Menschen- und Verfassungsrechte unter die Räder kommen könnten. Wir haben aus den Interviews für Sie eine Podcast-Serie gestaltet. Außerdem haben sich in der aktuellen profil-Ausgabe, die kostenlos als ePaper abrufbar ist, Eva Linsinger und Robert Treichler eingehend mit dieser Thematik befasst.
Ein Freiheitsrecht, das in der Coronavirus-Krise bedroht sein könnte, ist jenes auf Meinungsfreiheit. Wenn staatliche Stellen beginnen, darüber zu urteilen, welche Meldungen „Fake News“ seien, und in manchen Ländern gar überlegt wird, solche „Falschmeldungen“ unter Strafe zu stellen, ist der Grat zur Zensur denkbar schmal. Besser wäre es jedenfalls, mündige Bürger würden das, was ihnen – in den diversen sozialen Netzwerken – aufs Handy gespült wird, selbst kritisch hinterfragen.
In diesem Sinne habe ich übrigens bei der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) angerufen. Und leider: Der allzu humorvolle Persilschein für Gespräche mit Tieren, Pflanzen und Haushaltsgeräten ist ein Fake (siehe Postskriptum). Damit ist freilich auch meine wohl ausgefeilte Verteidigungsstrategie gegenüber Kollegin Hiptmayr perdu. Ich kann nur bitten, dass all jene, die hoffentlich bald wieder in einem Raum mit mir arbeiten werden, mir die Eigenheit des gelegentlichen Selbst-Diktats von Formulierungen nachsehen. Ich merke schon, dass es im Homeoffice nicht besser wird.
Bleiben Sie gesund und betrachten Sie die Welt aus kritischen Augen!
Stefan Melichar
P.S.: „Das ist selbstverständlich nicht von uns“, sagt Fulvia Rota, Vorstandsmitglied der SGPP, in Bezug auf das Posting. Sie kritisiert, dass dieses „leider auf Kosten von Menschen geht, die Ängste haben“. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie betont, dass man gerade bei psychischen Nöten besonders vorsichtig sein müsse. Selbstgespräche per se seien in bestimmten Situationen nichts Außergewöhnliches und nichts Pathologisches, meint Rota. Es sei aber auch eine Frage des Ausmaßes.
P.P.S. Gibt es etwas, das wir an der „Morgenpost“ verbessern können? Das Sie sich von einem Newsletter auf jeden Fall erwarten? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.